Wären sie doch nie erschienen!

23. April 2024. Theaterproduktionen nicht herauszubringen ist eine Gratwanderung zwischen Zensur und künstlerischer Verantwortung. Was übrigens auch für Kritiken gilt, den eigenen und denen, die man als Redakteur:in betreut. Wo liegen die Grenzen?

Von Wolfgang Behrens

23. April 2024. Wer einen Totalverriss schreiben möchte, der oder dem stehen ein paar Keile zur Verfügung, die grob zu nennen keine Übertreibung wäre. Von den groben Keilen fallen mir zwei gröbste ein, die daher wohl auch nur äußerst sparsam, von den meisten Kritiker:innen sogar lebenslang nicht ein einziges Mal eingesetzt werden. Der eine besteht im Verschweigen der Namen der an einer Kunstanstrengung beteiligten Künstlerinnen und Künstler (Modell: "ein Regisseur, dessen Name hier nichts zur Sache tut" – wer hat das eigentlich erfunden? Kerr? Ich kenne es vor allem von Stadelmaier.) Das Grobe daran ist, dass den Schaffenden gleichsam ihre Autorschaft aberkannt wird. Oder, anders gesagt: Es wird dem Hervorgebrachten eine derart mangelnde Erfindungshöhe bescheinigt, dass eine Autorschaft dafür gar nicht mehr beansprucht werden dürfe. Nicht nett, nein, überhaupt nicht nett!

Zwischen Absage und Trainerwechsel

Bei dem anderen Keil handelt es sich um den Vorwurf, ein Kunstwerk (eine Produktion, ein Buch) hätte gar nicht erst herauskommen dürfen. Das ist schon allein deshalb grob, weil es implizit eine Zensurforderung ist (wobei es, zugegeben, auch schlicht eine Qualitätsforderung sein könnte: Ein Buch, bei dem z.B. 16 zentrale Seiten nicht gedruckt wurden, hätte so auch nicht herauskommen dürfen). Im Falle des Theaters zielt dieser Vorwurf zudem über die an der Produktion beteiligten Künstler:innen hinaus auf Intendanz und Dramaturgie ("Ihr hättet dieses Desaster im Vorfeld sehen und verhindern müssen!") und somit auf die gesamte Institution, die unter der jetzigen Leitung vermeintlich nicht zu verantwortlichem Handeln in der Lage sei.

Wenn Theaterleitungen oder künstlerische Teams allerdings tatsächlich zu dem Ergebnis kommen, eine Produktion nicht herauskommen zu lassen, ist das auch so eine Sache: Geht denn eine solche Entscheidung verantwortlich mit den anvertrauten Geldern um? Denn das Produzierte ist dann am Ende – nichts! Ein damals recht prominenter locus classicus einer gemeinsam verantworteten Absage findet sich im Jahre 1994: Andrea Breth und ihr Ensemble sagten damals die fast fertig geprobte Inszenierung "Blunt oder Der Gast" von Karl Philipp Moritz an der Berliner Schaubühne ab. Nicht selten übernimmt in diesen Situationen einfach kurzfristig jemand anderes (im Fußball sind das die Trainerwechsel), die Absetzung ist wohl die wirkliche ultima ratio. Doch sich zu ihr durchzuringen und ein echtes Scheitern frühzeitig einzugestehen, anstatt es sich von Publikum und Kritik um die Ohren hauen zu lassen, erscheint mir aller Ehren wert.

Der Grat ist schmal

Wenn man Kritik ernst nimmt – und sie sich selbst ernst nimmt –, steht sie übrigens vor ganz ähnlichen Problemen: Man muss und sollte vielleicht auch nicht alles herauslassen. (Der gröbste Keil auf eine Rezension ist natürlich ebenfalls: Sie hätte nicht geschrieben werden dürfen.) Der unvergessene Ex-Kollege Nikolaus Merck hat sich eines Morgens geweigert, eine bestellte Nachtkritik zu veröffentlichen, weil sie seiner (und nicht nur seiner) Ansicht nach reaktionäre Ansichten enthielt. Der Grat ist schmal: Einige haben das damals als Zensur empfunden; ich würde sagen, Niko ist seiner Verantwortung nachgekommen.

Aber man kann auch selbst zu der Einsicht gelangen, dass es in bestimmten Situationen besser ist, nichts zu schreiben. Als ich noch ein Kritiker war, ist mir das durchaus passiert. Einmal etwa fuhr ich in eine mittelgroße Stadt im Osten Deutschlands, um an dem dortigen Theater eine von einem öffentlichen Fonds geförderte Produktion für nachtkritik.de zu besprechen. Dort angekommen, musste ich erkennen, dass die Veranstaltung eher einem Volkshochschul-Heimatabend glich. Ich gab den Auftrag zurück, denn wem hätte ich genutzt, wenn ich darüber geschrieben hätte? Den Leser:innen nicht (denen ich kein überregionales Interesse an dieser Petitesse hätte aufdrängen wollen), dem Theater sowieso nicht und mir auch nicht (obwohl – ich hätte immerhin das Honorar erhalten …).

Das hätte so nie herauskommen dürfen!

Der beschriebene Fall ist relativ simpel, da er im Zweifel am zu beschreibenden Gegenstand besteht. Diffiziler wird die Sache, wenn der Zweifel auf einen selbst übergreift. Was wäre denn gewesen, wenn ich im Laufe eines Abends gemerkt hätte, dass ich zur in Frage stehenden Inszenierung, zur Installation, zur Performance nichts zu sagen gehabt hätte? Hätte ich das eingestanden und nichts geschrieben? Oder hätte ich es übertüncht und einfach irgendetwas Gut-Klingendes, aber nicht gerade Triftiges abgeliefert? Ich halte es sehr wohl für möglich, dass mir Letzteres unterlaufen ist. Wäre Schweigen hier nicht ehrlicher gewesen? Aber was ist dann mit dem Erwartungsdruck, der von Seiten der Theater und der nachtkritik-Leser:innen auf einem lastete?

Spätestens seit meinem Wechsel auf die Seite des Theaters habe ich mir so manches Mal gewünscht, bestimmte Kritiken seien nicht veröffentlicht worden. Weil sie nach meiner Einschätzung gar kein Verhältnis – und ich meine: gar keines! – zu den ästhetischen Gegenständen entwickelt haben. Erst kürzlich ist wieder so eine Kritik über eine Produktion meines Theaters (ich war nicht an ihr beteiligt) erschienen, die sogar positiv gemeint war, aber handwerkliche und sachliche Fehler nur so aufeinander türmte, ohne auch nur einen Zipfel der besprochenen Inszenierung zu erfassen. Und das in einer Qualitätszeitung! Ehrlich gesagt: Das hätte so nie herauskommen dürfen. Der Name des Kritikers übrigens tut nichts zur Sache.

Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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