Nach dem Kettensägen-Prinzip

21. Februar 2024. Buenos Aires gilt als Zentrum des spanischsprachigen Theaters. Doch seit die rechte Regierung des neuen Präsidenten Javier Milei rigoros Politik gegen den argentinischen Kultursektor macht, geht es für viele Institutionen ums Überleben. Aber die Szene ist kampferprobt – und gibt sich unerschrocken.

Von Mercedes Méndez

Explodierende Kosten: Teatro El Nacional in Buenos Aires © Cripto256 / CC BY-SA 4.0

21. Februar 2024. Es gibt eine Szene, die verdeutlicht, in welcher Situation sich die Kulturlandschaft Argentiniens seit der Wahl Javier Mileis befindet: Künstler und Vertreter von Theater, Film, Musik und des Verlagswesens mussten im Parlament begründen, warum ihre Arbeit wichtig ist. In den Sitzungen, die live übertragen wurden, hörte man Sätze wie: "Der Zugang zu Kultur und Arbeit ist ein Menschenrecht", "Unser Schaffen finanzieren wir mit unseren eigenen Mitteln. Es generiert Geld und Arbeitsplätze im ganzen Land", "Wir nehmen niemandem etwas weg". Die Argumente wurden mit Daten und Statistiken untermauert: "Laut Unesco ist Buenos Aires die Hauptstadt des spanischsprachigen Theaters"; "Argentinien hat acht Oscars und sein Kino ist weltweit anerkannt"; "Astor Piazzolla (der bedeutendste Tangokomponist der Welt) wurde mit Stipendien des Staates ausgebildet und gefördert". 

Zerstörung mit Ansage

Allerdings war der Wille, sich auf diese Argumente einzulassen, bei den Politikern und Beamten sehr unterschiedlich verteilt, wie es in diesem Land schon lange der Fall ist. Auf der einen Seite stehen jene, die mit den Künstlern mitfühlen und den großen Wert der Kulturproduktion anerkennen. Auf der anderen Seite diejenigen, die dem derzeitigen Präsidenten Javier Milei und seiner Logik von Angebot und Nachfrage folgen. Für diese Fraktion, die alles an den Regeln des Marktes misst, ist die Kultur eine Ausgabe, der man mit dem "Kettensägen-Prinzip" begegnen will. Es heißt so, weil der Präsident vor den Wahlen in ein Auto stieg und eine Kettensäge zeigte – um ein Bild dafür zu prägen, mit Subventionsstreichungen und der Privatisierung aller öffentlichen Unternehmen den Staat so stark wie möglich zu verkleinern.

In den letzten Tagen wurde zudem Mileis Absicht deutlich, vor allem den kulturellen Bereich und seine Repräsentanten anzugreifen. Auf seinem Twitter-Account – sein Hauptkommunikationsmittel – beschuldigte er die Sängerin Lali Espósito (die man als die argentinische Taylor Swift bezeichnen könnte, weil sie seit 15 Jahren riesige Stadien füllt), vom Staat zu leben, weil sie auch auf Festivals auftritt, die von den Provinzregierungen finanziert werden. Daneben postet Milei Sätze wie "Warum muss der Staat Filme und Theaterstücke finanzieren, die niemand sieht?“

Emilio García Wehbi, Regisseur und einer der wichtigsten Vertreter der interdisziplinären Kunst in Argentinien, sieht in der Streichung von Mitteln für die Kultur und insbesondere für die Theater eine Reaktion auf einen neuen Kulturkampf: "Für die Ultrarechte, die Milei vertritt, ist Kultur eine Ware, etwas Unbedeutendes, Dummes, Betäubendes. Die Auffassung steht für die Politik des Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte generell, die mit ihrem falschen Freiheitsbegriff und der Hyperkommunikation, die echte Beziehungen durch Kontakte ersetzt, abgeschottete, hinter ihre Bildschirme zurückgezogene Subjekte hervorbringt. Theater und Live-Kunst hingegen werden immer die Begegnung der Körper brauchen. In Argentinien sind 98 Prozent des Kultursektors gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ultrarechten Ideologie dieser Regierung, weil sie den Bereich zerstören will, der gegen sie demonstriert und sich öffentlich in Konzerten und Live-Performances positioniert. Auf die öffentliche Positionierung der Künstler antwortet die Regierung über Twitter mit vulgären Aussagen wie: 'Arme Kinder hungern, weil Künstler finanziert werden'. Das sind Argumente von intellektueller Mittelmäßigkeit, die keine Analyse zulassen und den Kultursektor sprachlos machen, weil es keinen Gegner gibt, mit dem man auf Augenhöhe diskutieren könnte".

Mieten steigen um bis zu 300 Prozent

Zugleich beginnen der Mangel an Geldern, die Wirtschaftsrezession, die stagnierenden Gehälter und die steigende Inflation im ganzen Land verheerende Auswirkungen zu haben: In einem einzigen Monat (von Dezember auf Januar) stieg die Zahl der Armen und erreichte mit 57,4 Prozent den höchsten Stand der letzten 20 Jahre. Wie wirkt sich das alles auf das Theater aus? Der argentinische Verband der Theaterunternehmer (AADET) verzeichnete im Januar einen Rückgang der Kartenverkäufe um 30 Prozent im Vergleich zum selben Monat im Jahr 2023. Bislang haben die Theaterbesitzer beschlossen, trotz der Inflation die Eintrittspreise nicht entsprechend zu erhöhen, um das Publikum zu halten und zu verhindern, dass es sich der Theaterbesuche entwöhnen. "Diese Situation können wir noch ein paar Monate aushalten“, erklärt Sebastián Blutrach, Präsident des Verbandes. "Aber nicht viel länger, denn die Kosten für Theatermieten, Strom und Gas steigen weiter."

Gonzalo Pérez, Präsident des Theaterverbands Artei, bei einer Veranstaltung im Dezember 2023 © Artei

Das Theater in Buenos Aires ist stark. Es gibt etwa 400 Theater, Studenten (mehr als 25.000), Lehrer (etwa 800) und unzählige Inszenierungen. Allerdings ist ein Rückgang der Produktionen zu verzeichnen: In nur einem Monat haben bereits zwei unabhängige Theater geschlossen, und es wird erwartet, dass im Laufe des Jahres viele weitere folgen, wenn die Mieten um 200 bis 300 Prozent steigen.

Eine jener öffentlichen Einrichtungen, die die kleineren, von den Künstlern selbst in Form von Genossenschaften finanzierten Spielstätten unterstützen, ist das 1997 gegründete Instituto Nacional del Teatro (INT). Zu den Plänen der Regierung von Javier Milei gehört, das INT zu schließen. Da aber ihr Gesetzentwurf vom Kongress bislang nicht gebilligt wurde, bleibt das INT vorerst ohne Finanzierung und ohne zugeordnete Behörden, die für die Verteilung der Subventionen zuständig sind. "Wenn es ihnen gelingt, das INT zu schließen, werden 80 Prozent des Theaters außerhalb von Buenos Aires nicht überleben können", erwartet Wehbi.

"Viele von uns sind am Ende ihrer Kräfte"

Inzwischen hat der Kultursektor bei den verschiedenen Demonstrationen Präsenz gezeigt, die seit dem Amtsantritt von Javier Milei am 10. Dezember 2023 stattgefunden haben. Kulturschaffende gingen zu Versammlungen und Gesprächen mit Abgeordneten und Senatoren, um zu erklären, wie die verschiedenen Kulturindustrien finanziert werden. Und am Ende jeder Aufführung verlesen die Künstler ein von allen Kultureinrichtungen gemeinsam verfasstes Kommuniqué, in dem sie die politische Verfolgung anprangern, die Nichtfinanzierung und die Absicht, sie zum Schweigen zu bringen.

"Viele von uns sind am Ende ihrer Kräfte", sagt Gonzalo Pérez, Präsident von Artei, dem Verband der unabhängigen Theater der Stadt, also all jener, die weder staatlich noch von kommerziellen Unternehmern unterstützt werden. Gonzalo sagt das, während er eine Wasserpumpe anstellt, um die Folgen der Überschwemmungen zu beseitigen, die sein Theater nach einem Sturm in Buenos Aires heimgesucht haben. Viele der experimentelleren Räume befinden sich in Kellern, in umgebauten Fabriken und Garagen. Selbst hier aber verdreifachen sich gerade die Kosten für Miete und Strom (von dem das Theater viel braucht) und treiben die Einrichtungen an den Rand der Schließung.

teatro del pueblo c mercedes mendez uÄltestes freies Theater Argentiniens: Teatro del Pueblo © Mercedes Méndez

"Wir sind ein widerstandsfähiger Sektor“, sagt Pérez. "Wir haben die Militärdiktatur in Argentinien und die ständigen wirtschaftlichen Probleme überlebt. Aber jetzt versuchen wir, mit dem Schlag fertig zu werden, dass eine Person demokratisch gewählt wurde, die uns und die Kultur im Allgemeinen verachtet. Viele von uns sind müde vom Kämpfen, vom Geld verlieren. Aber im Theater, dieser kollektiven Kunst par excellence, kommt immer jemand Neues mit Schwung, mit dem Wunsch, etwas anderes zu versuchen. Das gibt uns neue Energie!"

Der Präsident der Kammer der Theaterunternehmer, Sebastián Blutrach, ergänzt: "Ich bin Besitzer eines renommierten argentinischen Theaters, El Picadero. Während der Militärdiktatur wurde es angegriffen, weil es Stücke aufführte, die die Verbrechen der Militärs anprangerten. Immer mehr Menschen kamen, bis das Militär eine Bombe legte und das Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Das hat aber weder die Künstler noch das Publikum zum Schweigen gebracht. Am nächsten Tag gingen mehr Menschen in andere und immer mehr Theater, um diese Stücke zu sehen. Wir befinden uns in einem kritischen Moment. Aber wenn die Kultur angegriffen wird, wird die Antwort der Gesellschaft, zumindest in diesem Land, noch gewaltiger ausfallen."

(Übersetzung aus dem Spanischen: Georg Kasch)

Mercedes Méndez ist Journalistin und Theaterkritikerin und arbeitet für die wichtigsten Medien in Buenos Aires. Sie besitzt einen Abschluss in Dramaturgie von der Universidad Nacional de Buenos Aires (UBA) und gründete Theatron, einen Club, der das Publikum mit dem zeitgenössischen Theater und seinen Künstler:innen zusammenbringt.

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