Wo die Bösen sind

12. März 2024. Schauspieler Jörg Hartmann hat mit "Der Lärm des Lebens" eine Autobiografie geschrieben. Dabei erfährt man nicht nur unterhaltsame Theateranekdoten und Wesentliches zum Schauspielberuf; Hartmann lässt die Leserinnen und Leser nahe an sich heran.

Von Christine Wahl

12. März 2024. Im jüngsten Dortmunder Tatort, "Cash", lud Jörg Hartmann als Kommissar Faber seine Kollegin Rosa alias Stefanie Reinsperger zu einer sehr speziellen Frustabbau-Therapie ein. Erklärungslos überreichte er ihr einen Baseballschläger, fuhr mit ihr zu einem Auto-Schrottplatz und schaute zu, wie sich die Kollegin Schlag für Schlag in das Befreiungsgefühl ihres Lebens hineindrosch. Hartmanns Gesicht erzählte in diesem Moment ganze Romane: minimalistische Mimik, maximaler Gehalt.

Jetzt hat der Schauspieler tatsächlich ein Buch geschrieben: "Der Lärm des Lebens". Und allerspätestens, wenn man auf Seite 176 angelangt ist, erscheint einem diese Szene wieder sehr plastisch vor Augen. An dieser Stelle des Buches absolviert Hartmann zusammen mit seinem Kommilitonen Hüseyin ein Vorsprechen bei Andrea Breth an der Berliner Schaubühne. Wir befinden uns in den Neunzigern, die beiden studieren Schauspiel in Stuttgart, und als Leserin hat man bis zu diesem Punkt schon viel über das Irrsinns-Engagement erfahren, das hinter diesem Termin bei der hochverehrten Regisseurin und Intendantin steckt. Man weiß, wie Hartmann und Hüseyin sich bei ihren Berlin-Besuchen abendelang in Schaubühnen-Nähe herumgedrückt und der Breth im benachbarten Ciao, dem Haus-Italiener des Ensembles, regelrecht aufgelauert hatten. Und wie sie dann – nachdem es ihnen tatsächlich gelungen war, eine überraschend ermutigende Begegnung herbeizuzwingen – ihr charmantes Stalking bei den Schauspielern Thomas Holtzmann und Rolf Boysen in München fortgesetzt hatten, weil deren Spiel ihnen von der Breth zum Studium anempfohlen worden war.

"Siehst du da eine Biografie?"

Nun also, auf Seite 176, der Moment: Der Schauspielstudent Jörg Hartmann tritt mit seinen vorbereiteten Rollen auf die Probebühne und ist kaum beim zweiten Satz, als ein deutlich vernehmbares "Stopp" ertönt. Sie sehe in seinem Spiel "überhaupt keine Biografie", teilt die große Breth ihm unumwunden mit und wendet sich an den jungen Starschauspieler des Hauses, den sie zur Verstärkung mitgebracht hat: "Und du, Uli? Siehst du da eine Biografie?" – "Nein, Andrea", antwortet Uli. "Ich sehe da auch keine Biografie."

Natürlich wurde, bevor jetzt hier Spoiler-Vorwürfe kommen, noch viel mehr gesagt – an dieser Stelle und überhaupt. Und jedes Wort lohnt die Lektüre. Aber von dem Weg, der zwischen "Ich sehe überhaupt keine Biografie" und Hartmanns sprechendem Gesicht im Dortmunder Tatort liegt, handelt "Der Lärm des Lebens".

Cover TscheplanowaDer reichliche 300-Seiter folgt nicht dem Trend zur Autofiktion, sondern ist tatsächlich explizit und handfest autobiografisch. Hier wird, mit anderen Worten, Tacheles geschrieben, mit Klar(vor)namen: Neben der Andrea und dem Uli (Matthes) tauchen auch der Thomas (Ostermeier) oder die Barbara (Frey) im dokumentarischen Figurenensemble auf. Und man hat beim Lesen nicht den Eindruck, dass der Autor diplomatische Kompromisse macht und sich verbiegt. Sein Ton ist höflich und respektvoll, klar, aber unumwunden, direkt, von sympathischer Ehrlichkeit. Hartmann stammt aus Herdecke, und die Ruhrpott-Seele, die sein Buch ausdrücklich feiert, verkörpert er natürlich auch selbst. "Gefallsucht und Gefallzwang waren zur Belastung geworden", notiert der Schauspieler einmal über seine Branche, "ich hielt die Wichtigtuerei immer weniger aus; mich nervte, dass sich jedes Theater, jede Filmproduktion als Nabel der Welt betrachtete, und mit ihnen jeder Intendant und Regisseur, jede Schauspielerin und jeder Schauspieler".

Im Korsett

Tatsächlich kommt im "Lärm des Lebens" vieles offener zur Sprache als man es gemeinhin kennt. Zum Beispiel über das Ringen des Schauspielers mit seinen Arbeiten an der Berliner Schaubühne, an die er ja letztlich – wenn auch nicht unter Breth, sondern erst mit dem Intendanzstart von Thomas Ostermeier 1999 – engagiert worden war. Wenn Hartmann das "Korsett"-Gefühl beschreibt, in dem er sich als Torvald Helmer in Ostermeiers jahrelang gespielter Erfolgsproduktion "Nora" wiederfand, weil der "exakt und präzise gearbeitete" Abend derart wenige Freiheiten zuließ, dass er aus Sicht der Beteiligten mehr und mehr zu einem "Theatermuseum" erstarrte, das "jede künstlerische und persönliche Weiterentwicklung" der Spielenden verleugnete, erfährt man, weit über das konkrete Beispiel hinaus, Wesentliches zum Schauspielberuf.

Auch zu aktuellen identitätspolitischen Diskursen, wie der Frage, wer welche Rollen spielen darf, hat Jörg Hartmann eine klare Position: "Wir machen diesen Beruf, weil wir mit ihm aus unserer Haut können, Neues begreifen, Fremdes, bestenfalls nicht nur um uns selber kreisen, doch wir schaffen neue Gräben, ein neues Klima der Angst, erschaffen eine Zensur, die früher nur von oben kam", schreibt er. "Wenn Theaterleute, egal ob oben oder unten, glauben, sie wissen, wo die Bösen sind, wenn sie einfache Antworten liefern, statt Fragen zu stellen und das Publikum durchzurütteln, dann verlasse ich den Saal!"

Ein Stück bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte

Der leidenschaftlich mit seinem Beruf verbundene Schauspieler, der aus diesen Zeilen spricht, ist aber auch einer, der ein Leben jenseits der Bühne hat. Und auch hierüber erfährt man überdurchschnittlich viel. Hartmann erzählt von seinen gehörlosen Großeltern unter der nationalsozialistischen Diktatur. Er lässt die Leserinnen und Leser nahe an sich heran, wenn er sie zu seinem dementen Vater ins Pflegeheim und später auf seine Beerdigung mitnimmt, oder wenn er vom Beziehungsalltag mit seiner Frau und seinen drei Kindern berichtet.

Beide Erzählstränge, der berufliche und der private, wechseln sich im Buch immer wieder ab und werden kontrapunktisch gegeneinandergesetzt. Innerhalb dieser Stränge geht Hartmann eher sprunghaft-assoziativ vor. Hier macht er eine Beobachtung, die ihn in seine Kindheit als Sohn eines Drehers und passionierten Handballspielers zurückversetzt und über die er en passant ein Stück bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte zu fassen bekommt. Da nutzt er einen einsamen Moment auf einem Auswärtsdreh als stilistischen Aufhänger für Grundsatzgedanken zum Dasein an sich, schwankt dabei zwischen dem ganz Großen und dem sehr Alltäglichen, zwischen länger gereiften Einsichten und im Suchprozess befindlichen Momentaussagen – und löst das Versprechen des Buchtitels, vom "Lärm des Lebens" zu berichten, mustergültig ein.

 

Der Lärm des Lebens
von Jörg Hartmann
Rowohlt Berlin, 304 Seiten, 24 Euro

Kommentare  
Hartmann-Autobiographie: Anekdote im Video
Jörg Hartmann erzählte die Anekdote vom Schaubühnen-Vorsprechen bei Andrea und Uli, die keine Biographie spüren, auch schon 2016 bei Inas Nacht.

Video bei Minute 9: http://www.youtube.com/watch?v=AB3Typ4cCiQ
Kommentar schreiben