Presseschau vom 14. September 2016 – Der Streit um die Berufung von Sasha Waltz zur Ko-Intendantin des Berliner Staatsballetts
Berlin ist nicht satisfaktionsfähig
Berlin ist nicht satisfaktionsfähig
14. September 2016. In der Berliner Kulturpolitik brodelt es weiter. Nach dem nicht abflauen wollenden Streit um die Berufung von Chris Dercon zum Nachfolger von Frank Castorf als Intendant der Volksbühne, protestieren nun Tänzerinnen und Tänzer des 2004 fusionierten Berliner Staatsballett gegen die Berufung der Choreographin Sasha Waltz zur Ko-Intendantin ihrer Compagnie ab 2019. Wir berichteten. Aus den Presseberichten zu der Angelegenheit lässt sich eine Menge lernen. Wir haben deshalb eine ausführliche Presseschau erstellt.
In der Süddeutschen Zeitung (14.9.2016) schreibt Dorion Weickmann: Das Berliner Staatsballett fürchte "eine Art feindlicher Übernahme" durch Sasha Waltz. Ihre Ernennung beschädige den "Ruf des Staatsballetts als einer weltweit anerkannten klassischen Ballettcompagnie". Weickmann dazu trocken: "Den Tänzern und Tänzerinnen des Staatsballetts muss entgangen sein, dass der Ruf längst gründlichst ruiniert ist." International spiele die Kompanie "seit Jahren keine Rolle mehr". Selbst im Vergleich zu Stuttgart oder Düsseldorf sei sie "nicht satisfaktionsfähig". Dass in Berlin einem "antiquierten Ballettbegriff gehuldigt" werde, hätten Berliner Politiker zu verantworten, die dem größten deutschen Ballettensemble "weder Fürsorge noch Respekt angedeihen ließen".
In Sachen Waltz sei das Ensemble "in Wahrheit" nicht so eindeutig entschieden. "Andersmeinende äußern sich öffentlich aber nicht." In der Sache sei die Ablehnung unbegründet. In Antwerpen etwa habe der Moderne Sidi Larbi Cherkaoui seit einem Jahr die Leitung des Flandern-Balletts inne. "Es gibt keine Katastrophenmeldungen. Im Gegenteil, Cherkaouis Programm-Mix aus Tradition und Innovation scheint zu funktionieren." Außerdem trete Waltz als Teil eines Tandems an. Zusammen mit dem klasisch ausgebildeten Johannes Öhman. Mit "klassischer Expertise und experimentellem Wagemut" planten Öhman und Waltz auch in Berlin.
Ihrerseits werde Waltz beweisen müssen, "dass die Künstlerin hinter der Ko-Intendantin zurückstehen kann". Bis 2024 fünf bereits existierende Waltz-Stücke ins Staatsballett-Repertoire einzuspeisen und drei eigene dazuzulegen, sei "keine gute Idee". Wer "auf Vielfalt setzt und das Sagen hat, muss anderen, auch jungen Choreografen Wege ebnen". Umgekehrt müssten die Staatsballetttänzer kapieren, dass "ein hoch subventionierter Theaterbetrieb kein Mitbestimmungsladen ist".
Rüdiger Schaper bemerkt im Tagesspiegel (14.9.2016): Wenn das Berliner Staatsballett Schlagzeilen mache, dann seien die in der Regel negativ. Die Tänzer seien "krawallerprobt". Ihre Streiks im vergangenen Jahr "um Fragen des Haustarifs und der gewerkschaftlichen Vertretung", hätten dem "Ansehen der Truppe Schaden zugefügt". Auch beim Streit um Sasha Waltz zeige sich die Mehrheit der 80 Tänzerinnen und Tänzer "künstlerisch und geistig nicht sehr beweglich". Zur Auswahl einer besser geeignete Intendanz forderten sie die Mitbestimmung des Ensembles. Schaper: "Davon hat man in der Welt der Bühnen noch nie etwas gehört. Personalpolitik gehört – mit allen Risiken – zum Gestaltungsspielraum der Kulturpolitiker." Andernfalls gäbe es nie eine "Veränderung und Weiterentwicklung". Das 2004 gegründete Staatsballett habe sich "nie wirklich offen" für modernen Tanz gezeigt. Dabei verstünden sich Compagnien von Rang auf das klassische Ballett UND den modern dance. Fachliche Probleme könne die Entscheidung für Sasha Waltz und Johannes Öhman nur bei einem "rückwärtsgewandten, unflexiblen Ensemble" bringen. Auch wenn Michael Müller und Tim Renner wieder einmal "miserabel oder gar nicht mit den Betroffenen kommuniziert" hätten, ändere dies nichts an der Sache: "Künstlerisch kann sich das Berliner Staatsballett nur verbessern."
Christiane Peitz schreibt in ihrem Kommentar im Tagesspiegel (14.9.2016): Ein Ensemble, das geschlossen gegen eine neue Intendanz protestiert, hätte es noch nie gegeben in Berlin. Nicht mal an der Volksbühne. Die Forderung der Tänzerinnen, die Entscheidung zurückzunehmen, sei eine "Riesenpleite für Müller und Renner", die mit der "Bekanntgabe kurz vor der Wahl in der Kulturszene für sich werben" wollten. Nun fliege ihnen "ihre Personalpolitik um die Ohren". Bei Chris Dercon wie bei Sasha Waltz sähe es danach aus, als hätten Müller und Renner es vor lauter "Lust am Aufbruch" versäumt, die Ensembles "beizeiten für den Aufbruch zu gewinnen". Noch beharrten Renner und Müller auf ihrer Entscheidung, doch das klinge wie "Pfeifen im Wald": Wie "wollen sie die Compagnie jetzt noch überzeugen? Künstler sagen gerne von sich, sie seien die Avantgarde. Wenn es um den eigenen Arbeitsplatz geht, fällt Veränderung allerdings schwer".
Katrin Bettina Müller schreibt in der taz (14.9.2016): Sicher stecke hinter der Berufung von Öhman und Waltz der Wunsch aus dem Spielplan des Staatsballetts mehr zu machen, als den "bewahrenden Ort für historische Ballette und sehr gut getanzte Nettigkeiten, die ästhetisch glatt und inhaltlich belanglos waren". Die Tänzer des Staatsballetts Berlin könnten so viel, verschwendeten sich jedoch viel zu oft "an dekorative Stoffe, nicht erst unter dem letzten Intendanten Nacho Duato". Man merke der Petition des Staatsballetts eine "tiefe Kränkung" an: Sie sähen sich von der Politik in ihrer Identität verkannt und völlig ohne Mitsprache übergangen. Allein die Tradition, auf die sich das Staatsballett jetzt beruft, habe inhaltlich nie eine der Volksbühne vergleichbare Bedeutung gehabt. Vladimir Malakhov habe 2004 die Tänzer aus den drei Ballett-Ensembles der Berliner Opernhäuser zu einer neuen Compagnie nur mit einem "sehr rückwärtsgewandten Repertoire" zusammenführen können. Er sei dafür "geliebt und gelobt und gefeiert" worden von Fans, die vom Ballett "auch nichts anderes wollen als Schönheit". Wer aber schätze, wie etwa die Compagnie von William Forsythe das "körperliche und technische Vermögen" des Balletts weitergetrieben habe, langweile sich hier oft.
In einem Kommentar auf taz.de schreibt Stefan Alberti (13.9.2016): Dass sich die Tänzerinnen und Tänzer ihren Vormann, ihre Vorfrau nicht selber aussuchen könnten, sei auch "gut so". Ein Ensemble sei nicht "für sich selbst" da, sondern erfülle eine "herausragende kulturpolitische Aufgabe". Nur so seien die "vielen Millionen Kulturförderung", beim Staatsballett jährlich fast neun, "kaum zu rechtfertigen". Also habe auch der "oberste Kulturverantwortliche in der Politik" das letzte Wort – an dem er ja auch gemessen werde.
Jürgen Kaube schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.9.2016): "Man stelle sich vor, zur Direktorin der Alten Pinakothek in München würde eine Videokünstlerin ernannt. Zum Intendanten der Staatsoper Hamburg ein Jazzkomponist. Und das Schauspiel Köln legte man in die Hände eines Fernsehregisseurs." Die Tänzer des Berliner Staatsballetts protestierten gerade gegen eine "derartige Entscheidung". Zu seiner von 2019 an neuen Intendantin hätten der "Regierende Bürgermeister Müller und sein Kulturstaatssekretär Renner", die "keinen blassen Schimmer von dieser Kunst haben", die Tanztheaterchoreographin Sasha Waltz gemacht. Deren Werke hingen mit dem Ballett nur "über die bewegte Zweibeinigkeit der Darsteller" zusammen. Auch habe sie schon zwei Jahre lang "nichts mehr choreographiert und in den letzten zehn Jahren überhaupt kaum mehr als eine Handvoll Stücke". Weder stehe Waltz im "Zenit ihres Könnens", noch könne sie "mit klaren Gedanken aus Kenntnis jene Tradition dieser schwierigen Kunst vergegenwärtigen, die vom neunzehnten Jahrhundert bis ins späte zwanzigste reicht". Die Tänzerinnen hielten die Knochen für den Unfug hin. Schon die untätige künstlerische Null, bestallt einst vom Kulturduo Wowereit/Schmitz, habe diese Tänzer "Jahre der guten Erfahrung" gekostet. Jetzt erlebten sie erneut, wie "gleichgültig ihre Kunst den Verantwortlichen ist".
"Weltspitze im klassischen Ballett möchten die Tänzerinnen und Tänzer sein. Ein zur Hälfte klassisches, zur Hälfte zeitgenössisches Repertoire, wie es unter der Doppelspitze Waltz/Öhman geplant ist, weckt in ihnen die Angst, dass sich auch ihr Berufsprofil stark verändert", schreiben Astrid Kaminski und Elena Philipp auf Zeit online (14.9.2016). Das Staatsballett sei derzeit nicht Spitze. "Und Sasha Waltz wird das nicht ändern können. Aber die Befürchtungen gehen darüber hinaus: 'Vielleicht bekommen wir keinen Cranko und keinen Balanchine mehr. Die Stiftungen gucken ganz genau, ob das Niveau hoch genug ist, um uns solche Stücke zu verkaufen.'" Geprägt haben das jetzige Staatsballett-Ensemble die zehn Jahre nach der Zusammenlegung der drei Opernballette Berlins unter dem Intendanten Vladimir Malakhov, 2004 bis 2014. "Dieses Selbstverständnis mag dem Festhalten an einer traditionellen Prägung und der pauschalen Zurückweisung der neuen Intendanten zugrunde liegen. Die durchgängige Bezeichnung von Sasha Waltz als 'Tanztheater'-Choreografin ist dabei schlicht Unsinn. Sie zeugt von ebenso wenig Respekt gegenüber dem zeitgenössischen Tanz, wie Tim Renner ihn vor der Klassik haben mag."
Künstlerisch schien der Coup eigentlich geglückt, waren sich fast alle Kommentatoren einig, schreibt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (13.9.2016). "Wenn Waltz & Öhman nun angekündigt haben, dass das Staatsballett in Zukunft zur Hälfte klassisch und zur Hälfte zeitgenössisch unterwegs sein werde, heißt das nicht, dass dies jeden einzelnen Tänzer betrifft. Zurzeit sind etwa zehn der insgesamt 86 Stellen des Staatsballetts überhaupt nicht besetzt. Allein damit schon lässt sich viel bewerkstelligen." Und Waltz & Öhman stünden für einen sehr hohen Kunstanspruch, "die Möglichkeiten, die sich durch sie für das Staatsballett eröffnen, spielen in einer deutlich anderen Liga als das – von einigen Ausnahmen abgesehen – bisher der Fall war".
Den Streit um Waltz und Öhman wertet Christine Lemke-Matwey in der Zeit (15.6.2016) als Symptom dafür, dass die Berliner Kulturpolitik die Hochkultur nivelliere (als weiteren Beweis für ihre These zitiert sie die Entscheidung des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, den Technoclub Berghain sei ein Kultur-, kein Unterhaltungsort). Den Vergleich der protestierenden Balletttänzer zwischen Tennis- und Fußballtrainer findet sie so falsch nicht, insofern Ballett und Tanztheater zwei ziemlich verschiedene Paar Schuhe seien. "Die einen müssen Spitze tanzen können, die anderen nicht. Die einen tragen seit 100 Jahren Tutu und zehren vom klassischen Repertoire, die anderen haben ihre besten Tage möglicherweise schon gesehen, mit und seit Pina Bausch, der Ikone. Auch das spricht nicht für Sasha Waltz."
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So etwas darf bei einer solche Personalentscheidung nicht passieren. Ggf muss man sich mehrfach verständigen und rückversichern, wer das Ensemble informiert. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass daran einfach niemand gedacht haben sollte.
Damit war doch der Wurm schon in den Apfel gesetzt. Ich kann hier das Ensemble gut verstehen.
Des weiteren muss man auch sagen, dass ver.di seit einiger Zeit verstärkt versucht, in den Künsten Fuß zu fassen. Auch im Streik der Tänzer*Innen des Staatsballetts hat ver.di ordentlich mitgemischt - da gibt es die sogenannte "Fachgruppe Kunst".
(https://bb.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++9b0d125e-65d6-11e5-9309-525400248a66)
(http://www.morgenpost.de/kultur/berlin-kultur/article205741477/Balletttaenzer-halten-an-Verdi-fest.html)
(http://www.berliner-zeitung.de/kultur/streik-beim-berliner-staatsballett-berliner-ballett-streik-ist-bizarrer-als-gdl-ausstand-832076)
Die Staatsballett Tänzer sind laut Berliner Zeitung zu über 80 Prozent ver.di Mitglieder.
Vielleicht macht es Sinn, d
1) Welche Balance/Mischung von "klassisch" und "modern" tut not bzw. ist angebracht?
2) Wie kommuniziert man das kulturpolitisch anständig?
Erstere Frage wird - wie im Falle der Volksbühne - ohne erkennbare Expertise und vor allem ohne öffentliche (Diener des Souveräns sollen sie sein!) Auseinandersetzung per Dekret entschieden. [Seitenfrage: Warum soll bei Ensembles (Ballett, Theater, ...) nicht möglich sein, was bei den Berliner Philharmonikern funktioniert? (Die auch ordentlich subventioniert werden.)] Wenn Renner und Müller beizeiten einen, Positionen des Ensembles, des Publikums, der Zivilgesellschaft hätte eine Stimme gegeben, wäre das Trara jetzt ein anderes und die beiden Herren müssten sich nicht die Vorwürfe anhören, die nun wieder und wieder aufkommen. Selbstverschuldet also.
Wieder, wie im Falle der VB, führen wir *jetzt* *im Nachhinein* eine Debatte über das Wohin. Nachdem Tatsachen geschaffen wurden. Moderne Kulturpolitik sieht anders aus.
Zur zweiten Frage: Das ist fraglos ein erneuter Lapsus, um es milde zu fassen. Wenn die Kulturpolitik aber eine öffentliche Auseinandersetzung (nicht gleichzusetzen mit: Entscheidung) ermöglicht hätten, wäre es zu so einem Affront nicht gekommen. Nun ist es dem Ensemble (ob man seine Positionen teilt oder nicht) kaum zu verdenken, dass sie ihrer Opposition Stimme verschaffen.
Moderne Kulturpolitik sieht anders aus.