Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin) - Nationaltheater Mannheim
Blut, das zu Tinte wird
24. Juni 2021. Das neue Stück von Sivan Ben Yishai erzählt eine vielstimmige Geschichte von Verfolgung, Verbrechen, Verzweiflung, Flucht, Tod, Überleben, Krieg und wieder Krieg. Im Zentrum von Marie Bues Inszenierung: ein gruseliges Zombie-Schwadron.
Von Esther Slevogt
24. Juni 2021. Eine zentrale Frage des Abends ist zum Beispiel diese: "Aber was tun, wenn das frische Blut, das aus den Wunden der Vergangenheit kommt, zur Tinte wird, mit der die Geschichte geschrieben wird, die parallel dazu beginnt?" Die Wunden der Vergangenheit, von denen hier die Rede ist, konnten unter den nie gewechselten Verbänden (sie stinken nach verfaultem Blut, Zyklon B, Meersalz und Massengräbern, erfahren wir) nicht verheilen. Die Verbrechen haben die, die sie überlebten, fatal programmiert und in die Hölle der ewigen Wiederkehr dieses Traumas verbannt.
Flug durch die Geschichte
Das ist in etwa die These, von der aus die Dramatikerin Sivan Ben Yishai in ihrem Stück "Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)" zum spektakulären wie surrealen Flug ihrer Protagonistin durch die Geschichte ansetzt. Es beginnt (und endet) in der israelischen Stadt Jaffa des Jahres 2014 und dem Mord an einem arabischen Jungen durch israelische Jugendliche, die damit einen Mord an drei jüdischen Jungen durch die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden rächen wollten. Die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden sind eine Unterorganisation der Hamas, die das Existenzrecht Israels ablehnen. Weitere Stationen sind das Deutschland des Jahres 1938, Russland im 2. Weltkrieg, das Gründungsjahr des Staates Israel und der Meeresgrund, wo Fluchten bis heute immer wieder enden. Und immer wieder ist alles aufeinander bezogen.
Erzählt wird eine vielstimmige Geschichte von Verfolgung, Verbrechen, Verzweiflung, Flucht, Tod, Überleben, Krieg und wieder Krieg. Weil eben das Blut, das aus den nicht verheilten Wunden der Vergangenheit tropft, zur Tinte wird, mit der sie sich in der Gegenwart fatal fortschreibt. Begleiter der Protagonistin, die auf dieser Reise durch fast hundert Jahre Geschichte immer wieder in die verschiedensten historischen Rollen schlüpft und trotzdem stets dieselbe bleibt, ist ein deutscher Schäferhund, der "Shoa Shoa" bellt und mit dem die Protagonistin wie der Junge Bastian in Michael Endes "Unendlicher Geschichte" auf dem Drachen Fuchur durch die Zeiten und ihre unauflösbaren Widersprüche reist.
Panzer aus getrockneten Wunden
Auf der Bühne des Mannheimer Nationaltheaters, wo Marie Bues das Stück uraufgeführt hat, begegnen wir einem gruseligen Zombie-Schwadron. Halb sehen sie aus, wie in den Plastinats-Werkstätten Gunther von Hagens zusammengebaut, halb wie verfaulte Krieger der berühmten chinesischen Terrakotta-Armee: Leute, denen bei lebendigen Leib die Haut abgezogen wurde, und deren monströse Verletzungen im Zustand der Verwesung getrocknet sind und sich in Panzer verwandelten. Auch die Kalaschnikows, die sie immer mal wieder präsentieren, sind aus diesem verhärteten Verwesungsmaterial genommen: Es ist ein ziemlich kongeniales Bild, das die Künstlerin Moran Sanderovich mit diesen Körperpanzern, in die sie die Spieler:innen Tala Al-Deen, Samuel Koch, Nicolas Fethi Türksever, Rona Geffen, Patrick Schnicke und Sarah Zastrau gesteckt hat, hier für Sivan Ben Yishais krassen wie sarkastischen und geschichtsphilosophischen Ritt durch die Geschichte und ihr Fallout findet.
Séance und Schlachtfeld
Marie Bues teilt den Text, der aus sechs "Fraktalen" und einem Nachtrag besteht, unter den Mitgliedern der Zombie-Armee auf. Die Musikerin Rona Geffen reichert das Panorama atmosphärisch mit Liedern und jüdischen Gebeten an. Es ist eine Séance im Reich des Todes, in der sich die einzelnen Akteure immer wieder in neue Arrangements begeben, um die Geschichte in immer neuen Reflexionsschleifen zu beschwören. Mal sprechen sie chorisch, mal vereinzelt. Manchmal fallen sie zu Boden und liegen auf Shahrzad Rahmanis Bühne herum wie Tote auf einem Schlachtfeld.
Die Protagonistin des Stücks ist Sivan Ben Yishai selbst: die in Israel geborene Dramatikerin, die – von den eigenen Eltern misstrauisch beäugt – ins Land der Täter kommt, um hier Dramatikerin zu werden. Nun ist sie (wie zuerst Friedrich Schiller) Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Nationaltheater! Deutschland! "Bei meine gefillte-jiddische Arsch, Tochter!", sagt aber nun die Mutter. "Was wollen diese Leute wirklich von Dir? Sie bezahlen dich, um mit der Kippa auf dem Kopf dein Lamento herunterzubeten, ihren Antisemitismus mit deinem jüdischen Selbsthass zu füttern." Doch sie kennen die Deutschen, diese Eltern. Bald "schießt dir Johann in den Kopf, Friedrich schmeißt deine Knochen in den Graben und Christoph macht Seife aus Deinen Knorpeln."
Während der Part von Sivan Ben Yishai auf der Bühne von Samuel Koch dargestellt wird, ebenfalls ein Mitglied der gespenstischen Armee lebender Toter, taucht Sivan Ben Yishai per Video Einspielung auf. Sie sieht aus wie sie selbst, spricht aber die harten Texte ihrer Eltern, komisch, verzweifelt, paranoid, ängstlich. Und so jagt diese Autorin die Geschichte durch die eigene Biografie – und den eigenen Körper. Ist sarkastisches Medium, vielstimmige Erzählerin und Bühne für diesen monströsen Stoff. Ein Stück der Stunde, ein Stück des Jahres vielleicht sogar, klug und bildmächtig umgesetzt.
Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)
von Sivan Ben Yishai, Deutsch von Maren Kames
Uraufführung
Regie: Marie Bues, Bühne: Shahrzad Rahmani, Kostüme und Objekte: Moran Sanderovich, Musik: Rona Geffen, Video: Timo Kleinemeier / Christoph Schmitz, Licht: Björn Klaassen, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer.
Mit: Tala Al-Deen, Samuel Koch, Nicolas Fethi Türksever, Rona Geffen, Patrick Schnicke, Sarah Zastrau, Sivan Ben Yishai.
Online-Premiere am 24. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.nationaltheater-mannheim.de
Kritikenrundschau
Daniel Stender vom SWR2 (24.6.2021) findet diese Inszenierung "ekelhaft und großartig zugleich". Ekelhaft seien die Kostüme, großartig "alles andere", namentlich Samuel Koch in der Rolle der Autorin und der Auftritt der Autorin im Video selbst. Das Stück handle von Sivan Ben Yishai, die wie "eine Art jüdische Superheldin durch die Zeit reist". Was diesen Abend "zusammenhält, ist eine Remix- und Neustart-Ästhetik: Mehrmals wird die Handlung neu begonnen".
Sivan Ben Yishai präsentiere sich selbst, meint Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (26.6.2021) zum Stücktext. Dies findet der Kritiker wenig spannend: "Wir haben es wieder einmal mit einem jener postdramatischen Textteppiche zu tun, die seit gut zwei Dekaden inflationär oft geknüpft werden – nicht gerade zur Freude des Publikums, aber zum Zweck des gönnerhaften Kopfnickens all jener grau melierten Dozenten von Schreib-Studiengängen, die das immer Gleiche perpetuiert sehen wollen", urteilt er. Auch die Regisseurin folge diesen Pfaden, wenn sie mit live projizierten Bildern arbeite. Die Prosa-Passagen werden laut dem Kritiker "chorisch heruntergerattert". "Warum eigentlich suchen so wenige nach wirklich neuen Wegen im Abenteuerland namens Theater?", fragt Oesterreich sich, lobt aber die schauspielerischen Leistungen von Samuel Koch und Tala Al-Deen. Das Stück selbst bleibt für den Rezensenten aber "nur Stückwerk". "Oje!" ist der Ausruf seines finalen Urteils.
Eckhard Britsch im Mannheimer Morgen (26.6.21) sah einen "gewaltsamen Parforceritt", der "von nimmer heilenden Wunden der Holocaust- und Nach-Holocaust-Generationen" spricht - "vom Zorn über Gewalt und die scheinbare Notwendigkeit, selbst auf den Zug der Gewalt aufzuspringen." Das "mitunter Furcht erregende Stück" sei "zwischen Mysterienspiel, surrealer Vision und hartem Realismus" angesiedelt. Vielleicht, mutmaßt der Rezensent, könne nur aus Leiden an der Welt "eine Art Welttheater" entstehen. "Alles in allem: Sperrige Phantasien von Schmerz und Gewalt einer Autorin, die zweifellos durch ihre brutale Selbstentäußerung zu den originellsten, aber auch verwirrendsten Figuren der aktuellen Theaterszene gehört."
Hans-Ulrich Fechler fragt sich in der Rheinpfalz (24.6.21, 15:51 Uhr) anhand der "Nationaldichterin" im Titel: "Ist Sivan Ben Yishai größenwahnsinnig geworden?" Und antwortet sich selbst: "Größenwahnsinnig wohl nicht, aber egozentrisch ist sie schon, denn "Wounds Are Forever" dreht sich einzig und allein um sie." Gebrochen werde der Verdacht des Größenwahnsinns jedoch davon, wie gleichberechtigt alle Darstellenden, darunter die Autorin, auf der Bühne ständen. Das Stück begebe sich auf "eine phantastische Zeitreise", die nach einem Einstieg "allen Realismus und jegliche zeitliche Ordnung fahren" lässt. Der Fokus dieser "blutigen Münchhausiade" liege auf dem deutsch-israelischen Verhältnis. "Bei allem lustvollen Waten durch Blut, Schweiß und Tränen besticht "Wounds Are Forever" dabei durch Humor und Selbstironie."
Der Text sei weniger selbstreferenziell als "nach der Aufarbeitung der Geschichte fragend", so Barbara Behrendt über das Gastspiel bei den Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin im RBB (9.6.2022). Bues' Inszenierung allerdings empfindet sie als statisch, wenig strukturiert. "Die schönsten Momente sind jene, in denen die echte Sivan Ben Yishai als große Video-Projektion erscheint und ihre eigenen Eltern spielt, die sich über die Arbeit der Tochter bei den Deutschen beschweren. Da bemerkt man erst, wie viel böser Humor in diesem Text steckt – und spürt die offenen Wunden der Geschichte, die auch heute nur notdürftig verbunden sind. Diesem starken Text wäre für die Zukunft eine noch fantasievollere, irrere, plastischere Inszenierung zu wünschen."
"Es gibt viele Erkenntnisse, die man aus diesem Stück mitnehmen kann: Nicht nur einem Narrativ zu trauen. Selbstermächtigung nicht mit Rache zu verwechseln. Bei Dogmatismus abzuspringen. Auf den Glauben verzichten zu müssen, zwischen Guten und Bösen, Opfern und Tätern ließe sich immer eine eindeutige Linie ziehen", berichtet Katrin Bettina Müller in der taz (10.6.2022) über das Gastspiel der Produktion auf den Autor:innentheatertagen in Berlin. "Text und Inszenierung arbeiten mit vielen Unterbrechungen und Fußnoten. Pause und Neuanfang verlangen die Darstellenden immer wieder, wenn sich die Geschichte wiederholt in eine Sackgasse manövriert hat, aus der herauszukommen nur Gewalt helfen kann. Das wirkt auf die Dauer allerdings auch manieriert. Zudem sind die vielen Anspielungen auf historische Kontexte nicht immer verständlich, was der Rezeption des Stückes leider Abbruch tut."
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Zum Gelingen des Streams tragen auch die eindrucksvollen Kostüme der israelischen Künstlerin Moran Sanderovich und die pointierten Wortgefechte zwischen der Autorin in der Rolle ihrer Eltern und Samuel Koch als Ben Yishai bei.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/28/wounds-are-forever-sivan-ben-yishai-schillertage-mannheim-stream-kritik/