Kolumne: Experte des Monats - Dirk Pilz über Totalitarismus und Theater am Zürcher Neumarkt
Wegschaffungswille
von Dirk Pilz
29. März 2016. Das Zürcher Neumarkt Theater soll weg. Es liegt ein Papier der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) und der Liberalen (FDP) vor. Darin wird die Abschaffung des Theaters gefordert. Nicht verdruckst, wie derlei sonst zu geschehen pflegt, sondern in aller unmissverständlichen Deutlichkeit. Das ist gut. Man weiß jetzt, woran man ist.
Man weiß jetzt, dass es im Denken dieser Parteien für Theater einen "Leistungsnachweis" gibt, den das Neumarkt Theater nicht erbringe. Man weiß auch, dass sie die Kunst- und Theatergeschichte wie die Technikgeschichte behandeln, nämlich nach den Parametern eines Fortschrittsdenkens. "Was einmal Avantgarde war", schreiben sie in ihrem Papier, "sind heute ausgetrampelte Pfade." Echte Avantgarde ist förderungswürdig, heißt das, ausgetrampelte nicht mehr. Wann immer ich künftig unsicher werde, ob ich es bei einer Inszenierung mit Avantgarde- oder Trampelpfadtheater zu tun habe, werde ich bei der SVP, CVP oder FDP nachfragen. Sie wissen Bescheid.
Das Überschreiten roter Linien
Aber in Wahrheit sind das natürlich vorgeschobene, lächerliche Argumente. Man könnte mit ihnen jedes beliebige Theater in Frage stellen, das Zürcher Schauspielhaus genauso wie die Wiener Burg oder die Münchner Kammerspiele. In Wahrheit geht es um Geld und Macht. Denn die Behauptung des Parteipapiers, das Neumarkt erhalte gemessen an seiner Platzkapazität so viel finanzielle Mittel wie weltweit kein anderes Haus, ist falsch, absichtlich gelogen offenbar, um etwas gänzlich Anderem den nötigen Glaubwürdigkeitsunterbau zu verschaffen: Das angeblich viele Geld werde, sagen diese Parteien, nicht nur an ein erfolgloses, sondern auch an ein gefährliches Theater vergeben. Ein Haus, das "rote Linien" überschreite. Die Aktion "Schweiz entköppeln" des Zentrum für politische Schönheit (ZpS) verletzte den "Anstand", die "gesellschaftlichen Grundwerte" und die "Humanität" in einer Weise, die weder mit dem Strafgesetzbuch noch mit der Kunstfreiheit zu rechtfertigen sei. Es geht diesen Parteien dabei darum, Kritik an Roger Köppel unmöglich zu machen. Kritik an einem Mann, der sich wiederholt als Aufwiegler, Menschenverächter und Fremdenfeind erwiesen hat, an einem Rechtspopulisten, der seinem Rechtspopulismus den Anstrich des Volksanständigen gibt. Ein Theater, das Leute wie ihn kritisiert, gehört weggeschafft. Das ist die Botschaft.
Man kann dem ZpS vorwerfen, stumpfe Eigenwerbung unter dem Vorschein politischen Theaters zu betreiben, man kann ihre Aktion auch geschmacklos, albern, dumm oder pubertär finden; überflüssig ist sie jedenfalls nicht. Man kann auch behaupten, dass es früher, als Christoph Schlingensief noch die Schweizer, Österreicher und Deutschen provozierte, alles viel klüger, besser, treffender gewesen sei; aber man sollte noch so viel Geschichtsbewusstsein zusammenkehren, darüber nicht zu vergessen, dass auch Schlingensief regelmäßig für dumm, pubertär und albern befunden wurde, übrigens nicht selten von denselben Leuten, die ihn heute in den heiligen Kunsthimmel loben. Die Verantwortlichen am Neumarkt mögen überdies bereuen, nach den existenzgefährdenden Querelen vor anderthalb Jahren, als das Haus schon einmal in Frage gestellt wurde, ausgerechnet einer skandalisierungswilligen Truppe wie dem ZpS die Türen geöffnet zu haben. Aber danach zu behaupten, die ZpS-Aktion sei bloße Satire gewesen, wie es jetzt Peter Kastenmüller getan hat, ist genauso lächerlich, zeigt jedoch, wie groß der Druck auf das Haus ist und wie weit die Macht der Parteien reicht: Sie zwingen die Beteiligten zur Selbstverleugnung.
Die bedrohte Demokratie
Auch zeigt der ganze Vorfall, wie unverfroren demokratische Selbstverständlichkeiten von der SVP-CVP-FDP-Union in Frage gestellt werden. Zur Erinnerung: Finanzielle Unterstützung für Theater sind keine milden Gaben der Herrschenden an kunstschaffende Untertanen. Es ist eine Staatsselbstschutzmaßnahme in Demokratien: Die gewählten Machthabenden geben Geld an die Künste, auf dass es in der Gesellschaft einen Raum gebe, der nicht von Partei- und Machtinteressen bestimmt ist. Der demokratische Staat schafft sich so ein Gegenüber, das ihm helfen soll, bei seiner Sache zu bleiben, bei einem politischen Geschäft, das durch sich selbst überzeugen muss, nicht durch Indienstnahme oder Gängelung der Künste und Künstler. Die SVP, CVP und FDP belegen mit ihrem Ansinnen wider das Neumarkt Theater aufs Deutlichste, dass sie gewillt sind, dieses Gegenüber abzuschaffen. Sie wollen die Macht und fürchten alle und alles, was ihrer Macht in die Wege kommt. Demokratisch kann das nur nennen, wer ein technokratisches Demokratieverständnis hat.
Was das bedeutet, lässt sich hervorragend an der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik studieren. Denn mit eben diesen Argumenten, mit den scheinheiligen Verweisen auf Leistungsnachweise, Humanität, Anstand und "rote Linien" wurde auch dort damals alles mundtot gemacht, was dem Parteiapparat zuwider war und gefährlich wurde.
Das alles erhebt die ZpS-Aktion nicht zur guten Kunst und das Neumarkt Theater nicht zum herausragenden Theaterhaus. Darum geht es hier auch nicht. Es geht darum, dass drei machtbewusste und einflussreiche Parteien ihre Macht und ihren Einfluss auf die Gesamtheit der Gesellschaft ausdehnen wollen. Das nennt man Totalitarismus.
Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.
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Es ist doch so: Ein vorsätzlicher Theaterskandal ist «sowas von Achtziger» und war - wie hier richtig angemerkt wird - auch bei Schlingensief schon eine ziemlich bemühte Pose.
Hier ein "unbequeme Wahrheiten aussprechendes Theater" - dort ein "Machtkartell, dass sich dadurch gestört fühlt" - ja, so hätten wir es manchmal gerne. Doch in meiner Welt gibt es das schon lange nicht mehr. Die Wahrheit ist doch: Es interessiert kein Schwein, wenn jemand beispielsweise wohlfeile Ressentiments gegen einen populistischen Politiker nochmals als Theater- und Kunstaktion ventiliert.
Hingegen interessieren sich viele Leute dafür, wie viele öffentliche Gelder wo hin fließen. In meiner Welt beobachte ich, wie Kantone und Gemeinden (bzw. Länder und Kommunen) ihre Ausgaben in allen Bereichen überprüfen und auch in empfindlichen Bereichen wie beispielsweise Bildung kürzen. Nur die Kulturbudgets wachsen (im Gegensatz zu unserer Wahrnehmung) an den meisten Orten weiter, kulturelle Angebote fächern sich immer vielfältiger auf - gleichzeitig treten neben bekannten Comedians auch schon Parteien auf, die eine generelle Abschaffung von Kultursubventionen fordern. Die Zahl der Menschen, die nicht (mehr) verstehen, warum und wofür Kultur überhaupt von der öffentlichen Hand gefördert werden muss, wird immer größer, analog zu den Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, "schau ich nicht, zahl ich nicht".
Das Denkmuster von den Mächtigen, die sich nicht in die Suppe spucken lassen wollen und deshalb Zensur üben, stimmt vielleicht für die Türkei - hierzulande greift es überhaupt nicht mehr. Es wird Zeit, dass sich auch die etablierten Häuser aus der Komfortzone hinaus bewegen und sich den unbequemen Fragen stellen: Womit rechtfertigen wir eigentlich eine Millionenförderung durch die öffentliche Hand? - Wer nicht weiß, was er darauf antworten soll, kann sich ja Rat bei den Kollegen aus der freien Szene holen. Die müssen sich das nämlich Jahr für Jahr aufs neue fragen.
Davon abgesehen, instrumentalisiert nicht auch Dirk Pilz hier die Aktion, um ebenso, nur anders als das ZpS, gegen "die Politik" zu wettern? Ja, sogar die "Totalitarismus"keule holt er raus, um was? Um ein Theater zu retten? Was ist denn hier jetzt totalitaristisch? Vielleicht eben gerade die Tatsache, dass sich hier alle nur über diesen inszenierten Theaterskandal aufregen und auslassen? Das und die Folgen für das Neumarkt muss sogar über einen sogenannten "Experten" medial kommentiert werden.
Das, was diese Volksparteien in der Schweiz da jetzt machen, das nennt sich (immer noch) Demokratie. Vielleicht könnten "wir" ja auch mal darüber nachdenken? Wo steckt da der Fehler? Warum wird ein rechtspopulistischer Politiker von Demokraten verteidigt? Das ist ja wie die Linke in Deutschland bzw. Thüringen, die die AfD verteidigt. Warum passiert das? Weil man diese Rechtspopulisten im Grunde braucht, um "das Böse" ganz klar "rechts" zu verorten? Aber ist das wirklich so klar zu verorten oder gibt's solche Haltungen wie sie Köppel vertritt nicht schon längst AUCH bei der Linken bzw. in der Mitte der Gesellschaft?
Und wenn die Aktion einfach vorgesehen verpuffen sollte? Exorzismus, das ist doch ein Witz. Wer glaubt denn (noch) an sowas. Solche Haltungen wie die Köppels, die kann man sowieso nicht exorzieren, weil sie ja eben gerade nicht dem Triebhaften entspringen (wie die Teufelsaustreiber noch glaubten), sondern der Vernunft bzw. dem Verstand. Diese Thesen Köppels, die sind doch wohl (leider) tatsächlich ernst gemeint und entspringen eben nicht einem Überschuss von Affekt bzw. Gefühl. Was soll man da also austreiben? Da kann man ja gleich auf einen Plastikfrosch drauftreten. Denn das Problematische ist doch, dass solche Leute wie Köppel dumme Menschen bzw. Menschen, die nicht viel über sich selbst nachdenken, mit ihren Thesen instrumentalisieren können. Bei Philipp Ruch sieht's ja erstmal auch danach aus, als halte er allein die Fäden der ZpS-Aktionen in der Hand. Aber wie man sieht, ist es nur Schein, dass er der Kopf bzw. (Ver-)Führer der vereinzelten Masse wäre. Wie schön das doch ist.
Ja, womit rechtfertigen wir eigentlich eine Förderung staatlicher Parteien durch die öffentliche Hand?
Was beweisen diese Politiker? Dass sie tatsächlich noch unkultivierter sind, als sie zu sein vorgeben. Sie haben nicht mal verstanden, dass sie mit ihrer "Begründung" mehr über ihre eigene Ignoranz gegenüber bürgerlicher Kultur beweisen als über das vorgeblich bedeutungslose und eingefahrene Theater, das ja eigentlich (auch in ihrer eigenen Begründung!) das genaue Gegenteil ist. Sie markieren das Ende des bürgerlichen Kulturlebens, das der größte Freiraum des Bürgers vor dem Staat ist.
Tatsächlich beanspruchen sie die Moderations- und Deutungshoheit aller gesellschaftlichen Diskurse für ihre Parteien und die Politik. Welche Hybris!
Meinungsfreiheit ist nicht verhandelbar und im Wesen nach absolut. Sollten sich Menschen durch eine Meinung beispielsweise verletzt führen, hat der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten vorgesehen, so z.B. Klage auf Verleumdung etc. Die von vorwiegend rechtspopulistischer Seite geführte Diskussion, wie weit Satire gehen darf, wird immer wieder gerne geführt, z.B. nach dem Attentat auf Charlie Hebdo und nun wiederum im Anschluss auf ein Video der Sendung Extra 3: Der betroffene Erdogan hat die Bundesregierung aufgefordert das im Internet kursierende Video zu Löschen (!) und zu verbieten. Es ist durchaus Zeichen von totalitären Systemen wie beispielsweise Sekten (ist die SVP eine Sekte?) missliebige Kritik zu verbieten und zu unterdrücken, sei es auch mit Gewalt. Dass sich die *liberale" FDP weiter rechts anbiedert ist mehr als bedenklich und zeigt nur wie weit der rechtspopulistische Virus der SVP schon infisziert hat.