Performing Internet #4
Hamlet_X
In den späten 1990er Jahren begann Herbert Fritsch, mit den Möglichkeiten des Digitalen zu experimentieren. An der Berliner Volksbühne, wo Fritsch einer der Protagonisten bei Intendant Frank Castorf war, entstand ab 2000 Fritschs intermediales Großprojekt "Hamlet_X".
15. Juni 2023. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre machte sich der Schauspieler Herbert Fritsch ins Internet auf. Es begann mit kleinen Animationen in Flash oder Poser (einer Grafiksoftware für Gestaltung und Animation von Lebewesen, seit 1994 auf dem Markt), und kleinen dadaistische Spielereien, die er mit eigenen URLs ins Netz zu stellte. www.apokalypse.com zum Beispiel, wo er in verschiedenen Soundfiles in allen Netzfarben immer wieder unterschiedlichst die URL aussprach, ja, ausrief: "Weh weh weh – Apokalypse: komm!" und auf diesem Weg immer neue Bedeutungen entstanden – auch die Syntax einer URL kann Theaterstoff sein.
Universum der Medien und der Künste
Der Höhepunkt von Herbert Fritschs Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten des Digitalen ist sein seit dem Jahr 2000 entstandenes monumentales Medienkunstprojekt Hamlet_X: ein Shakespeare-basiertes Universum aus dem Themen- und Personenkreis des berühmten Dramas – kleine Filmen etwa, die einzelne Hamlet-Szenen adaptieren oder interpretieren, neue Figuren oder Szenen hinzuerfinden. Diese Filme, die alle auf einer Webseite versammelt wurden, konnten und können bis heute Zuschauende jeweils frei zu ihrem ganz eigenen Hamlet-Happening zusammenstellen. Das Projekt, darunter knapp 60 Kurzfilme, die die Elite der Schauspiel- und Theaterwelt versammeln, wurde von Herbert Fritsch an der Berliner Volksbühne realisiert und ist damit auch das erste große Netztheaterprojekt, das im Kontext eines Stadttheaters entstand. Unterstützt wurde Hamlet_X damals darüber hinaus von 3sat, dem ZDF-Theaterkanal und seinem Chef Wolfgang Bergmann sowie der Kulturstiftung des Bundes.
Die Zeit um die Jahrtausendwende, in die Fritschs erste digitale Theaterarbeiten fallen, ist die Zeit, als das Internet beginnt, ein Massenmedium zu werden. War das Internet bis in die späten 1980er Jahre ein Medium der Wissenschaft, des Militärs und der Ingenieure, der Zugang entsprechend schwierig und teuer, wurde das Internet Mitte der 1990er Jahre mit dem World Wide Web zunehmend auch für individuelle Nutzer*innen interessant. Computer waren erschwinglich geworden, Computerprogramme erreichbarer und intuitiver zu bedienen.
Simultanes Erzählen
Herbert Fritsch war in dieser Zeit einer der bekanntesten Spieler im Ensemble der Berliner Volksbühne um den Regisseur Frank Castorf und den Bühnenbildner Bert Neumann. In ihren Inszenierungen hatten Castorf und Neumann verstärkt das Medium Live-Film zu einem integralen Bestandteil des Bühnengeschehens gemacht – etwa, um simultan Vorgänge in Innenräumen und äußern Szenarien zu erzählen, Erzählstränge aufzubrechen oder verschiedene Bewusstseinsebenen gleichzeitig sichtbar zu machen. Schon im Dezember 1998 hatte Frank Castorf in seine Inszenierung "Terrordrom" nach Tim Staffel eine Poser-Animation von Herbert Fritsch integriert. An der Inszenierung war Fritsch als Schauspieler beteiligt.
Das Spiel mit der Macht
Die Volksbühne jener Jahre ist ein Theater- und ein Lebensstil. Ihre Ästhetik bildete sich als Antithese zu den cleanen Oberflächen des "Neuen Berlin" nach der Wende (und dem Sieg des Kapitalismus) aus. Das Echo dieser Ästhetik klingt auch in den Kurzfilmen von Herbert Fritschs Hamlet_X-Universums nach – ästhetisch, aber auch in seinem Versuch, den Stoff aus der Perspektive der Alltagskultur zu ergründen – und das Spiel mit der Macht, welches das Drama grundiert, aus der Sicht derer sichtbar zu machen, die sie erleiden: gemäß des berüchtigten Diktums eines (mafiös verstrickten) langjährigen italienischen Ministerpräsidenten namens Giulio Andreotti: "Die Macht verschleißt nur den, der sie nicht hat."
Projekt + Produktionsbedingungen
Über Hamlet X und die Produktionsbedingungen des Projekts an der Berliner Volksbühne und wie er selbst das Digitale für sich als Künstler entdeckte, wollen wir mit Herbert Fritsch reden: in der vierten Folge von "Performing Internet oder Wie das Theater ins Netz kam." Diese Reihe zur Geschichte von Theater und Liveness im Internet hat sich vorgenommen, die Geschichte von Theater und Internet an exemplarischen Projekten entlang zu erzählen. Wir befragen Zeitzeug:innen und Pionier:innen aus der Frühzeit der digitalen telekommunikativen Kunst und Performance, zeigen und diskutieren exemplarische künstlerische Arbeiten, aber auch ästhetische, philosophische und politische Fragen von Theater und Digitalität.
Ablauf:
19:30 Uhr Begrüssung und Einführung von Martina Leeker 19:35 Uhr Herbert Fritsch im Gespräch mit Esther Slevogt und Martina Leeker, zwischendurch gibt es kleine Einspieler aus Hamlet_X. Ende: 21:00 Uhr
Mitwirkende:
Herbert Fritsch ist Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner und Medienkünstler. Er gehörte von1992 bis 2007 als Schauspieler zum Ensemble der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin und war hier bis zum Ende der Intendanz von Frank Castorf auch als Regisseur erfolgreich. Parallel arbeitete Fritsch als Medienkünstler. Er entwickelte beispielsweise eine Fototechnik zur dreidimensionalen analogen Verzerrung, die patentiert wurde, und zeigte mehrere Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz mit Fotoarbeiten und Computeranimationen. Die Vernetzung der verschiedenen Künste und Medien in Fritschs Arbeiten mündeten im Jahr 2000 im intermedialen Kunstprojekt Hamlet_X. Dieses Projekt vereint fast alle Medien und Ausdrucksformen. Fritsch war in diesem Projekt Schauspieler, Film- und Theaterregisseur, Autor, Performer, Fotograf und Zeichner.
Martina Leeker (Priv.-Doz.) ist Medien- und Theaterwissenschaftlerin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Digitale Kulturen, Performativität und Digitalität, Kritische Medientheorie, Theater und Medien, Art and Technology, Mimesis, Kritik, Künstlerische Forschung. Sie ist Initiatorin des Respectful Nettheatre Cannel and unterichtet aktuell an der Universität Köln. Gemeinssam mit Esther Slevogt kuratiert sie die Serie zu Geschichte und Gegenwart von digitaler Liveness im Internet "Performing Internet oder: Wie das Theater ins Netz kam."
Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Neben ihrer journalistischen Arbeit schreibt sie Sachbücher zu theaterhistorischen Themen. Im Herbst 2023 erscheint ihr Buch Auf den Brettern der Welt. Das Deutsche Theater Berlin. Ein weiterer Fokus ihres Interesses ist der Veränderungsdruck, unter den alte Kulturtechniken wie das Theater durch die Digitalisierung geraten sind.
Hier geht es zum Stream
This event is part of the nachtkritik-series on history and present of theatre and liveness on the internet: PERFORMING INTERNET OR HOW THEATER CAME TO THE INTERNET Curated by Martina Leeker and Esther Slevogt.
Previous Episodes:
#1 Sputnik-Moments of Teleimmersive Cyberarts: The Work of Sherrie Rabinowitz & Kit Galloway #2 The Word as Body + Stage Or How Synchronous Chat Became Theatre – Juli Burk’s ATHEMOO (1995) #3 A second life in Second Life? Jo Fabians theatrale Experimente zwischen 2007 und 2009
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