Kolumne: Straßentheater – Die Kunstwerdung der Correctiv-Recherche zu rechtsextremen "Remigrations"-Phantasmen
Gratismut? Empörungsfutter?
16. Januar 2024. Morgen kommt die investigative Recherche zum "Geheimplan gegen Deutschland" und den Deportations-Vorhaben der AfD samt ihr nahe stehender Rechtsextremer als szenische Lesung auf die Bühne. Wird hier wichtige Öffentlichkeit geschaffen oder, siehe Überschrift, der Sensationalismus bedient?
Von Janis El-Bira
16. Januar 2024. Wir sind also auch dabei. Am morgigen Mittwoch übertragen wir hier auf nachtkritik.de die szenische Lesung jener vieldiskutierten Correctiv-Recherche "Geheimplan gegen Deutschland" am Berliner Ensemble.
Ich bin froh darüber. Weil die skandalöse Landhaus-Kungelei von AfD-Leuten, Werteunionlern und rechtem Wohlstandsbürgertum mit Neonazis und Identitären gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen kann. Weil es gut ist, wenn ein Theater zum Fokuspunkt gesamtgesellschaftlicher Debatten wird. Und durchaus auch, weil sich dabei sicherlich manche Menschen auf unseren Seiten einfinden werden, die zwar am Inhalt der Recherche, ansonsten aber eher weniger am Theatergeschehen interessiert sind. Wäre schön, wenn sie gleich hierblieben – so eigennützig wird man doch noch denken dürfen.
Also alles gut? Nicht ganz. Oder zumindest nicht für alle.
Weitere Enthüllungen
"Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an die szenischen Lesungen unserer Kollegen", schrieb die Theatermacherin und Aktivistin Simone Dede Ayivi vor wenigen Tagen frei nach Martin Luther King auf der Plattform Threads. Klingt böse und ist wohl auch so gemeint.
Simone Dede Ayivi stört, wie "sensationsgeil" die szenische Lesung "weitere Enthüllungen" verspreche und glaubt generell nicht, dass die Theater so viele Leute erreichen, wie sie selbst gerne meinen. Das Vorhaben, die Recherche in Forme einer szenischen Lesung zu präsentieren, zeuge von einer Anmaßung (Simone Dede Ayivi sagt: "Eierschaukelei"), die "langfristig Glaubwürdigkeit" koste.
Verkunstung mit Beigeschmack
Auf Social Media gibt es von einigen Seiten ähnlich lautende Kritik. Schließlich bedrohe der in der Correctiv-Recherche aufgedeckte "Geheimplan" ganz reale Menschen in Deutschland unmittelbar an Leib und Leben. Da erscheine es doch ziemlich fragwürdig, "weitere Enthüllungen" zugunsten eines künstlerischen Überraschungseffekts aufzuschieben.
Überhaupt hat die Verkunstung der Recherche für manche einen üblen Beigeschmack, sei sie doch in erster Linie gratismutiges Empörungsfutter für ein bürgerliches Publikum, dem die braune Brühe nun verdaulich aufbereitet serviert werden soll. Ernstlich verschlucken wird es sich daran kaum, gehört das Gros der Theatergänger eben gerade nicht zu jenen Menschen, die gemäß des "Geheimplans" nun "remigriert", vulgo: deportiert werden sollen.
Niedere Naziklamotte
Wegwischen lässt sich diese Kritik kaum, man sollte sie im Gegenteil vielleicht sogar noch grundsätzlicher ansetzen. Steckt nicht schon in der Aufmachung der Recherche selbst eine übergebührliche Sublimierung, wenn sie das Treffen der rechten Pappnasen wie ein Theaterstück aus Personenverzeichnis, Prolog und mehreren Akten und Szenen inszeniert? Und warum sieht die Recherche-Website mit ihren Lageplänen, Versteckte-Kamera-Fotos und Zielrastern aus wie die Missions-Beschreibung eines Egoshooters? Was soll das sein? "Call of Duty: Potsdam"?
Die Faszination, mit der Correctiv der eigenen Arbeit begegnet, kann man kaum von der Hand weisen. Das darf aber nicht entwerten, dass die Journalist*innen hier tatsächlich ganz Erstaunliches zutage gefördert haben. Heikel wird es, wo sich eben diese Faszination auf den Gegenstand der Recherche selbst überträgt. Wo zum konservativen Revolutionsdrama verkünstelt wird, was in Wahrheit wirklich nur niedere Nazi-Klamotte ist. Hier werden nun auch das Berliner Ensemble und Regisseur Kay Voges einen guten Weg finden müssen. Dabei zuzuschauen, dürfte sich lohnen. Warum, steht oben.
Kolumne: Straßentheater
Janis El-Bira
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
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Als postmigrantische Person möchte ich hier auch einmal kurz meinen Senf dazugeben. Ich halte die Initiative des Berliner Ensembles für sehr unterstützenswert. Aus meiner Sicht versucht hier ein Theater mit den Mitteln, die es hat, sich zu solidarisieren. Das bereits im Vorhinein schon wieder zu dekonstruieren, halte ich für kontraproduktiv und - sorry - extrem akademisch verkopft.