Presseschau vom 2. Februar 2012 – Benjamin Korn schreibt in der Zeit über die "hellsten Sterne am Theaterhimmel" Hamlet und Alceste

Embryonen in Lebensgröße

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Embryonen in Lebensgröße

2. Februar 2012. "Ich weiß keinen andern Künstler, der über sein Reich so unumstritten herrscht wie Shakespeare", beginnt Benjamin Korn sein umfangreiches Zeit-Essay über die Welttheaterfiguren Hamlet und den "Menschenfeind" Alceste. Niemand könne Shakespeare das Wasser reichen, "schon gar nicht in Deutschland, in dem es nie einen wahren Komödiendichter gab". Auch für die deutschen Klassiker sei Shakespeare konkurrenzlos geblieben. "Neben ihm verblasste alles Bisherige, sogar das griechische Theater, das von ihm revolutioniert worden war."

Was bei Shakespeare der Überfluss an Gedanken- und Wortreichtum, an barocken Bildfindungen, an ungeheurer Freiheit des Ausdrucks, das sei bei Molière der Verzicht auf alles Überflüssige. Ökonomie. Konstruktion. Eleganz. "Man kann sagen, er ist in seiner Domäne ein nicht minder großer Könner als Shakespeare auf der Gegenseite."

Familienähnlichkeit von Brüdern
Warum also, fragt sich Korn, gibt es in Deutschland so viel Bewunderung für Shakespeare und so viel Verachtung für Molière? Es bestehe doch eine "erstaunliche geistige Verwandschaft" zwischen Molières "Menschenfeind" Alceste und Shakespeares Hamlet. "Sie haben die Familienähnlichkeit von Brüdern, die sich in fast allem unterscheiden." Hamlet sei zerebral und kalt, Alceste emotional und siedend heiß. "Das Seltsame: Der Tragödienheld ist witzig und der Komödienheld völlig humorlos." Beiden sei aber gemeinsam: "In einer idealen Welt wären sie vorbildliche Bürger, in ihrer Welt leiden sie ohne Ende." Alceste und Hamlet fühlten sich als Advokaten von Recht und Wahrheit auf dieser Erde. "Im Gegensatz zu Alceste, der sich trotzig dazu bekennt, verflucht Hamlet sein Geschick."

Einer gegen alle – diese Konstellation sei nicht neu. Neu sei aber, dass Molière wie Shakespeare für den untergehenden Einzelnen Partei ergreifen, "denn anders als die Götter, die keine Kritik dulden, wird die Gesellschaft, die nun ins Zentrum der Stücke rückt, von ihnen als fehlerhaft und bösartig frontal attackiert."

Die Begründung des modernen Theaters
In der Szene, in der Hamlet eine Truppe fahrender Schauspieler instruiert, die Geschichte der Ermordung seines Vaters nachzuspielen, wohnten wir "dem Übergang vom mittelalterlichen Mythos ins Zeitalter der Vernunft" bei – statt die vom Geist des Vaters geforderte Rache direkt zu nehmen, greift der "skeptische Mensch" Hamlet auf die Mittel des Theaters, "der Zeit den Spiegel vorzuhalten" zurück, um sich Gewissheit zu verschaffen. Hamlet, der Regisseur, Künstler und Schauspieler, sei das Alter Ego Shakespeares, der in dieser Szene nicht nur das moderne Theater begründe, sondern gleichzeitig die dazugehörige Theorie. "Sie wurde seither, von Diderot bis Brecht, ausgeführt oder erweitert, aber alles Wesentliche steht drin."

"Hamlet" und "Menschenfeind" seien die "philosophischsten" Stücke der beiden Autoren, weil sich ihre Titelfiguren so radikal der Frage: Wie soll der Mensch leben? stellten. "Wir wären zuweilen gern wie sie, couragierter, kühner, geistreicher als wir sind, nur den Preis der Vereinsamung würden wir ungern bezahlen." Und: "Das Publikum würde im wirklichen Leben Hamlet und Alceste auch nicht leiden können." Denn wir alle, die wir im Theatersaal die Partei Alcestes und Hamlets ergriffen, seien im wirklichen Leben die Konformisten, an deren dicker Haut und gleichgültiger Lebensbejahung sie zugrunde gingen. "Der Autor schickt seine Helden nicht nur stellvertretend für sich selbst auf die Bühne, sondern auch stellvertretend für die Zuschauer."

Wir Halbblinden
Nur im Theater geschehe das Verblüffende und Wunderbare: "Wir Halbblinden, die wir sonst die Konturen der Dinge und Menschen nur verschwommen wahrnehmen, sehn auf einmal klar – was wir uns in unserem Alltagsleben versagen, da es zu folgenreich wäre." Das sei möglich, weil in uns ein embryonales Wesen schlummere, "das weiß, was wahr und was falsch ist, und dem es wehtut, wenn wir lügen oder Gaunern Respekt bezeugen." Hamlet und Alceste seien solche Embryonen in Lebensgröße – "Wesen, die das Erwachsenwerden noch nicht abgetötet hat". Sie erinnerten uns an uns selbst. "Und ist das nicht der Zauber des Theaters, ein Ort der Wahrheit zu sein, an dem unser anderes, unkorrumpiertes und besseres Ich aufblühen darf?"

Alceste wird im Folgenden links liegen gelassen, zugunsten einer ausführlichen Analyse des zwiegespaltenen Hamlet: "Als Rebell würde er am liebsten die ganze verlogene Gesellschaft in Stücke legen, als Melancholiker wird ihm alles zu Asche." Und dann, zum Schluss, darf auch der "Menschenfeind" noch einmal auftreten, dem schließlich genau wie Hamlet "Schwermut das Gemüt verdüstert". Ihnen beiden, so Korn, "war das Glück nicht hold. Aber wir verehren sie. Am Theaterhimmel sind es die hellsten Sterne."

(Zeit / sd)

An der Berliner Schaubühne sind Alceste und Hamlet nicht nur seelenverwandt, sondern aus einem Fleisch und Blut: Lars Eidinger spielt dort sowohl den Menschenfeind als auch den Prinzen von Dänemark.

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