Medienschau: Der Spiegel – Sivan Ben Yishai über den Krieg in Nahost

"Unsere Theater sind zu Memes geworden"

"Unsere Theater sind zu Memes geworden"

17. November 2023. Die aus Israel stammende und in Berlin lebende Dramatikerin Sivan Ben Yishai hat dem Spiegel ein schriftliches Interview zu den Anschlägen der Hamas auf Israel und der aktuellen Situation im Nahost-Konflikt gegeben.

In ihrem Stück "Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)", das 2021 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde und 2022 mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet wurde, hatte sich die Dramatikerin dezidiert mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinandergesetzt.

Sie habe "tagelang nicht geschlafen", sei "völlig fertig" – und ein Ende nicht in Sicht, antwortet Sivan Ben Yishai im Spiegel auf die Frage des Interviewenden Wolfgang Höbel, wie sich ihre eigene Sicht auf den Konflikt nach den Terrorangriffen der Hamas verändert habe. "Das Grauen eines schutzlosen Körpers, der weiß, dass er angegriffen und abgeschlachtet wird", lasse sich nur schwer vorstellen.

"Normalerweise", so Ben Yishai, "betrachte ich es als meine historische Pflicht als weiße, jüdische Israelin, die palästinensische Perspektive zu betonen, über den Alltag der Besatzung zu sprechen und über die vielen Arten, wie sie die palästinensische Gesellschaft zerstört und die israelische korrumpiert. Aber wollen wir nun wirklich den grauenhaften Bildern des menschlichen Leids ein #freepalestine hinzufügen? Das ist brutal, hartherzig und grausam."

Derzeit versuche sie, schreibt die Dramatikerin, sich , "von lautstarken Positionierungen, schnellen Schlussfolgerungen und eingängigen Hashtags fernzuhalten. Denn: "Die Debatte entzündet sich, wird zur Frage von Leben und Tod, alle Beteiligten sind verzweifelt bemüht, sich entlang der Achsen des Diskurses zu positionieren und wollen mit ihrer Ansicht gehört, geliket und gepostet werden. Dann ziehen sie weiter zur nächsten aufflammenden Debatte. Wir, die Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, bleiben. Wir, Muslim:innen, Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt, bleiben. Für uns gibt es kein Weiterziehen."

Mangelnde Auseinandersetzungstiefe und Differenzierung beobachtet Ben Yishai nicht nur in den (sozialen) Medien, sondern – in anderer Weise – auch im Kultur- und Theaterbetrieb. "Eine befreundete palästinensische Künstlerin, die mit einem Berliner Theater an einem Monodrama über die palästinensische Dichterin Dareen Tatour gearbeitet hat, bekam gerade die Nachricht, dass die Produktion abgesagt wurde", berichtet Ben Yishai und schlussfolgert: "Wir sind zu Memes geworden, unsere Theater sind zu Memes geworden. … Aus meiner Sicht stellt dieser typisch konfliktscheue Ansatz deutscher Medien und Kunstinstitutionen ein kolossales Scheitern vor der Aufgabe dar, eine Plattform für eine breite, kritische, analytische Diskussion zu schaffen."

Wolfgang Höbel fragt die Dramatikerin auch direkt: "Was halten Sie von den Reaktionen auf den Straßen Neuköllns, wo Menschen mit Vorfahren aus arabischen Ländern den Terror zu feiern schienen?". Sie schreibe von ihrer "geliebten Wohnung im wunderbaren Stadtteil Neukölln aus", antwortet Ben Yishai darauf, "jenem Kiez, der mir vor elf Jahren als armer Immigrantin ohne Einkommen und Arbeitserlaubnis ein Zuhause geboten hat." Und weiter: "Ich kann kaum glauben, dass in Zeiten, in denen man mit einem antisemitischen Flugblatt in der Hand und 25 unbeantworteten Fragen eine Wahl gewinnen kann, die diskursive Hegemonie in Deutschland immer noch darauf besteht, dass – nach der Ermordung meiner sechs Millionen Großmütter und Großväter und dem sichtlichen Erstarken der AfD – meine größte Angst meinem Nachbarn oder meiner Nachbarin gelten sollte." Die Wahlergebnisse in Hessen und Bayern machten ihr "beträchtlich mehr Angst als der Jubel in Neukölln". Ohne Zweifel, so die Dramatikerin, gebe "gewalttätige Extremisten". Und: "Natürlich sind sie gefährlich, da mache ich mir nichts vor. Aber Gewalt macht mir viel mehr Angst, wenn sie im Bundestag auftritt als mit Baklava auf der Sonnenallee."

(Der Spiegel / cwa)

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