Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war – Wolfgang Behrens über Missfallensbekundungen während der Vorstellung
"Dem kommt's gleich!"
von Wolfgang Behrens
5. März 2019. Vor fünf Wochen bedachte ich an dieser Stelle diejenigen mit leisem, aber insistierendem Spott, die das Theaterparkett nicht zuletzt dafür nutzen, beharrlich ihr Störpotential zu entfalten. Was ich den damals getadelten Herrschaften jedoch zugute halten muss, ist, dass sie ohne Arg handeln: Es käme ihnen gar nicht in den Sinn, dass das Knisterpapierchen, welches sie von der ersehnten Pastille abstreifen, auch noch im dritten Rang hörbar sein könnte; und ihr Parfüm haben sie schon zehn Sekunden nach dem Auftrag nicht mehr selbst wahrnehmen können, weswegen sie reinsten Gewissens noch einmal ordentlich nachgelegt haben.
Aber natürlich gibt es auch jene, die eine Vorstellung mit vollem Bewusstsein stören. Meist sind es solche, die für die kompakte Majorität einzustehen meinen, weil sie sich im Besitz des echten und vor allem unfehlbaren Kunstempfindens wähnen. Weil dem so ist, wäre es für sie offenbar Zeitverschwendung, mit der Missfallenskundgebung auf das Ende einer Darbietung zu warten: Was gesagt werden muss, muss gesagt werden, und das bitte möglichst früh!
Verröchelnde Laute
Als ich noch ein Kritiker war, bin ich zum Beispiel einmal zur Uraufführung der Oper "iOPAL" von Hans-Joachim Hespos nach Hannover abgeordnet worden, Regie und Ausstattung lagen in der Hand von Anna Viebrock. Nun ist Hespos zugegebenermaßen kein ausgesprochener Mainstream-Geselle, der mit der Speckseite nach dem Publikum wirft; er widmet sich vielmehr ausgiebig dem "komponierten Widerspruch". Wie sehr aber berechtigt das die Zuschauer zum offenen Widerspruch während der laufenden Vorstellung?
In "iOPAL" sang der aus Marthaler-Inszenierungen bekannte Stimm- und Sprachakrobat Graham F. Valentine gegen Ende eine Sterbearie aus verröchelnden, vergurgelnden und verlöschenden Lauten – eine andere Sängerin hielt derweil seinen zusammensinkenden Körper umklammert und streichelte ihn, als wolle sie dem Hoffnungslosen einen letzten Trost spenden. Mitten in die maßlos traurige Szene fuhr jedoch alsbald eine bellende Zuschauerstimme: "Dem kommt's gleich!" Was die Damen in der Reihe vor mir zu hämischem Gelächter, Applaus und weiteren Zwischenrufen animierte.
Wo bleibt der Humor?
Ich (und ich glaube, mit mir auch viele andere) fühlte mich massiv um die Wirkung der Szene betrogen. Ein paar wenige Zuschauer hatten entschieden, dass das, was sie da hörten und sahen, kompletter Bullshit sei, und zwangen dem restlichen Publikum ihr Urteil auf, indem sie eine ungestörte Wahrnehmung des Ganzen verhinderten. Tatsächlich machte mich das damals so zornig, dass ich nach Ende der Aufführung die Damen vor mir zur Rede stellte: "Entschuldigung, ich störe Sie doch auch nicht bei Ihrer Arbeit, warum stören Sie dann die Darsteller bei der ihrigen?" Die Antwort war: "Ach, der junge Mann hat keinen Humor! Haha! Lachen Sie doch mal, junger Mann! Hahaha!" Nein, ich hatte keinen Humor, ich hatte Hespos hören wollen.
Unter meiner Kolumne von vor fünf Wochen stand unter anderem der schöne Kommentar: "Ärgerlich, dass da noch andere Menschen im Saal sind, und dass sie einen immer wieder daran erinnern, nicht wahr?" Das war ein Satz, der mich ein bisschen beschämt hat. Ja, die Reaktionen des Publikums sind ein Teil der Aufführung. Wenn Zuschauer husten, mit den Hufen scharren oder lautstark protestieren – oder wenn sie in einer Stille verharren, in der nicht einmal eine Stecknadel fällt, so hat das natürlich etwas mit dem jeweiligen Abend zu tun. Ich gestehe jedoch freimütig, dass ich forcierte Störungen während einer Vorstellung in der Regel als äußerst kontraproduktiv empfinde, weil sie dem restlichen Publikum keine Wahl lassen.
Skandalon Stille
Wobei es ja auch diese Inszenierungen gibt, die (vielleicht) die Störung bereits einkalkulieren. Als bei Einar Schleefs Düsseldorfer "Salome" von 1997 der Eiserne Vorhang hochging, sah man auf ein stummes, kunstvoll aus allen Darstellern arrangiertes Bild, in dem sich minutenlang nichts regte und nichts bewegte. Da Stille noch immer das größte Skandalon in der Kunst ist, musste das Publikum hier zwangsläufig reagieren. Aus atemloser Anspannung wurde kaum merkliche Unruhe, aus kaum merklicher Unruhe wurde Gewisper, aus dem Gewisper erhoben sich erste Stimmen, aus den ersten Stimmen entrangen sich laute Zwischenrufe, aus lauten Zwischenrufen wurde Aufruhr, aus Aufruhr wurde ohrenbetäubender Lärm. Nach 15 Minuten senkte sich der Eiserne Vorhang wieder – und es war Pause. Ich habe diese "Salome" fünfmal gesehen, und ich hätte mir sehr gewünscht, wenigstens einmal tatsächlich eine 15-minütige Stille zu erleben. Vielleicht wäre aber genau das wesenhaft untheatral gewesen, weil sich die Zuschauer als reagierende Masse gleichsam selbst negiert hätten?
Auf den Umgang kommt's an
Immerhin sind Störungen und Zwischenrufe immer für eine Anekdote gut, weshalb der Anekdotensammler in mir ihnen eigentlich zugetan ist. Ich möchte daher für heute mit einer Anekdote schließen, mit einer nicht selbst erlebten, dafür aber mit einer umso schöneren historischen. Als Erich Kleiber 1934 an der Berliner Staatsoper Alban Bergs "Lulu"-Suite uraufführte, lief ein vermutlich politisch gesteuerter Störer "Heil Hitler" rufend durch die Reihen. Erich Kleiber wandte sich um und rief: "Sie irren sich! Das Stück ist von Alban Berg!"
Man muss halt mit den Störern umzugehen wissen.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
Zuletzt widmete sich Wolfgang Behrens in seiner Kolumne Knisterern, Raschlern und Röchlern im Publikum.
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Zu Shakespeares Zeiten im Globe - Theatre war richtig was los bei den Vorstellungen. Ich war nicht dabei , aber das habe ich gelesen. Vielleicht ist der Zuschauer ja auch durch die Disziplinierung überfordert. Vielleicht ist das, was wir Insider hier fordern und anprangern, letztlich gegen die Natur des Publikums. Allein schon dieses Stillsitzen! Schrecklich !
Ich liebe übrigens die Theaterpausen über alles, wo jeder, der das Bedürfnis hat, beim Sekt geifern oder sich versöhnen kann und wo sich gegen Ende der Pause das Publikum zur 2ten Runde innerlich vielleicht komplett neu aufgestellt hat.
Bitte mehr Theaterpausen zum Zanken, Rühmen und Gackern!
Wieder eine Pause
Manche geh'n nach Hause
Manche trinken Brause
Das ist der Zweck der Pause
Wie schön ist es, in einen Käse zu beißen
Und gleichzeitig Opern zu verreißen!
– Der Dirigent ist fürchterlich
So viel Talent, das hab auch ich
– Was reden Sie da? Sie sind nicht gescheit!
– Wie finden Sie mein neues Kleid?
– Die Klara hat noch keinen Mann
– Das ist kein Wunder schauen Sie's an!
– Mir tut ja nur die Mutter leid
– Wie finden Sie mein neues Kleid?
– Ich halt' die Oper für geschwollen
Wir hätten ins Kino gehen sollen
– Ich mach's mit Butter und Kakao
– Das ist doch gar nicht seine Frau
– Die Paula wird schon ziemlich breit
– Wie finden Sie mein neues Kleid?
Da läutet die Glocke, das ist ein Glück!
Die Pause ist aus, gehen wir zurück!
Auf ziviliserter oder domestizierter Ebene kommt zu dem von Wolfgang Behrens beschriebenen Problem ein anderer Aspekt hinzu, ein Dilemma, nämlich die Reue über den unterlassenen Publikumseinwurf - egal, ob aus Hemmung, aus Scham, Untertanengeist, mangelnder Geistesgegenwart oder übertriebener Höflichkeit.
Tatsächlich gibt es versäumten Protest, oft gegen Demagogie von Textvorlagen oder -zurichtungen, den man mehr bereut als Besuch oder Nichtverlassen einer Vorstellung. Selbst dann, wenn man sich dem "anderen Publikum" sozial verbunden fühlte.
Aber natürlich ist der eigene Protest, dem man so nachtrauert, in der Erinnerung viel pointierter als der, den man mit mehr Mut zustandegebracht hätte. Das ist der Trost.
ps Der Rufer hatte Recht,so Recht...
Wolfgang Behrens Beispiel Oper - egal ob klassisch oder zeitgenössisch – ist sicher wenig geeignet für Mitmachtheater. Aber zum Beispiel bei den stundenlangen Eskapaden und Abschweifungen in den Castorf-Stücken würde ich gern ein bisschen mitmixen, wenn ich nicht doch – wie die überaus meisten Zuschauer – zu schüchtern wäre. Theater ist - gottseidank - eine direkte Interaktion von Ensemble und Publikum. Etwas Mittun von letzterem wäre aus meiner Sicht ein Gewinn. Die Schauspieler sollten es zulassen oder sogar provozieren, wie unlängst Aljoscha Stadelmann im GALILEI des BE.
In einer anderen Inszenierung (Hanneles Himmelfahrt) am gleichen Haus (anderer Regisseur) konnten die Zuschauer eine von Obdachlosen gespielte Kreuzigungsszene mit durchsichtiger Plastikplane schwer ertragen. Erst da begriff ich, was katholische Zuschauer zu lautstarken Protesten veranlasst, veranlassen muss. Der Glaube schreibt manchmal bestimmte Verhaltensweisen vor (unwidersprochene "Gotteslästerung"...) Türenknallen, laute verbale Aktionen. Zur nächsten Vorstellung hängte ich an einige der Saaltüren auf der Zuschauerraumseite selbstgeschriebene Zettel: *Türen bitte leise schließen*, was die Zuschauer und auch die Theaterleitung nicht gut fanden. An diesem Abend ging es richtig ab! Jedenfalls spielten wir die etwa 15 Vorstellungen in der Premierenfassung. Zuschauer und Theater haben es ausgehalten!
Anlass meiner Fragen ist eine leicht unscharfe Erinnerung an die Inszenierung des Grand Guignol - Stücks "De Sade" durch Castorf am Schauspielhaus Bochum in den Neunzigerjahren.
In einer Szene fragte auf der Bühne jemand handlungsbezogen, wer irgendwas gewesen sei. Daraufhin erfolgte aus dem Publikum der Ruf "Bestimmt der Torsten!", einen vorausgegangenen Dialog aufnehmend. Der so gemeinte Torsten Ranft wandte sich dem Publikum zu und war kurz davor, von der Bühne herunterzusteigen und sich mit dem Rufer anzulegen. Dabei wirkte er äußerst bedrohlich, spielte aber schließlich weiter. War das ein einmaliges Ereignis? War es inszeniert?
Ich habe es nie herausfinden können, es ist auch meine einzige Erinnerung an diese Inszenierung.
Kann jemand helfen?
(Muss aber nicht sein.)