Presseschau vom 15.-20. Mai 2015 – Theatertreffen-Resümees in Radio und Print
Großangriffe auf die Wirklichkeit
Großangriffe auf die Wirklichkeit
15. Mai 2015. "Theater ist nur, wo es nicht sein muss. Ist es auch dort, wo es nichts muss? Wo es weder moralisch noch ästhetisch noch politisch offene Rechnungen zu begleichen hat? (...) Das ist die Frage des diesjährigen Theatertreffens, das so selbstzweiflerisch und selbstbewusst zugleich auftritt wie selten zuvor", resümiert Dirk Pilz in der Berliner Zeitung anlässlich des nahenden Ende des Theatertreffens.
Man wolle Debatten anstoßen, "will zum Ort des Dialogs der Gesellschaft über ihren Zustand taugen, will über die Bühnengrenzen hinaus und weiß offenkundig weniger denn je, was es sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Grenzen soll".
Zu Stemann heißt es: "Politische Forderungen durch die Kunst, Politik machen mit ihr: Das ist der waghalsige, einnehmend ratsuchende, auch hilflose Versuch eines Festivals, das sich noch immer als Theaterbetriebsfeier versteht. Es ist auch der Versuch, sich am eigenen Schopf aus einem Sumpf zu ziehen, den man selbst anlegt. (...) Das gesamte Festival hindurch (...) stand stets die Donnerfrage: Theater, wie hältst du's mit der Wirklichkeit? Hältst du sie bloß aus oder ihr etwas entgegen? Falls ja, was und warum? So fragt nur, wer Halt und Glauben verloren hat."
Und zu Lotz' "Die lächerliche Finsternis", in dem Dirk Pilz ein Theater sieht, dass sich keinem Zweckbegriff unterwirft: "Politisch gerade durch die Verweigerung jeglicher handhabbaren Politik. Deshalb der Häcksler: Er frisst ein Theater, das an seiner eigenen Sehnsucht nach Wirklichkeitsrelevanz zu ersticken droht – und spuckt eine Kunst aus, die in harscher Opposition zu jeglicher Verzweckung steht. Vielleicht ist es doch ein Theaterirrglaube, wenn von der Bühne herab Flüchtlings- oder sonstige Politik gemacht werden will?"
Zu "Baal": "Sie wurde zum Politikum, weil die Brecht-Erben zu wenig Brecht in ihr entdecken können und vor Gericht weitere Vorstellungen verbieten ließen. Politisch brisant aber wird sie, weil sie den Brecht-Text in den Vietnam-Krieg verlegt, weil die Geschichte als Gespenst der Gegenwart auftritt, weil sie allen moralischen, ästhetischen, politischen Sicherheiten den Teppich unter den Füßen wegzerrt. Der Häcksler ist bei Castorf schon immer das Supersymbol: Was uns als Wirklichkeit aufgetischt wird, will vom Theater gefressen und unverdaut wieder ausgespuckt werden."
(sik)
Hartmut Krug hat beim diesjährigen Theatertreffen vor allem „Vorzeigetheater der bunten Formen“ gesehen und sagt im Deutschlandfunk (18.5.2015) zur Auswahl: „Dass immerhin fünf Uraufführungen dabei waren, muss wegen der Uraufführungs-Überproduktion in deutschsprachigen Theaterlanden nicht überraschen.“
Die „sogenannten politischen Inszenierungen“ hätten sich weniger an der jeweils verhandelten Wirklichkeit als an deren theatraler Form gerieben, so Krug: „Es war, als führten sie Jürgen Goschs Haltung, Situationen auf ihre Spielbarkeit zu überprüfen, konsequent weiter zu einem Überprüfungsspiel der unterschiedlichsten artifiziellen Kunstmittel.“ Das hätte „viele unterhaltsame, aber eher ausufernd harmlose Theaterabende von deutlicher Uneigentlichkeit“ hervorgebracht.
Paradox und schön daran sei nur, „dass die Schauspieler, oder besser, die Schauspielerinnen, in dieser Art Theater aufzuleben und zu leuchten begannen“.
„Wie diese Sperrholzbretter, die ja sprichwörtlich die Welt bedeuten sollen, in einen gigantischen Häcksler wanderten – das ist womöglich das Bild überhaupt für das diesjährige Theatertreffen!“ schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (19.5.2015) und bezieht sich auf das TT-Gaststpiel „Die lächerliche Finsternis“. Insgesamt hat Wahl beim Theatertreffen dieses Jahres beobachtet, „dass die Selbstbefragung des Theaters so ziemlich das genaue Gegenteil jener selbstreferenziellen Nabelschau ist, die ihm so oft vorgeworfen wird“. Statt um den Bezug zur eigenen Körpermitte ringe die Bühnenkunst „offenbar gerade ziemlich ernsthaft und geboten komplex um denjenigen zur Welt“.
„Bringt es irgendwas, das Theater zu kritisieren? Kritiker machen das ja unentwegt, aber traurig muss man feststellen, dass trotzdem ein so trüber Jahrgang dabei herauskommen kann wie der 52. des Berliner Theatertreffens, ätzt Jan Küveler in der Welt (18.5.2015). Zwei, drei der zehn Abende seien „ganz gut“ gewesen, die anderen „ärgerlich, überflüssig, albern, läppisch, achtlos oder blutleer“. „Dauernd wurde eine Petition vorgelesen. (...) Es ging um Spenden für Flüchtlinge und den Wiederaufbau eines Hauses mit sehr vielen Türen am Berliner Oranienplatz, ich glaube, es sind 28.“ Dann geht Küveler die Auswahl einmal durch, jeder kriegt sein Fett ab. „Die Schutzbefohlenen als „Agitprop-Zirkus, der ihnen weismachen will, wie gut und böse sie gleichzeitig sind. Böse, weil deutsch und selbstsüchtig. Gut, weil im Theater“. „common Ground“ habe er geschwänzt, aber gehört, dass es ganz gut gewesen sein solle. Die mit Abstand besten Abende seien "John Gabriel Borkman" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg und "Die lächerliche Finsternis" vom Wiener Burgtheater.
Als „ungewöhnliche Betriebsfeier“ beschreibt Mounia Meiborg das Theatertreffen 2015 in ihrer Bilanz in der Süddeutschen Zeitung (19.5.2015). „Ernste und politische Themen haben das Festival dominiert. Und manchmal schien die Realität das Theater fast zu erdrücken.“ „Ein Kritiker schrieb im Tagesspiegel, man hätte das Geld für die Produktion lieber an eine Flüchtlingsorganisation spenden sollen“, so Meiborg: „Das zeigt, wie hoch der Druck für die Theater geworden ist: relevant zu sein, wirkmächtig und zugleich politisch korrekt.“
Der nach den TT-Vorstellungen verlesene „My Right is Your Right“-Spendenaufruf formuliere keine konkreten Ziele, sondern übe sich lieber in routinierter Selbstgeißelung. „Die Zeit der Unschuld ist also vorbei. Aber was kommt jetzt? Wird Theater zu der moralischen Anstalt, von der Schiller träumte? Zur Volkshochschule? Zur Bundeszentrale für politische Bildung?“
Auch beim Stückemarkt des Theatertreffens sei es um „große Themen“ gegangen, auch hier seien die großen politischen Fragen ungelöst geblieben. Aber „so klug und charmant“ wie bei Daniel Cremers „Talking Straight Festival“ habe das Theater selten über sich selbst gelacht.
Die taz bilanziert nicht, sondern setzt ihre Theatertreffen-Berichterstattung mit einem kritischen Bericht zu den letzten beiden Abenden (Die lächerliche Finsternis, Baal) von Katrin Bettina Müller fort.
(sd)
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