Krieg und Frieden - Der Shorty zum Theatertreffen 2013
Lächerliche Schwäche
von Mounia Meiborg
Berlin, 8. Mai 2013. Würden sie gehen oder bleiben? Das war die Frage vor dieser "Krieg und Frieden"-Premiere beim Theatertreffen. In Recklinghausen hielten letztes Jahr nur wenige Zuschauer bis zum Schluss durch. Die Berliner und die Angereisten haben mehr Ausdauer: Der Saal ist noch etwa drei Viertel voll, als Schauspieler und Publikum sich kurz vor Mitternacht näherkommen.
Einer der Schauspieler spricht gerade einen jungen Mann im Publikum an, als ein älterer Herr dazwischenruft: "Wir wollen Tolstois Text hören und nicht dich!" Man könnte das als Pöbelei abtun. Aber die Frage ist berechtigt: Wie viel Tolstoi haben wir in den letzten fünf Stunden gesehen? Und wie viel wollten wir sehen?
"Krieg und Frieden" © Rolf Arnold
Der Regisseur Sebastian Hartmann hat sich aus dem 2000-Seiten-Roman das rausgesucht, was er für die "gedankliche Quersumme" (so der Beipackzettel) hält – und das ist offenbar eher der Krieg als der Frieden. Die Frage, warum Menschen kollektiv Verbrechen begehen, hat er ins Zentrum seiner Inszenierung gestellt. Andrej, der ehrgeizige Fürstensohn, etwa gesteht sich kurz vor seinem Tod ein, dass er nur aus Größenwahn Krieg geführt hat; dass er seine Frau verlassen hat, um stattdessen als Held von allen geliebt zu werden. Da steht er, im Gegenlicht auf der hydraulischen Bühne nur schemenhaft zu erkennen, und schreit seine Not heraus. Dieser Moment der Verzweiflung – die Selbsterkenntnis kommt ja zu spät – ist groß.
Aber sonst macht Hartmann den Roman über weite Strecken zur Farce. Die 14 Schauspieler überzeichnen die Figuren, die sie ständig wechseln, bis an die Nervgrenze und darüber hinaus. Da wird geschrien, gekalauert ("Jeder nur eine Fahne!") und an männlichen Brustwarzen gesaugt. Hartmann nimmt nichts ernst: nicht den russischen Nationalismus, nicht die Liebe, nicht die Sinnsuche des Protagonisten Pierre.
Tolstoi reicht ein Nebensatz, manchmal ein Wort, wenn er deutlich machen will, dass eine Figur gerade nicht ganz ehrlich ist oder etwas aus Eitelkeit tut. Hartmann benutzt dafür die Mittel des Theaters: hochgeworfene Arme, verstellte Stimmen, Slapstick. Bei Tolstoi mag man die Menschen gerade wegen ihrer Schwächen. Hier findet man sie lächerlich.
Der Applaus am Ende ist freundlich, mit ein paar Buhs und Bravos. Ein bisschen beklatscht man auch sich selbst. Fürs Durchhalten.
Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von Krieg und Frieden bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.
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Nach diesem Abend kann man nur froh sein, dass Hartmann Berlin/ dem Gorki erspart blieb. Warum jedoch eine solche Produktion überhaupt zu den TT eingeladen wird, vermag sich auch nach 5 Stunden nicht zu entschlüsseln. Das nächste Mal gehen wir einfach zusammen ins BE, soll auch lustig sein!
hab viel mehr spaß in der pan-am-lounge mit all den unfertigen vielstimmigen anregungen als bei dieser orientierungslosen schau von "großtaten"
Ich war am Mittwoch selber im Saal. Die Inszenierung war anstrengend, aber im positiven Sinne. Und ich habe sehr viel Text von Tolstoi wiedererkannt. Auch in den Szenen, wenn über das Thema Krieg philosophiert wurde.
Denn es geht im Stück nicht darum, ob man die Personen aus dem Roman mag oder nicht. Es geht um Krieg und da sind die eingesetzten Mittel nur konsequent. Wahrscheinlich hatten Sie einen unterhaltsamen Abend erwartet?
Ich kann jeden Leser nur empfehlen, den oben aufgeführten Link zu den Premierenkritiken von Recklinghausen zu nutzen und sich dort eine objektiven Eindruck von der Inszenierung zu machen.
Woher weiß Frau Meiborg das?
Im gestrigen Publikumsgespräch sagte Herr Hartmann das Gegenteil.
Ich habe die Inszenierung viermal gesehen und muss konstatieren, aus meinem bescheidenen Horizont heraus, dass sie das eindruckvollste Stück Theater ist, dass ich jemals gesehen habe.
Ich kann nicht beurteilen, ob hier aus Theatermitteln aus den 90ern zurückgegriffen wurde - damals ging ich noch nicht ins Theater - aber die Mittel, die hier eingesetzt werden, bringen mich dazu, hier tatsächlich von großer Kunst zu sprechen.
Noch nie haben für mein Empfinden Bühnenbild, Musik, Schauspieler und Regie so großartig zusammengewirkt.
Und wenn das hier keine eigenständiege Lesart sein soll, ja was denn bitte dann?
Vielen Dank an alle Beteiligten, ihr habt mein kulturelles Leben bereichert!
Davon abgesehen: Hartmann nimmt in meiner Wahrnehmung alles ernst, nur eben nicht durchgängig, sondern mit Brüchen. Auch Tolstoi hat seinen gepredigten Glauben ja immer wieder gebrochen und andere (besonders seine zahlreichen Frauen) dafür leiden lassen. Meine Assoziationen zur Ballerina und den Pappkartons nach der zweiten Pause waren Valie Exports bzw. Schlingensiefs Tapp und Tastkino und Oskar Schlemmers Triadisches Ballett. Die Computeranimation erinnerte mich an den schwarzen Monolithen (Glaube, Seele, Hör-Raum) aus Kubricks "Odyssee 2001", an das Thema Tod als Bild für gesellschaftliche Übergänge bzw. den Untergang von überlebten Gesellschaftsformen und an eine Art Sonde, ein Bild für die Toten vergangener und gegenwärtiger Kriege.
"Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei,
du warst hier, und wir war'n frei
und die Morgensonne schien.
Alle Türen war'n offen, die Gefängnisse leer.
Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr.
Das war das Paradies!"
(Ton Steine Scherben)
Ein Interview mit Jürgen Gosch aus dem Jahr 2004, auch über s. Hartman, nicht sehr schmeichelhaft für ihn. Mußte nach diesem elend langweiligen und quälend unintelligentem Theaterabend daran denken, wie sehr ich das Theater von Gosch vermisse
danke für Ihre Kritik, die für mich sehr aufschlussreich war. Denn ich habe mir die 1. Aufführung auch angesehen! Als Leipzigerin!!! Weil man ja irgendwann bei uns in Leipzig gedacht hat, wir, die mit dem Hartmann-Theater nichts anfangen konnten, wären hier alle blöd! Und "Krieg und Frieden" war noch der erträglichste Abend. Nicht zu vergessen "Mein Faust", "Macbeth"...
Umso aufschlußreicher, dass es Ihnen und den Berlinern ähnlich wie mir ging: lächerliches, pubertierendes Großgetue-Theater. Und was mir persönlich am peinlichsten an dem Abend auffiel, waren die Leipziger Claquere hinter mir (im Rang).
Also ich habe diesen Abend weder in Leipzig noch in Berlin gebraucht. Und wünsche Herrn Hartmann, dass er seine Stadt findet, die dieses so groß behauptende, aber inhaltlich doch sehr dünne Theater honoriert. Leipzig war es nicht. Berlin nach der Aufführung zu urteilen wohl auch nicht?
sprechen Sie eigentlich für alle Leipziger? Denn: "Weil man ja irgendwann bei uns in Leipzig gedacht hat, wir, die mit dem Hartmann-Theater nichts anfangen konnten, wären hier alle blöd!"...
Ich konnte und kann dem Theater Hartmanns durchaus einiges abgewinnen. Und ich bin auch Leipziger, wenn auch vor Jahren zugezogen. Wenn Sie also nicht über einen Auftrag des "Leipziger Publikums" verfügen, dann belassen Sie es doch in Zukunft dabei und sprechen einfach nur für sich!
P.S.: Ich war auch in Berlin, Claqueure aus Leipzig habe ich keine gesehen. Jedoch ein relativ begeistertes Berliner Publikum.
ich bin auch Leipziger und habe die Inszenierung mehrfach im Centraltheater gesehen. Das Haus war immer voll und das Publikum aufmerksam und größtenteils begeistert bis zum Schluss. Für wen sprechen Sie?
Zur Inszenierung kann ich nur meine Worte vom letzten September wiederholen:
Großartige Schauspieler, fantastische Musik, gewaltige Bilder und eine beeindruckende Umsetzung dieses Romanes. Dieser Theaterabend hat es in sich, besonders wie mit den zentralen Fragen ungegangen wird: Warum Krieg und kann man ihn nicht verhindern.
...und Claqueure, jedenfalls am ersten Abend, waren auch im Parkett zu entdecken.
Sicherlich einer der schwächsten und überflüssigsten Einladungen zum Theatertreffen 2013.
Es verwundert, dass sich die Jury durch das Bühnenbild hat so blenden lassen.
Über Entscheidungen einer geblendeten Jury mag ich nicht rechten, aber Beitrag 13 scheint mir einer der schwächsten und überflüssigsten in dieser Kommentarleiste zu sein.
Zum Stück:
Ich habe viele Originaltexte erkannt und die Themen des Romanes in einer eigenwilligen aber überzeugenden und beeindruckenden Weise vermittelt bekommen. Eine Musik, die sich großartig einpasst und die Inszenierung unterstützt. Ich würde gern mehr davon sehen.
Danke!