Digitalität und Theater in der pandemischen Krise
Gedanken zum Weltübergang
30. April 2021. Wo kommt das Publikum an? Gibt es eine Garderobe? Eine Bar? Einen Abendzettel? Wie spendet man Beifall? Wie geht Theater online? Ein Essay zu Fragen des kommenden Netztheaters.
Von Christiane Hütter
Gedanken zum Weltübergang
von Christiane Hütter
30. April 2020
Weltübergang 1. PERIPANDEMISCHES THEATER
Like it or not, we live in interesting times.
Eine Welt endet, eine neue beginnt. Nur dass uns niemand gefragt hat, ob wir als Gesellschaft, als Theatermachende unsere Comfort Zone verlassen möchten – sie war einfach weg. Begeben wir uns also einfach auf die Flucht nach vorne, stellen uns dumm und gehen davon aus, dass wir in ein anderes Element eintreten, in eine Welt, die uns fremd ist. Die wir anhand verschiedener Dimensionen erforschen müssen.
Würden wir unter Wasser 1:1 das gleiche Theater wie vorher an Land machen? Wann immer wir auf unbekanntes Terrain geraten, erkunden und analysieren wir es in vorsichtigen Versuchen. Anhand der Ergebnisse passen wir Equipment und Strategien an, um überlebensfähig zu werden, Gestaltungsraum zu gewinnen.
Krise als Chance, könnte man sagen, ja, nein, vielleicht. Jedenfalls Zeit, sich Gedanken über digitales Theater zu machen, während die Theaterhäuser leer stehen. Fehlt uns nicht gerade besonders der physische Raum, an dem Menschen zusammenkommen können, eine gemeinsame Erfahrung machen (making memories)?
Digitalität ist im Theater nicht erst seit Corona ein Begriff. Aber spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das Theater davon profitieren könnte, digitale Denkweisen und Arbeitspraktiken zu übernehmen statt "nur" einzelne Gestaltungsprinzipien zu zitieren: Wer Software programmiert oder z.B. Spiele designt, fängt IMMER von Null an, hält nichts für selbstverständlich, sondern schafft ein neues System.
In unser alten Welt wissen wir, wie Theater funktioniert. Wir finden uns selbst in Theatern zurecht, die wir zuvor nie besucht haben, weil wir das Prinzip Theater verstanden haben. Die Situation selbst, das damit verbundene Ritual, der soziale Rahmen und all seine Verabredungen und Konventionen sind schon da.
In der neuen Welt, online only, ist das anders. Wir kennen die Gegebenheiten des neuen Elements noch nicht gut und wollen doch zu unseren Online-Theater-Erlebnissen einladen. Was ist denn das: Theater online?
Dimension DIGITALES GASTGEBEN
Wo kommt das Publikum an? Gibt es eine Garderobe? Eine Bar? Einen Abendzettel? Wie spendet man Beifall? Ganz zu schweigen vom Ticketkauf. Beginn und Ende der Erfahrung, individuelle Handlungsoptionen und auch die Wahl der Tools sind hier eben nicht per default definiert. Doch genau wie im physischen Raum möchte das Publikum gerne wissen, wozu es geladen ist!
Neben der Erstellung der eigentlichen Inhalte und digitalen Formate bedarf es einer guten Rahmung, mehr noch: einer kohärenten, gestalteten Welt drumherum.
Wie sieht der Eintritt aus? Wie der Ausgang?
Neue Software oder Computerspiele beispielsweise bewerkstelligen dieses Onboarding oft mit einem Tutorial-(Level), eine an den Lernerfahrungen der Benutzer*innen in spe orientierte praktische Schritt für Schritt Anleitung, wie eben dieses Format zu benutzen ist – und zwar DAU-optimiert: Für die dümmsten anzunehmenden User*innen. Denn wer am Anfang nicht einsteigen kann, bleibt sicher nicht.
Tutorials sollten nicht nur zugrundeliegende Technologie erklären (Wie benutze ich denn dieses Jitsi?), sondern auch soziale Verabredungen etablieren als eine Art Online Netiquette (Wer redet wann?). Wir müssen die Regeln unseres "Hause" klar und unmissverständlich formulieren.
Einer Tatsache sollten wir uns dabei immer bewusst sein:
Wir sind Gastgeber*innen in einer Welt, die schon vorher da war und mit der viele Menschen schon Erfahrungen außerhalb des Theaterkontexts gesammelt haben. Wir können zwar den Ausschnitt, in dem wir uns aufhalten möchten, definieren und gestalten, ebenso wie wir das bei ortsspezifischem Theater tun. Sobald wir im öffentlichen Raum arbeiten, müssen wir uns mit den lokalen Besonderheiten und Konventionen vertraut machen und mit ihnen umgehen. Das ist im digitalen Raum nicht anders. Manche Konventionen überraschen uns vielleicht – dennoch sollten wir ihnen mit Offenheit und Respekt begegnen anstatt zu überlegen, wie wir sie ad hoc hochkulturkolonialistisch überformen können. Nicht alle Menschen, die Katzenbilder posten, sind Idioten. Aber vielleicht ergeben sich spannende Synergien aus dem Besten beider Welten.
Dimension RAUM UND ZEIT
Theater der alten Welt findet auf einer Bühne statt, die intentional ausgesucht und bewusst gestaltet ist – den räumlichen Gegebenheiten entsprechend. Was kann das für Online-Formate bedeuten? Müssen wir deswegen weniger gestalten? Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen suchen und ausprobieren, welche Mittel dafür die richtigen sind. Was beispielsweise zeichnet ein gutes digitales Bühnenbild aus? Was eine funktionierende und ansprechende Szenographie?
Neben der räumlichen hat das Theatererlebnis der alten Welt auch eine klar umrissene zeitliche Komponente. Es gibt einen Anfang und ein Ende. Möglicherweise müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie Zeitlichkeit im digitalen Raum funktionieren und sich vermitteln könnte. Theatererlebnisse wie wir sie kennen, finden live und unvermittelt statt.
Was aber bedeutet LIVE online überhaupt? Live soll sich auch live anfühlen. Doch unsere Sehgewohnheiten im Internet deuten nicht zwangsläufig jedes Live-Erlebnis auch so. Wir müssen uns also Gedanken machen, worin sich das Live-Erlebnis von einer getimeten "Ausstrahlung" oder einem permanent verfügbaren Video unterscheiden soll. Worin besteht ist der spezifische Live-Moment?
Wie soll Liveheit, vermittelt über das Internet, "bewiesen" werden? Welche Marker entsprechen der "Tageszeitung mit Datum" im Bild in unseren Zeiten? Dem durch ein bestimmtes Datum und einen festgesetzten Zeitrahmen mit-definierten Theatererlebnis?
Ein Schlüssel liegt in der Einbeziehung des Publikums. Denn wenn das Publikum entscheidend oder gestaltend eingreifen oder sich zumindest parallel über das Erlebnis austauschen kann, kann es gar nicht anders als die Liveheit, die Gleichzeitigkeit, wenn auch an einem anderen physischen Ort, wahrnehmen. Und im besten Fall ein Teil davon werden.
Dimension (FKA) PUBLIKUM
Online haben wir es nicht mit einem Publikum zu tun, das einen physischen Raum teilt, an den bestimmte Erwartungen geknüpft sind. Das Online-Publikum ist potenziell diverser. Die Nutzungssituationen und -bedingungen sind es ebenso. Displaygrößen, direkte Umgebung, parallele Beschäftigungen. Die Aufmerksamkeit im Theater ist in der Regel ungeteilt, die zu Hause vor dem Rechner nicht notwendigerweise. Müssen wir diesen Fakt nicht viel bewusster in unsere Überlegungen einbeziehen?
Für wen genau gestalten wir das digitale Theatererlebnis? Für wie viele? Welche Art von Partizipation möchten wir zulassen? Wollen wir das Publikum in kommentierender Funktion, auf der Ebene des Werkes oder darüber hinausgehend sogar bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen einbeziehen? Welche Eingriffstiefe möchten wir hier erlauben?
Und, da wir uns ja in einer "neuen Welt" befinden – was finden wir dort eigentlich vor? Welche kulturellen Praktiken? Und wie werden diese Erklärungen der Partizipationsmöglichkeiten und -bedingungen gestaltet? Sind sie (ästhetisch) vom Rest abgetrennt, wie eine neutrale "Verlesung der Spielregeln" zu Beginn? Sind sie bereits in die Fiktion eingebettet? Welcher Kommunikationskanal wird dafür benutzt? Wie können wir sicherstellen, dass alle Regeln bei allen Teilnehmer*innen unmissverständlich ankommen und umgesetzt werden können? Ist das Regelwerk geschlossen oder offen? Welche Einflussmöglichkeiten hat das Publikum, alles vielleicht sogar komplett umzuschmeißen?
Das bedeutet, in letzter Konsequenz, die vielleicht wichtigste Frage: Wie viel Kontrolle sind wir eigentlich bereit aufzugeben?
Dimension KONTROLLVERLUST
Hiermit kommen wir vielleicht zum entscheidenden Abschnitt, der möglicherweise tief in bislang unverrückbare Glaubensgrundsätze eingreifen könnte.
Welches Verhältnis haben wir zu unserem Publikum?
Müssen wir radikal umdenken? Vom durchchoreografierten Frontaltheater zur zielgruppenspezifischen Content-Entwicklung? Zum human centered design? Man könnte auch von der Entwicklung der Fähigkeit sprechen, mehrere Stimmen zuzulassen: Stimmen, die aus so vielen Perspektiven wie möglich auf ein Werk schauen, es gemeinsam bauen und gestalten. Die vielleicht sogar versuchen, es zu hacken, um seine Grenzen zu testen.
Das lässt sich nicht mehr mit der einzelnen "Künstlerperson als Genie" oder dem klassisch hierarchisch durchstrukturierten Theaterbetrieb verbinden. Byebye alleinige Deutungshoheit, byebye frontale Gestaltungsmacht! Vom Darstellen zum Herstellen (einer benutzbaren Situation).
Doch könnten wir hier enorm viel gewinnen. Ein Publikum, das sich als intelligent eingeschätzt und aktiv einbezogen fühlt, das lernen und wachsen kann, das vielleicht sogar einen eigenen gestalterischen Anteil am Gesamtwerk hat – dieses Publikum wird wiederkommen. Und mehr Leute mitbringen; weil es selbst Anteil am Schaffensprozess und eine eigene Identifikation mit dem Ergebnis hat und den Prozess als heilsam empfindet.
Was aber bedeutet das für uns als Schaffende?
Müssen wir im Endeffekt etwa die Autor*innenschaft an dem entstandenen Werk teilen?!
O_O
Dimension ZUSAMMENARBEIT
Apropos teilen. Gehen wir noch einen Schritt weiter.
Was als open source-Kultur unter Nerds selbstverständlich ist (Code teilen, Code zur Verfügung stellen und weiterentwickeln lassen und sich darüber freuen(!) dass der eigene Code benutzt und kommentiert und weiterentwickelt wird), widerspricht im Theaterkontext nicht nur den üblichen Arbeitsrhythmen sondern vor allem der tradierten Vorstellung, dass nur NEU Geschaffenes wirklich interessant ist.
(Das sieht man auch in der aktuellen Berichterstattung über Formate, die online stattfinden und von "Initiatoren des digitalen Theaters" oder "selbsternannten Pionieren" geschaffen werden, nachdem es in der Freien Szene Projekte und Diskussionen darüber gibt. Ja, damals war das noch nicht Mainstream. Damals war das noch nicht NOTWENDIG.)
Auch wenn es sich in Zeiten von Coronabedingter Isolation so anfühlt, als würde die Gegenwart ewig währen: Wir alle stehen auf den Schultern von Riesen (m/f/d). Wieso nicht Ursprünge und Quellen offenlegen, wieso sich nicht aufeinander beziehen, wieso nicht ein gemeinsames Feld erschließen, Instrumente miteinander teilen, Praktiken vergleichen, das Ganze einmal sachorientiert sehen? Wieso nicht institutionenübergreifend Wissen teilen? (Spoiler: Es wird vielleicht nicht weniger dadurch.)
Ist die Angst vor Mehrarbeit, vor Aufgabe etablierter Arbeitsprozesse, vor einer möglicherweise entstehenden Verwässerung der eigenen "Marke" wirklich so groß?
Und möglicherweise schrillen noch ganz andere Alarmglocken: Kennen wir doch alle diese Teamkonstellationen, in denen alle immer mitdenken und bis an den Rande ihrer Kräfte mitarbeiten und am Ende doch nur einer oder wenige Namen unter dem Werk stehen. "Teamwashing" killt echte Kollaboration. (Besonders im letzten Jahr ist diese Diskussion glücklicherweise ins Rollen gekommen und wird hoffentlich weitergehen. In diesem Kontext hier betrifft es oft genau die Menschen, die für "im digitalen Raum arbeitenden" Künstler*innen das Herzstück ihrer Arbeit bauen, oft ohne dafür entsprechend gewürdigt zu werden. Wäre es nicht an der Zeit, all die kreativen Coder*innen endlich als eigenständige Künstler*innen anzuerkennen und entsprechend zu benennen?)
Zusammenarbeit zwischen Menschen ist immer komplex. Es hilft, Rahmenbedingungen (finanzieller Art, aber auch was die jeweiligen Rollen im Team angeht in punkto Verantwortung, Gestaltungsfreiheit etc.) von Anfang an möglichst transparent zu kommunizieren und, falls durch Veränderung im agilen Prozess nötig, anzupassen.
Das alles klingt alles nach einer Menge zusätzlicher Arbeit?
Das stimmt. Aber sie muss gemacht werden.
Umso wichtiger ist es, diese Art der Prozessgestaltung, des Gastgebens, die Organisation von Zusammenarbeit im kompletten Prozess, nicht länger als nebensächliche oder selbstverständliche "Verwaltungsarbeit" zu betrachten.
Es ist die Kunst, Situationen und Systeme zu gestalten.
Vielleicht die wichtigste Superpower dieser Zeit.
Weltübergang 2. POSTPANDEMISCHES THEATER
Vielleicht wird es nie wieder wie vorher, aber irgendwann wird das hier vorbei sein.
Die klassische Held*innenreise, diese ewige Metapher auf das menschliche Herausgefordertsein bei Anpassung an neue Situationen und damit verbundene Trennungs- und Wachstumsschmerzen, endet (hoffentlich) folgendermaßen: Held*innen kehren zum Ende der Geschichte zwar in ihre Ursprungswelt zurück, jedoch bereichert um Erfahrung.
Vielleicht werden ja auch die Erfahrungen während der Pandemie nachhaltigen Einfluss haben. Nicht als Ersatz für das Theater von vorher, darauf werden sich alle wieder freuen, aber vielleicht als Ergänzung: ein dezentrales ko-kreatives performatives Labor an der Schnittstelle zur Stadtgesellschaft, ein Spielfeld für mögliche Zukünfte, eine Testfläche für Utopien. Nicht als Ersatz für echte politische Partizipation, aber dennoch mehr als "Mitmachtheater".
Ein Ort, an dem wir alle lernen, trainieren, uns (gegenseitig) durchs Machen informieren, um mit der komplexen Welt da draußen (besser) umgehen zu können.
Solche Labore werden wir in Zukunft ohnehin noch mehr brauchen als jemals zuvor.
Christiane Hütter ist freischaffende Künstlerin und Diplom-Psychologin. Mit den Mitteln von Game Design und Storytelling analysiert, entwickelt und hackt sie soziale Systeme und entwickelt partizipative Projekte an der Schnittstelle von Kunst, Stadtgesellschaft und Wissenschaft. Sie hat das Netzwerk Invisible Playground mitbegründet und spielorientierte Kulturprojekte in aller Welt künstlerisch verantwortet. Sie ist die Inhaberin der digitalen Literatur-Plattform polyplot.io und hat gemeinsam mit Frank Rieger den interaktiven Roman Gefährliche Menschen geschrieben.
Der Text ist eine, für diese Veröffentlichung überarbeitete Version des Manifests für den von Christiane Hütter initiierten und mit Unterstützung von Christian Römer und der Heinrich-Böll-Stiftung realisierten Hackathon Weltübergang vom 17. bis 19. April in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin und im www.
weltuebergang.net
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