Kolumne: Grand Guignol im Opernhaus - Über die Poesie der Geste im Realismus
Leos Tune
23. Mai 2023. Der International Style des Realismus erobert das Bühnenspiel. Gerade erst beim Berliner Theatertreffen, in "Das Vermächtnis" von Matthew Lopez, Regie von Philipp Stölzl. Wie sieht sein Instrumentenkasten aus und wie sticht er ins Herz?
Von Atif Mohammed Nour Hussein
23. Mai 2023. Klar, im Spiel der Menschen auf einer Bühne geht es immer um die Menschen selbst, ihre Beziehungen zueinander und zu der sie umgebenden nichtmenschlichen Welt. Was sonst?! Und doch scheint die Furcht zu steigen, dass trotz thematischer Vielfalt und multipler Perspektiven der ästhetische und erzählerisch-dramaturgische Zugriff verarme.
"Das Vermächtnis" von Matthew Lopez in der Regie von Philipp Stölzl. Deutschsprachige Erstaufführung am Residenztheater in München ist möglicherweise so ein Fall. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen. Das Stück als Hommage an das "literarische Vermächtnis, den alternativen Kanon einer Gemeinschaft, die sich als Gay-Community zu erkennen gibt. – Ein Vermächtnis, in dem Freiheit und Schmerz untrennbar verbunden sind". (Ewald Palmetshofer im Programmheft zur Produktion)
Zeit für Details
Die Vorstellungen der Münchner Inszenierung geben den Schauspielern netto mehr als fünfeinhalb Stunden Spiel-Zeit, um ihre Geschichten, ihre Charaktere zu entwickeln, auszubreiten, einen utopischen Wunsch zu formulieren. Alles in Rezensionen zigfach besprochen, fast immer mit dem Verweis auf die serielle Form des Erzählens, das Episodenhafte, HBO und Netflix übermittelten Grüße – den Link zu dieser Perspektive lieferte Philipp Stölzl bereits vorab. In achtzig Einzelszenen teile sich der Text, so heißt es. Hat 'mal jemand "Peer Gynt", die "Wallenstein"-Trilogie oder "Faust I&II" durchgezählt? Und verfuhren Ariane Mnouchkine mit "Le Dernier Caravansérail (Odyssées I&II)" (2003) und Robert Lepage mit "The Seven Streams of the River Ota" (1994/2019) nicht genau nach dieser Erzähltechnik? Und auch sie nahmen sich die Zeit – inklusive Pausen jeweils über sieben Stunden.
Viel Zeit, Details zu erkennen, Oberfläche wahrzunehmen. Im Schauspiel ist das selten.
Vergleiche ich das mit der Darstellung von Realismus im Puppenspiel, wird schnell klar, wir brauchen diese Zeit. Zeit, um aus dem Individuellen das Exemplarische, vielleicht universell Gültige erwachsen zu lassen. Eine Erinnerung an Lord Henry (aus Oscar Wildes "Das Bildnis des Dorian Gray") gespielt mit höchster Präzision, genauester Handhabung von Lars Frank, schiebt sich dazwischen. Die Puppe lebensgroß, ästhetizistischer Realismus. Ein letztes Telefonat zwischen Lord Henry und Dorian. Henry, daheim, vollständig in eine schwere Wolldecke gehüllt. Sein Diener nimmt ihm die elegante, schneeweiße Perücke ab – was bleibt, ist ein zarter, etwas erbärmlicher Flaum. Henry altert in Sekundenbruchteilen um Jahrzehnte. Dazu die Stimme dünner, fast transparent. Das Sprechen etwas verlangsamt, stockender. Knapper lässt sich Reales nicht fassen. Dieser skizzenhafte Zustand, in dem Puppe und Figur jetzt sind, ermöglicht, Lord Henrys Scheitern, Zerstörung und Selbstzerstörung zu erleben. Nichts bleibt.
Der International Style des Realismus
Im "Vermächtnis" funktioniert dieses sekundenschnelle Herstellen und Erfassen des Ist-Zustandes ähnlich. Hier sind offenbar alle Figuren exemplarisch, trotz der Differenzierung im Arsenal, der Besetzung und des Zugriffs durch die Schauspieler (Nicole Heesters eingeschlossen). Geschuldet ist das wohl einem "Populärem Realismus – dem International Style des gegenwärtigen Erzählens". Diese Begrifflichkeit geistert jetzt seit einigen Tagen durch meinen Kopf (Danke, Christian Rakow!). Dem International Style des Spielens müsste man* dann wohl auch hinzufügen.
Gesten der Innerlichkeit einer Figur. Gesten als nonverbale Kommunikation mit dem Publikum. Gesten als quasi-choreographisches Material – hier scheint keinerlei Übersetzung mehr nötig. Der transnationale Spiel-Fundus ist weit geöffnet und alle nutzen ihn.
Neben mir, in der zweiten Berliner "Vermächtnis"-Vorstellung, wurde während der ersten Pause leichter Unmut hörbar: "Siehst Du mich auch so?" fragt er seine Begleitung. Sie fragt zurück: "Was meinst du?" – "Diese Affektiertheit, diese schwulen Klischees. Das bin ich doch nicht." Bald wurde klar, er, auch Theaterprofi, ist nicht der größte Fan von Stölzl-Inszenierungen. Er war, beide waren gekommen wegen der Geschichte(n). Auch wegen der Erfolgsgeschichte des Stückes. Werbetrommeln klingen überall gleich. Später, in den weiteren Pausen, verwickeln wir drei uns in kurze Gespräche über Repräsentation, Theater und Vereinfachung, Kenntlichkeit und Abbildung und dergleichen … Einiges versöhnte ihn, anderes ließ ihn enttäuscht zurück.
Eine Figur sticht ins Herz
Und doch gab es ein tiefes Einverständnis: Eine Figur sticht ins Herz: Leo, der junge Stricher, der ab der Hälfte des "Vermächtnis" in den Kreis der Hauptfiguren aufsteigt.
Dessen gestisches Material ist auf vier Noten reduziert: die Neigung des Kopfes, der verspannte Körper, die verdunkelte, hohlere Stimme und der geradezu emblematische "Zwinker-Tick". Leos tune. Vier Noten. Mitunter situativ in anderer Reihenfolge oder mit einem längeren Atem gespielt – aber nicht grundsätzlich variiert. Der Grad an Perfektion den Vincent zur Linden dabei erreicht, ist fast überwältigend, irritierend. Dieser junge Schauspieler ist hier sein eigenes, sich selbst vollständig beherrschendes Instrument. In der Erzählung ist Leo das Symbol der Zurichtung durch Gesellschaft, hier der Brutalität des Kapitalismus, der Zerfall durch Krankheit nicht als systemische Folge anerkennt, sondern als individuelles Versagen. Und doch bleibt Leo eine letzte, kleine Erinnerung an Eigenständigkeit oder wie es Iris Därmann in "Undienlichkeit" beschreibt: "Menschen lassen sich nicht rest- und widerstandslos durch Gewalt dienstbar machen. Die Gewalt, die sie zwingt, beugt, bricht, zerstört, ist niemals absolut und vollkommen effizient. Widerstände des Sich-Undienlich-Machens und body politics des Undienlich-Werdens bilden Fetzen humaner Insistenz, hinterlassen Bilder, Zeichen, und Spuren einer bleibenden Gemeinschaft, die Lesbarkeit nicht verloren hat." – Allerdings, weder Text noch Inszenierung trauen sich das so zu benennen … Hingegen haben wir jetzt einen Ankerplatz für unsere Emotionen … Deutlicher noch wird Leos Bedeutung in den Beziehungen zu den weiteren Protagonisten Toby, Eric und Henry: Toby sieht in ihm, wie er enden wird: "Lebendig verbrannt in dem Feuer, das ihn verschlungen hatte, lange bevor jemand Hilfe holte, ein ganzes Leben, bevor Hilfe kam." Henry kann seine Sexualität weit abseits seiner bürgerlichen Fassade ausleben und dort lassen: "Bin ich verantwortlich für jeden Menschen, den ich je gefickt habe? Bin ich verantwortlich für jeden Menschen, dem du je begegnet bist? Du kannst nicht die ganze Welt retten, Eric." und Eric findet in ihm (Leo) das Initial für seine Bestimmung: "Ich versuche einen einzigen Menschen zu retten." – Puh, das ist harter, pathetischer Tobak. Eric, die einzige als jüdisch gekennzeichnete Figur, kommt mit dem Satz aus dem Talmud ("Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte." Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 37a)
Für Oscar Wilde war es da viel einfacher unseren Blick zu lenken: "Mein Gott! Sie haben ein wunderbar schönes Gesicht, Herr Gray." – Dramaturgisches Kalkül. Ab jetzt betrachten wir Dorian nur noch durch die Perspektive Lord Henrys. Wenn jetzt die Lord-Henry-Puppe den Kopf leicht schräg stellt, schauen wir mit ihm fasziniert auf Dorian. Wenn sie den Oberkörper leicht nach vorn verlagert, wollen wir Dorian ebenfalls näher sein. Eine Szene im Restaurant, wortlos mit viel Musik unterlegt, bei der beide nicht vom Aufgetragenen essen, keinen Schluck vom Wein probieren (Wie könnten sie als Puppen?), erinnert uns mit Übermacht an erste dates und wir verlieren uns in dem scheinbar überlebendigen Spiel der Puppen. Das funktioniert so direkt, so unvermittelt, weil jede Geste, präzise gewählt, eine Kopie tatsächlicher Körperlichkeit ist, wie wir sie jeden Tag, annehmen, beobachten, einordnen.
Doch wer spiegelt hier wen? Die Puppe mich oder ich sie? Ist Vincent zur Lindens Leo eine vergrößerte und gleichzeitig reduzierte Abbildung der Realität, wie unter einem Brennglas – wir sehen zwar jedes Detail aber der Zusammenhang geht verloren oder sehe ich, sehen wir das genau so, wenn wir durch die Straßen laufen? Nurmehr Details, abgeklopft auf ihre gestisch-erzählerische Tauglichkeit?
Nach dem Gang durchs Kunstkaufhaus
Die Sorge, oder vielleicht doch erst einmal die Feststellung, dass ein eingeschränktes Repertoire an Erzählformen und Spieltechniken unseren Blick auf Welt, auf soziale Interaktion, auf Veränderung verengt und so wenig mehr als die Perpetuierung des Immergleichen provoziert und dass einzig Substantielle sich in der Verschiedenheit der Sprecher*innen-Position anzeigt, mag nicht unberechtigt sein. Aber vielleicht müssen wir da jetzt durch. Vielleicht muss uns beim Gang durchs Kunstkaufhaus erst speiübel vor Überdruss werden, bis wir wieder zu der Forderung gelangen, "Kunst müsse die überkommenen Formen des Wirklichen, von der Politik bis hin zu elementaren Dingen wie Logik, Grammatik, Zentralperspektive und bürgerlichem Ich, zerschlagen und dann die Welt ganz neu entwerfen." (Moritz Baßler zum Credo der Avantgarde in "Populärer Realismus")
Im europäischen Biedermeier, mit seiner ausgeklügelten Fluchttaktik in eine bürgerliche Innerlichkeit, sicherten sich Menschen einen Notausgang über die Erahnung einer Moderne. Vielleicht hat der Populäre Realismus ja auch irgendwo einen Notausgang.
(Mit lieben Grüßen aus der Truman-Show.)
Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein
Atif Mohammed Nour Hussein
Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.
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