Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Wolfgang Behrens überlegt, welche Formulierungen er für die Theaterkritik auf den Index setzen würde
Wunderbar wegkürzen
von Wolfgang Behrens
15. Juni 2021. Als am 18. März 2020 die Kanzlerin ihre Fernsehansprache zum ersten Lockdown hielt, hatte ich das seltene Vergnügen, die ZDF-"heute"-Sendung gemeinsam mit einer ehemaligen "heute"-Redakteurin anzuschauen. Nach ca. 14 Minuten sagte Petra Gerster, die Nachrichtensprecherin an jenem historischen Tag, den bedeutungsschweren Satz: "Das Corona-Virus hat auch Frankreich fest im Griff." Ohne eine Sekunde des Zögerns entfuhr es da der ehemaligen Redakteurin auf dem Sessel neben mir: "Steht doch auf dem Index!" Ich sah sie entgeistert an, worauf sie erklärte, dass es zu ihrer Zeit für die "heute"-Redaktion eine Liste mit verbotenen Formulierungen gegeben habe. "Fest im Griff haben" habe darauf gestanden, aber auch das Wort "stattfinden". Zum Beispiel.
Sofort ging bei mir das Kopfkino los: Vermeide "stattfinden", wenn du ausdrücken möchtest, dass derzeit in Venedig die Biennale stattfindet! Und sofort fiel mir einer der nachtkritik-Redakteure aus meiner Zeit als Kritiker ein, der auf jeder zweiten Redaktionskonferenz postulierte, dass in Kritiken "starke Verben" zu verwenden seien. "Stattfinden" aber ist ganz sicher kein starkes Verb, da hatte der ZDF-Index schon recht. Also sagt man wohl besser statt "Noch bis übermorgen findet in Venedig die Biennale statt": "Die Biennale in Venedig wälzt sich ihrem Ende entgegen." "Wälzen" ist doch ein schönes starkes Verb.
Natürlich gibt es auch im Kritiker-Milieu Formulierungen und Wörter, die man besser nicht gebraucht. Ein Theaterzeitschriftenredakteur zum Beispiel vertraute mir einmal an, dass bei ihnen das Wort "wunderbar" grundsätzlich herausredigiert werde. Wunderbar! Und mein hochgeschätzter Ex-Kollege Matthias Weigel hat einmal ein Bullshit-Bingo mit besonders doofen Theaterkritik-Wendungen zusammengestellt, von denen ich sicher 81,25 Prozent regelmäßig verwendet habe. Seltsamerweise fehlt bei diesen Phrasen das Wort, das ich am ehesten auf den Kritikerindex setzen würde. Ich meine das Wort "radikal".
"Radikal!" Wenn ich das schon lese! Ich kriege dann meist sofort so 'nen Hals! Reicht es den Damen und Herren des kritischen Geschäfts denn nicht, wenn eine Regisseurin einen Theatertext "skelettiert"? Nein, es muss natürlich "radikal skelettiert" heißen! Was mich daran kolossal nervt, ist, dass darin bereits ein so billig wie möglich zu habendes Werturteil enthalten ist: Wenn sie es radikal gemacht hat, dann ist es in jedem Fall gut. Weitere Begründungen können entfallen. "Radikal gekürzt"? Bravo! "Radikal entkernt"? Toll! "Radikal vergeigt"? Na, wenigstens radikal.
Noch schlimmer allerdings ist, dass das Wort im Grunde eine Übernahme aus der Selbstauslegungsprosa der Künstler*innen ist. Diese nämlich sichern sich nur zu gerne damit ab (oder lassen sich von willfährigen Exegeten damit absichern), dass dasjenige, was sie tun, "radikal" ist. Damit können sie jeden Einwand parieren, Denkfaulheit und mangelnder Komplexitätswille werden bemäntelt, der Kunstgegenstand wird durch das Wort gleichsam unangreifbar. Auf die Frage "Warum passiert in der Performance vier Stunden lang immer nur das Gleiche?" genügt die Antwort: "Das ist das Radikale daran!" Das als Kritiker*in nachzubeten übernimmt einfach nur die Sichtweise der Kunstproduzenten. Die radikale Langeweile, der man sich durch solcherart Kunst als Rezipient oft ausgesetzt sieht, wird mittels eines einzigen Wortes in eine Stärke umgelogen.
Ich fände es ganz wunderbar, wenn häufiger mal wieder eine Kunst stattfinden würde, die weniger radikal als vielmehr ambivalent wäre. Nicht radikal eindeutig, sondern radikal vieldeutig. Eine Kunst, die den Reichtum der Mittel sucht und nicht die selbstverordnete radikale Armut. Und wunderbar fände ich es auch, wenn das Wort "radikal" diejenigen, die über Kunst schreiben – seien es Kritiker*innen, Dramaturg*innen oder Kurator*innen –, weniger fest im Griff hätte.
PS: Und falls Nachfragen kommen sollten: Ja, ich habe das Wort "radikal" auch schon oft benutzt. Interessanterweise als Dramaturg häufiger denn als Kritiker. Honi soit qui mal y pense...
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens über seine Sehnsucht nach einem alle Identitäten hinter sich lassenden universalistischen Dialog.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr Kolumnen
meldungen >
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
neueste kommentare >
-
Kultursender 3sat bedroht Kontaktformular
-
Neumarkt Zürich Klage Was wäre die Alternative?
-
Neumarkt Zürich Klage Jens Balzers Essay
-
Der Reisende, Essen Variation
-
Neumarkt Zürich Klage Kopf auf Füße
-
3sat bedroht Mehr Vielfalt
-
euro-scene Leipzig Arnas Kinder
-
euro-scene Leipzig Kuratorische Unwucht
-
euro-scene Leipzig Tendenziös
-
euro-scene Leipzig Versuch einer Antwort
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
doch vieldeutig
in radi-kahler armut
ist viel annut enthalten
sagt er zu almut
die armut der anmut
ist das radikale daran
ihre beziehung zu mir
ist radikal vergeigt
auseinander geneigt
und radikal verkürzt
sagte er sich wiederholt
radikal skelettiert!
und viel zu wenig
frit-tiert-fairtiert!
findet sie denn das wunderbar?
bin ich denn ein narr
auf und ab hin und her?
liebe die nicht sattfindet!
sie hat keinen von uns
fest (und fett) im griff
Danke für die wunderbare Kolumne, Herr Behrens.
Über die "starken Verben" musste ich lachen, da ich mich selbst regelmäßig immer wieder an die Aufforderung zur Verwendung selbiger erinnere. Hilft nicht nur in Kritiken.
->es bräuchte überhaupt keinen Index, wenn mal exakt an diesem Aspekt selbstkritisch gearbeitet würde und Überlegungen angestellt würden, wie dieser Lobbywahn durchbrochen werden kann… Mir scheint es mangelt grundsätzlich an Verantwortungsgefühl gegenüber denen, die Kritiken lesen, denn allein die Macht des gedruckten Wortes eines vermeintlichen Experten beeinflusst… der Theaterklüngel vergisst einfach, dass die meisten Zuschauer einfach „nur“ gern mal ins Theater gehen und eben nicht zu den Insidern gehören - ergo sämtliche kulturpolitischen Interessenskonflikte der Intendanz und Presse überhaupt kaum auf dem Schirm haben und die Zusammenhänge oder Hintergründe oft nicht erkennen können- z.B. die Kritik, die willfährig den „Werbetext“ des Programmheftes und die Verkaufsargumente der KünstlerInnen selbst, unkritisch übernimmt und dabei in Kauf nimmt, dass die Regie und Intendanz sein allgemeines Publikum mehr als ein notwendiges Übel, eine rein ökonomisch zu betrachtende Masse wahrnimmt…sie werden damit aber entmutigt eigenständig inhaltliche&künstlerische Haltung zu erschließen und ggf auf völlig andere Kriterien stoßen, die eine „poetische“ oder „belanglose“ Theateraufführung ausmachen als die Modedesigner (RegisseurInnen)und ihre Sponsorschaft (Theaterleitung&sprieße)… verhindert wird dann, dass Zuschauer Einfluss auf den zeitgenössischen Theaterdiskurs haben(Spielerinnen und Publikum-> Energien&Atmosphäre//Transzendenz)… ich laß keine einzige Kritik geht auf die Eigenschaft ein, die Theater von allen anderen Kunstformen unterscheidet: die realen Spannungen oder auch Unterspannungen (das was ich als den wesentlichsten Bestandteil des Theatermoments bezeichne, nämlich die Kommunikation zwischen Publikum und SpielerInnen, die einerseits nur zustande kommt, wenn Regie, Theaterleitung und Presse anerkennt, dass das Publikum durchaus denselben Anspruch auf die Deutungshoheit hat wie sie selbst und aufhört sich einzubilden sie brauche den Betrachter nicht dabei verkennt der Klüngel, dass es sich um eine kritische Masse handelt, der es aber wegen der Klüngeleien verwehrt ist zu erkennen, dass „qualitativ wertvolle“ Kritik der Lobbykritik gewichen ist und sie eigentlich für dumm verkauft werden- scheiße wird für Gold verkauft, womit die Nachfrage keinen Einfluss auf die Qualität des Angebotes hat, da es den „Anbietern“ undenkbar erscheint dem Publikum mehr als nur die Rolle des Konsumenten zuzuweisen,sodass es im Zuschauerraum so wirkt als gäbe es ein Einverständnis mit der Mittelmäßigkeit- solange es technisch gutgemacht und stylisch anmutet… weder Kritik noch die Leitung machen sich die Arbeit (oder unterschätzen einfach nur) Atmosphären im Raum und zwischen den SpielerInnen zu beschreiben oder gar zu erkennen das gerade das was nur subjektiv spürbar/ erfahrbar ist der moderesistente und unsterbliche Wesenszug der Theaterarbeit ist und die banale Sehkraft das wesentliche Erlebnis nicht wirklich vorstellbar macht sondern bloß das nacherzählt, was auf die konsumfreudige Schaulust abzielt… sprachlich einzufangen wie und ob es einem Abend gelingt die Realität und Phänomene moderner Gesellschaften seiner Zuschauer zu hinterfragen etc hängt oftmals von den kulturpolitischen Zuständen und dem Wohlwollen der Kritik selbst ab- also danach zu fragen ob und wie SpielerInnen und Zuschauer in Beziehung zu zueinander stehen und dabei die Relevanz der Zuschauer und ihr Verhalten/ ihre Energie in der Kritik zu verdeutlichen anstatt besonders aus dem Applausverhalten darauf zu schließen, wie das Publikum etwas aufnimmt und kaum unterscheidet, dass Premierenpublikum oft nicht repräsentativ is… Hier wird im Grunde ein einfaches Problemchen wieder mal unnötig und ablenkend dramatisch aufgebauscht…