Die Unsichtbare - Christian Schwochow kultiviert Schauspielschul-Klischees
Vamp mit Wutmotor
von Matthias Weigel
Berlin, 6. Februar 2012. "Die Unsichtbare" wird es sich wohl gefallen lassen müssen, mit "Black Swan" verglichen zu werden. Letzterer Hollywood-Film von Darren Aronofsky aus dem Jahr 2010 zeigt Natalie Portman als unschuldige Balletttänzerin auf der Suche nach ihrer dunklen Seite, die sie in Tschaikowskys berühmten Ballett nach außen kehren soll. Der 1978 auf Rügen geborene Regisseur Christian Schwochow, der mit seinem Diplomfilm "Novemberkind" (2008) einige Preise abräumte, verfilmte nun mit "Die Unsichtbare" eine Art Pendant zu "Black Swan". Ein Pendant in zweifacher Hinsicht: Schwochows Film dreht sich um die Welt des Sprechtheaters, nicht des Balletts. Und: "Die Unsichtbare" ist ein (geförderter) europäischer Film, keine industrielle Hollywood-Großproduktion. Dabei ist "Die Unsichtbare" in mancher Hinsicht vielleicht viel amerikanischer als ihr Bruder "Black Swan".
Obwohl die unauffällige, mit Akzent sprechende Schauspielschülerin (schon ein Paradox in sich) Josephine beim Intendantenvorsprechen auf der Bühne einschläft, wird sie vom renommierten Regisseur Kaspar Friedmann (Ulrich Noethen) für sein neues Stück besetzt, das er allein mit Schauspielschülern stemmen will. Das Stück "Camille" soll von einem sexgierigen Vamp handeln, und ausgerechnet jene "unsichtbare" Josephine (Stine Fischer Christensen) bekommt die Hauptrolle, was unter anderem beim Schulleiter (Ulrich Matthes, die Rolle sichtlich genießend) Erstaunen auslöst.
"Sex ist wie Kuchen essen"
Warum Josephine zu den Proben meist zu spät und dann nur mit halber Kraft kommt, ist schnell erklärt: Daheim krümmt sich ihre behinderte Schwester Jule (Christina Drechsler) spastisch im Bett, die alleinerziehende Mutter ist latent überfordert. Josephine muss also auch daheim als Entertainerin ran. Und ihre Rollenarbeit schließlich sieht so aus, dass sie in Camille-Kostüm und -Perücke durch die Kneipen zieht, um Männer anzumachen – mit Original-Texten aus ihrem Theaterstück wie: "Sex ist für mich wie Kuchen essen." Da brauche man auch monatliche Abwechslung.
Auch in "Black Swan" erforscht Natalie Portman ihre schwarze Seite in Nachtclubs, zusammen mit einer exotischen Tänzerkollegin. Durch das exzessive Leben ihrer Ballett-Rollen verschwimmen nach und nach die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, Rolle und Tänzerin, ja sogar zwischen Portman und ihrer Nachtclub-Partnerin selbst. Durch die radikal-subjektive Fokalisierung auf Portman gerät der Zuschauer in die gleichen Wirrungen, kann sie nicht überblicken.
Mit Wutmotor durch den Bühnenstrip
Anders bei Christian Schwochow. Er greift mit vollen Händen in den küchenpsychologischen Setzkasten und entwirft vor uns ein Melodram, bei dem nichts ausgelassen wird: Josephine verliebt sich bei ihren Camille-Ausflügen in den Tunnelbauer Joachim, der nichts mehr von ihr wissen will, als ihr Rollenspiel auffliegt. Vom Regisseur Friedmann lässt sich Josephine entjungfern. Ihre unterdrückte Eifersucht auf die aufmerksamkeitsbedürftige behinderte Schwester soll sie als Wut-Motor auf der Bühne benutzen. Und schließlich verlangt der (gelegentlich alkoholisierte) Regisseur, dass sie sich auf der Bühne auszieht.
Darunter finden sicher auch einige starke (und bestimmt realitätsnahe) Momentaufnahmen aus dem Theaterbetrieb. Besonders wenn die Schauspielschüler-Schäfchen dem Reißwolf-Regisseur vorgesetzt werden: Da geben sich auf "Durchlässigkeit" trainierte Kinder einem Regisseur hin, im Glauben, durch größtmögliche Ergebenheit am besten zu handeln. Die dokumentarische Kameraführung mit gewollt unsauberen Zooms unterstützt den punktuellen Milieustudien-Charakter.
Typische Heldenreise
Aber irgendwann ist es der Keulen zu viel, mit denen geschwungen wird. Während man in "Black Swan" in einer Autopsie (also Selbstschau) immer mehr in das Innenleben der Hauptfigur hineingezogen wird, setzt Schwochow, der zusammen mit seiner Mutter auch das Drehbuch verfasste, immer noch einen obendrauf.
Dabei erzählt er letztendlich eine typische Heldenreise, "Die Unsichtbare" geht locker als Samstagabend-Degeto-Fernsehunterhaltung durch. Nachdem Josephine ihr angestammtes Umfeld verlassen hat, wird jedes sich anbietende Feld eifrig beackert, bis sie schließlich gereift und gewachsen "zurückkehrt" und hinter dem Premieren-Vorhang steht. Bei "Black Swan" bleibt offen, ob die Tänzerin in der ultimativen Erfüllung ihrer Rolle den Bühnentod stirbt. Als in "Die Unsichtbare" die ersten Scheinwerferstrahlen durch den Vorhang fallen, hat Josephine die Schlaftabletten längst hinter sich.
Die Unsichtbare
Regie: Christian Schwochow, Buch: Heide und Christian Schwochow, Kamera: Frank Lamm, Produzent: Jochen Laube, teamWorx.
Mit: Stine Fischer Christensen, Ulrich Noethen, Dagmar Manzel, Ronald Zehrfeld, Anna-Maria Mühe, Christina Drechsler, Ulrich Matthes, Ilja Plettner und Johannes Jürgens.
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Ach, stimmt...weil es in Deutschland niemand anderen gibt, der unverbraucht ist und es spielen könnte....stimmt ja...
what KOYAN wrote was meant to be sarcastic, yet it is quite... uhm... let's say: DEUTSCHTÜMELNDER, BESCHÄMENDER und LATENT RASSISTISCHER QUATSCH.
arrivederci.
Mit der Realität im Theater hat das glücklicherweise recht wenig zu tun.
stimmt, ich entschuldige den rassistischen Beitrag. Schauspieler sind ja auch Menschen. (Allerdings ziemlich dämliche, glaubt man der Darstellung im Film)...