Medienschau: SZ – Wer leitet künftig die Berliner Volksbühne?

Ein Sanierungsfall

Ein Sanierungsfall

15. März 2024. In der Süddeutschen Zeitung denkt Peter Laudenbach über die Zukunft der Volksbühne nach. Diese sei "seit Jahren das am schlechtesten geführte Theater Berlins" und benötigt werde nach dem Tod ihres Intendanten René Pollesch nun ein "harter, möglichst unsentimentaler Schnitt". 

Schließlich seien nunmehr "alle Träume, die alte, legendäre Castorf-Volksbühne ließe sich irgendwie fortsetzen, zum Scheitern verurteilt", so Laudenbach in seinem Artikel. Bis es zu einer längerfristigen Neubesetzung der Intendanz kommen könne, müsse "irgendjemand mit sehr viel Erfahrung" das Haus als Interimsintendant leiten. Matthias Lilienthal sei so ein Kandidat, wie man von "Theaterkenner(n), Kulturpolitiker(n) und Leute(n) aus der Kulturverwaltung" höre. Für die Zeit danach habe man aus der Vergangenheit gelernt, dass weder ein "Event-Manager und Kunstbetriebs-Bluffer" à la Chris Dercon noch die "Stadttheater-Routine" eines Klaus Dörr der Volksbühne gerecht wurden. Gleichzeitig stehe die Intendanz von René Pollesch "für das Stolpern beim Versuch, die Castof-Volksbühne etwas modifiziert fortzusetzen".

Und während für Laudenbach mehrere denkbare Kandidat*innen wie Sebastian Hartmann (Kategorie "andernorts mäßig erfolgreiche Ex-Intendanten"), Kay Voges (hat gerade in Köln unterschrieben), Armin Petras ("keine große Lust" nach vorherigen Intendanz-Erfahrungen) oder Karin Beier ("Traumjob am Hamburger Schauspielhaus") wahrscheinlich ausscheiden, fällt das Augenmerk auf Nicolas Stemann. Dieser sei "als Intendant für das biedere Zürich etwas zu klug, zu politisch, zu radikal und künstlerisch zu avanciert" gewesen – was ihn "zu einem naheliegenden Kandidaten für die Volksbühne" mache.

(Süddeutsche Zeitung / jeb)

Kommentare  
Medienschau Volksbühne: Das Erbe nicht verraten!
Peter Laudenbach disqualifiziert sich bei seiner Reflexion über den Status quo und die Zukunft der Volksbühne Berlin, indem er Nicolas Stemann als Intendant eines herbeigeschriebenen "Neustarts" nach der un-/nötigen (?) Installation eines Interimsintendanten Matthias Lilienthal ausruft: Wieso sollte ein Herr Lilienthal als ehemaliger Chefdramaturg am selben Haus und späterer Intendant in München nicht die Ambition mitbringen, nicht für gleich fünf Jahre Intendanz an der Volksbühne SELBST geeignet zu sein??

Nein, Nicolas Stemann ist als Kandidat für dieses Amt ungeeignet, sofern auch der gegenwärtige Berliner Kulturstaatssekretär in dieser Causa demnächst nicht wieder den fatalen Fehler mangelnder Affinität und Street Credibility zur exzeptionellen Geschichte und Ästhetik der Berliner Volksbühne begehen will: Diese ist bekanntlich mit dem historischen Erbe von Piscator, Artaud, Brecht, Benno Besson, Heiner Müller, Einar Schleef, der russischen Avantgarde bzw. sozialrealistischer Dramatik verbunden, bis hin zur Ära von Frank Castorf und dessen Roman-Adaptionen russischer Epik, der sich als Ost-Deutscher eindeutig auf dieses Erbe berief bzw. daraus hervorging, und es teils postdramatisch weiterentwickelt hat. Kresnik, Schlingensief, Marthaler, Pollesch und Gotscheff bezogen sich neben Castorf am Rosa-Luxemburg-Platz - teils stärker, teils schwächer - genauso auf dieses historische Erbe einer marxistischen Wirkungsästhetik, weshalb sie für das spezielle Publikum der Volksbühne zu idealen Spielplan-Ergänzungen wurden und in der komplexen Kombination Theatergeschichte geschrieben haben. Es gab einen Grundkonsens aus bühnenpraktischer Verwandlung, Emanzipation, Schmerz, Schönheit und Erkenntnis.
Will man also nicht erneut riskieren, daß das Volksbühnen-Publikum wahlweise auf die Barrikaden geht oder mit den Füßen gegen einen - als nicht satisfaktionsfähig erachteten - Intendanten Stemann abstimmt, kann die künftige Weiterentwicklung nur mit einem oder einer Regisseur/-in nebst neuem Leitungsteam legitimerweise gelingen, der/die aus dieser marxistischen Verantwortungsethik heraus Theater macht, nebst geschichtsphilosophischem Anti-Kapitalismus und Non-Repräsentation.
Die gewachsene Statik der fünf großen Bühnen Berlins würde nämlich erheblich geschwächt und irritiert, wenn der/die Neue keine eindeutige Sozialisation, Ästhetik und Affinität zur linksradikalen Geschichte der Volksbühne mitbrächte und zur künftigen Programmatik der Volksbühne Berlin erklärte! Maximal geeigneter für die Post-Pollesch-Intendanz sind daher Regieführende, die sich heute noch intensiv und produktiv am Werk Bert Brechts abarbeiten sowie einer aufklärerischen Arbeiterkultur zugewandt sind, und darauf basierend, eine eigene (marxistisch/postdramatische) Ästhetik und Dramatik für ein 'Theater der Zukunft' entwickelt haben; wie es die oben implementierten Theatermacher der Geschichte der Berliner Volksbühne mit einem starken Rekurs auf Artauds "Theater der Grausamkeit" einschrieben. - Dies gilt bereits für die Wahl eines etwaigen Interimsintendanten, denn Matthias Lilienthal würde Nicolas Stemann ja im Schlepptau haben bzw. diesen mittelfristig als Nachfolger an der Volksbühne vorbereiten!

Mir gefällt indes die Idee, daß es langfristig jemand zwischen Mitte 40 und Anfang 50 wird, die/der noch nirgends ein Theater geleitet hat bzw. maximal Oberspielleiter war, aber eine Entschiedenheit auf der Bühne kraftvoll inszeniert, die von einer besonderen Eigenwilligkeit zeugt. ("Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär." - Heiner Müller) Es muß also unbedingt jemand mit DDR-Kindheit oder mit osteuropäischer Biographie werden, der/die das marxistische Erbe der Volksbühne Berlin keinesfalls verrät! Aber ein Ulrich Rasche, der in Bochum zu Zeiten von Frank-Patrick Steckel sozialisiert worden ist, ist auch sehr gut denkbar...
Medienschau Volksbühne: Monat bis zum Ausweiden
Wie steht's denn um Thomas Oberender?

So oder so finde ich es aber anstandshalber angemessen mindestens einen Monat (wo ein Trauerjahr vermutlich nicht geht) zu warten, bevor man sich in derlei Zukunftsfantasien über die Volksbühne ausweidet.
Medienschau Volksbühne: Volksbühne als Tanzhaus
Die zwingendste Idee, scheint mir, wäre die Verwandlung der Volksbühne in ein Tanzhaus. Es gibt mit Holzinger und Macras schon zwei Residenzkünstlerinnen. Dazu könnten viele jener tollen Koproduktionen und Gastspiele kommen, die jetzt zwischen Paris, Wien, Belgien usw. an Berlin vorbei gehen. Und es gibt in Berlin eine riesige Nachfrage danach. Auch in anderen Ländern wurden Schauspielhäuser in Tanzhäuser verwandelt. Weil es viel großartigen Tanz gibt auf der Höhe der Zeit, der auch in einer internationalen Stadt weniger Sprachbarrieren hat. Die Volksbühne ist als Raum toll für Tanz und sie hat schon viel Tanz mit großem Erfolg.
Bert Neumann und Rene Pollesch sind tod, Castorf ist weg und macht nichts wesentlich Neues mehr. Dort ist jetzt eine so zentrale Epoche der Theaterkunst an ein Ende gekommen. Bevor sich nun noch jemand an diesem übergroßen Erbe abarbeitet, wäre es klug etwas Neues anzufangen.
Und der moderne Tanz kommt viel zu kurz in Berlin. (Und nein, damit ist nicht Sasha Waltz gemeint). Also Volksbühne als Tanzhaus, mal groß denken und zugleich eine naheliegende Lösung.
Medienschau Volksbühne: Der Untergang
Tanzhaus? Hilfe! Das wäre der Untergang..
Medienschau Volksbühne: Keine Eindimensionalität
@2: Ja, wie angemessen und "schön" wäre es, mit dieser Debatte zu "warten". Aber vermutlich wird schon kräftig agiert hinter den Kulissen, sowohl bei der Senatsverwaltung als auch bei interessierten Kandidat/inn/en. Wir können uns das also wünschen, aber die Realität ist schon weiter. -- Hartmann und Petras sind sicherlich kluge, starke Köpfe, die sich wenig scheren um Marktgängigkeit. Oberender hat jedenfalls das Verdienst, Vinges/Müller "Nationaltheater Reinickendorf" ermöglicht zu haben. Sowas kann und will nicht jeder. Vor allem aber sollte man das Haus mitentscheiden lassen!!

@3: Diese eindimensionale Festlegung ist nicht nötig. Auch an einem starken - und wie in in #1 grandios charakterisierten - Sprechtheater ist sehr viel Platz für Tanz. Denken Sie mal an Kresnik bei Castorf. Da gab es sogar ein eigenes Tanzensemble. Man kann also beides parallel haben.

(...)

Insgesamt ist Laudenbachs Artikel leider von einer Giftigkeit getränkt, die mir seine Analyse mulmig macht. Man mag ja einiges beobachten dürfen, aber Anna Heesen als "Freundin von Martin Wuttke" zu labeln ist schon hochgradig problematisch. Auch liegt Laudenbach trotz meritenhafter Dercon-Recherche damals nun aber falsch, wenn er Renners Entscheidung in 2017 verortet. Wenn man als Kritiker derart auftritt, muss man sich fragen, wie schnell man den Rest des Artikels in die Tonne treten darf. Vorsicht!

(Anm. Redaktion. Ein Bezug auf einen vorherigen, nachträglich gelöschten Kommentar wurde entfernt.)
Medienschau Volksbühne: Vinge oder Holzinger
Mir fallen eigentlich nur Vegard Vinge oder Florentina Holzinger ein, die an die Radikalität der alten Volksbühne anknüpfen könnten, um doch völlig eigene Wege einzuschlagen.
Medienschau Volksbühne: Der leider nicht!
#1: Sascha Hawemann würde dieses Profil erfüllen. In marxistischer Tradition, Ost-Schule und Sozialisation, führt Regie und bis jetzt kein Haus, (über-)schreibt, Heiner Müller als Hausgott, kann Ensembles zusammenführen, Intellekt & Power… Einziger Haken: Der würde es nicht machen, weil er für Theaterleitung keinen Nerv hat. Schade, wäre schön.
Medienschau Volksbühne: Tanzhaus
@Alexander: Eine hervorragende Idee! Wenn ich Kultursenatorin wäre, würde ich das sofort umsetzen.
Ein Tanzhaus mit Holzinger/Macras als artists in residents und regelmäßigen Gastspielen anderer internationaler Choreograph*innen wäre eine Bereicherung für Berlin.

Es stellt sich nur ein Folgeproblem: Womit würde Matthias Pees nach schwacher erster Saison dann die Lücken in seinem Haus der Berliner-Festspiele-Spielplan stopfen?! Nach holprigem Beginn setzt er im kommenden Herbst/Winter auf Gastspiele bekannter Namen aus der Tanzszene. Aber ich bin zuversichtlich, dass Claudia Roth hier eine sinnvolle Nachfolge-Regelung finden würde.

So let´s go for it! Mehr Tanz in Berlin, in der Volksbühne und auf Nachtkritik!
Medienschau Volksbühne: Mit großem Radius suchen
Es ist schon lustig, wie hier alle möglichen Leute ins Gespräch gebracht werden - vermutlich, um sie auf diese Weise zu verhindern. Klar würde Lilienthal die Sache am professionellsten managen und wäre ein Garant für den Erfolg, aber das Haus, so weiß man, ist da gespalten. Holzinger, Macras und Kennedy wären eine wirklich tolle Ansage, aber können sie auch managen und wollen sie das? Als Alternative zu Pollesch wurde Fritsch gehandelt, er ist sicher weiter ein heißer Kandidat, und warum nicht einen der abgehalfterten Leute aus dem Kulturmanagement-Pool der Theaterrepublik nehmen, die hier oder anderswo an die Wand gefahren sind und das also schon hinter sich haben, also z.B. Hartmann, Oberender, Stemann, Petras oder am besten einfach den ewigen Peymann?
Aber im Ernst: Wäre nicht einmal ein gutes Verfahren, eine Findungskommission zu ernennen, am besten ganz ohne die üblichen Verdächtigen - von Bühnenverein und aus dem altgedienten Kollegenkreis - und sie in aller Ruhe und mit großem Radius jemand suchen zu lassen, der oder die diesen Panzerkreuzer in dieser Zeit wieder zu dem machen könnte, was er Mitte der 1990er-Jahre, in einer ähnlich epochalen Wendezeit, war?
Medienschau Volksbühne: Ost
Mir käme als Intendantin der Volksbühne eine osteuropäische Regisseurin in den Sinn, z.B. Ivana Sajko (Kroatien), Andra Teede (Estland), Katie Mitchell (Großbritannien / Ukraine), Simonida Selimović (Serbien) oder Anja Behn (Deutschland / Polen).

Immer diese Reproduktion der deutschen Platzhirsche ist kaum mehr zu ertragen und auch wenig Neues versprechend. Was Pollesch lieferte war ein Freiheitsbegriff, der nun wieder aus den osteuropäischen Glutöfen kommen muß! West ist nicht genug.
Medienschau Volksbühne: Zeit für eine Frau
Erstmal muss ich den bitteren Beigeschmack loswerden. Sicherlich hatte Pollesch eine schwierige Zeit an der Volksbühne in der Leitung, allerdings finde ich diese absoluten Aussagen (das schlechteste Theater) doch etwas übertrieben und auch geschmacklos.
Wenn man über eine neue Leitung nachdenkt, wäre es meiner Meinung mal Zeit für eine Frau an der Spitze der Volksbühne.
Holtzinger würde mir da zuerst einfallen.
Wenn ein Typ, dann bitte Ersan Mondtag, aber lasst bitte die Volksbühne verschont mit (...)

(Anm. Redaktion Eine übers Ziel hinaus schießende Invektive ist aus dem Kommentar gelöscht worden.)
Medienschau Volksbühne: Schauspieltruppe
Meine Güte, neben der Tatsache, dass diese Diskussion einfach nur geschmacklos ist so früh nach dem Verlust von Pollesch für das Theater, zeigt sich auch, wie geschichtsvergessen die ganze Runde ist.
Die Volksbühne sollte schon einmal zu einem Tanzhaus gemacht werden. 1989/90 wollte die Westberliner Kultursenatorin Anke Martiny genau das durchsetzen. Dazwischen kam ihr die Schauspieltruppe um Castorf und das Räuberrad ins Gehege. Die Volksbühne, das war nie Castorf allein. Das war die Truppe, der Ostschauspieler, das Spiegelbild enttäuschter Ex-DDR-Bürger – es waren die Räuber. Im Denken und im Spielen. Und davor war es das Schauspielertheater des Schweizers Benno Besson, wenn wir die 80er aussen vor lassen. Es war Theater vom Darsteller aus gedacht, vom Spiel und vom Subversiven dieses Akts. Noch vor den Castorfs Russenbearbeitungen war es Marthalers "Murx ihn", was Berlin aufrüttelte und unterhielt. Da versammelten sich plötzlich die besten Spieler:innen des Landes, weil Regisseur:innen zusammenkamen, die was riskiert haben und dieser Ort zwischen den Zeiten, Neues ermöglicht hat. Wie z. B. auch Lilienthals Obdachlosentheater.
Nein, es muss eine Schauspieltruppe her, keine gutbürgerlichen Söhne und Töchter, wie Stemann oder Kennedy. Die Truppe aus Basel zeigt, wie spannendes Theater aus dem Kollektiv heraus geht. Und auch da ist wieder ein Marthaler unterwegs.
Bitte endlich wieder mehr Lust, Risiko und ein tolles Ensemble. Das wollte auch Pollesch, aber die Zeit hat leider gegen ihn gearbeitet.
Medienschau Volksbühne: Dünne Beweisführung
Der Text von Laudenbach ist von kaum zu überbietender Geschmacklosigkeit und setzt sich mit großsprecherisch überheblicher Geste über eine wirklich große Menge sehr erfahrener Theaterleute hinweg. Am Ende glaubt er bewiesen zu haben, dass es nur Stemann kann.
Warum? Das Argument er würde zu kluges Theater für Zürich machen , ist doch arg dünn.
Kann man den armen Pollesch nicht mal ruhen lassen. Zeit und ein liebevoller Blick auf das spezielle dieser Bühne würde echt guttun.
Theater wird immer noch von Menschen gemacht. Auch wenn es manchem Kritiker schwerfällt das zu glauben.
Medienschau Volksbühne: Die Lust am Tadeln
Zu oft bemüht sich die Theaterkritik nicht mehr um die Beschreibung eines Gegenstandes und die Einordnung in einen Gesamtzusammenhang, sondern nimmt die Abkürzung in das Reich der Wertung. Note 1,2,3, galaktisch, grottenschlecht, warum, weshalb, egal. Dadurch entstehen Meldungen, die keinen neuen Erkenntnisgewinn generieren, aber versuchen, Stimmung zu machen. Was erzählt der Artikel Menschen außerhalb der Theaterblase? Man liest eine Aneinanderreihung von Namen, die entweder großartig, untalentiert oder diebisch bewertet werden: 3 Menschen sind tot, sie waren prägend für ein Theater, dessen große Zeit mit einem Vierten verbunden bleibt. Seither ist alles Mist. Da sind noch zwei Frauen, deren Arbeiten sind grell und klug, 3 weitere Leute sind miteinander verwandt oder in Beziehungen und arbeiten zusammen. 70% Auslastung, ein Schauspieler ist groß und unschuldig, ein neues Stück ist schrecklich, ein Buch hat viele Themen, eine Person hat etwas gut zu machen und deshalb ein Theater zu leiten, vier andere haben keine Zeit oder sind bedeutungslos. Manche haben eigene Vor- und Nachnamen, andere sind nur Witwen, Töchter oder Freundinnen. Das ist 18. Jahrhundert und sehr respektlos. Der seltsame Skandal- und Sensationssprech über die Volksbühne ist vor ungefähr 8 Jahren mit einer Bierdusche in das Feuilleton eingesickert, in der Folge als gefundenes Fressen kultiviert worden. Diese Art der Rhetorik ist ausgrenzend und überfordernd. Und tatsächlich führt sie dazu, dass die Volksbühne zu nerven beginnt, nicht wegen des Bühnengeschehens, sondern weil es dort angeblich immer irgendein nerviges Drama gibt. Es ist eine schöne Parallele, dass sich jene Kritiken der letzten 20 Jahre, die versuchen, Inhalte eines Pollesch-Abends zu beschreiben, vermutlich an zwei Händen abzählen lassen. Die Kritiken beschreiben ein nicht näher erläutertes Pollesch-Prinzip (Theorie- oder Diskurstheater), zum Inhalt soll ausreichen eine nicht näher beschriebene Referenz zu nennen, es folgen obligatorische Sätze zu Schauspielern, die genial sind, aber auch nicht darüber hinweg helfen, dass ein Stück nicht gut sei, weil es irgendetwas typisch-Pollesch-mäßiges wiederhole. Auch deshalb sind viele der Nachrufe heuchlerisch. Es hilft ab und an den Feuilletonisten Friedrich Luft zu erinnern und zu sehen, was Kritik alles kann: „Kritik ist die Kunst zu loben. Erst da zeigt sich der kritische Meister. Der Tadel, wo er mit der Lust am Tadeln vorgebracht wird, macht einen billigen Lärm und bleibt am Ende wirkungslos.“ (Friedrich Luft). Vernichtende kritische Töne bringen eben eine hohe Verantwortung mit sich und fordern Präzision, Sachlichkeit und Höflichkeit ein. Superlative sollten generell hellhörig machen. Leider führt der Mangel an Argumenten dazu, dass sich die Vorwürfe selbstredend entkleiden. Übrigens: Personalentscheidungen sind zu Erfassen an der Qualität der jeweiligen Personen und der geleisteten Arbeit, nicht anhand eines Verwandtschafts- oder Beziehungsverhältnisse. Der kritisierte Strafbestand der Vetternwirtschaft definiert sich durch eine Bevorzugung von Verwandten und Freunden bei der Besetzung von Stellen oder der Vergabe von Aufträgen ohne Rücksichtnahme auf die jeweilige fachliche Qualifikation. Die entsprechende Begründung blieb der Reporter bereits in einem ähnlichen Artikel über das Theater vor gut einem Jahr schuldig. Es wäre schön, wenn die SZ daraus etwas ableitet und Aufträge an eine neue, jüngere und an auf den Bühnen tatsächlich verhandelten Inhalten und Formen interessierte Person beauftragt, und nicht immer die gleichen ehemaligen Kantinengeister der alten Castorf-Ära, die anhand der eigens aufgeheizten Volksbühne-Hysterie ein Stück weit auch etwas mit sich selbst auszumachen haben, was unfassbar uninteressant ist. Zwei zentrale Fragen bleiben unbeantwortet, aber machen tolle Headlines: Warum ist das Theater am Schlechtesten geleitet? Und in welchem Vergleich stehen die 70% Auslastung? Die Gereiztheit Berlins kann man auch herbeischreiben.
Medienschau Volksbühne: Zukunft ohne Denkverbote
Die ganze Ära Castorf, Schlingensief, Neumann, Marthaler, Pollesch begann mit einem mutigen Vorschlag des klugen, großen Ivan Nagel.
Ivan Nagel besaß die Vorstelkungskraft und den Mut, zu einem Wagnis zu raten.
Natürlich kann man mit dem Nachdenken über die Zukunft aus Pietät warten. Aber realistisch gesehen, wird schon vielfältig nachgedacht.
Der Artikel von Laudenbach ist dabei ein schönes Beispiel wie in vollkommener blinder Betriebsamkeit einfach sofort Namen durchgehechelt werden ohne irgendeine Analyse oder irgendeine weiterführende grundsätzliche Überlegung.
Ivan Nagel ist ein gutes Beispiel, dass es manchmal gut ist, etwas neu und weit zu denken. Das ist nicht geschichtsvergessen, sondern macht den Gedankenraum erst weit für Neues. Beharrungskräfte und Denkverbote führen nicht in die Zukunft.
Ich finde, es respektiert die Schöpfer dieser großen Ära und die grandiosen Spieler*innen, wenn diese Ära nun an der Volksbühne in Würde zu Ende gehen und Neues entstehen darf. Also halten wir vielleicht nochmal inne und hoffen, die Verantwortlichen schauen dann mutig nach theatraler Kraft, ob Tanz oder Theater, die - so Nagel damals - nach drei Jahren an der Volksbühne berühmt oder tot ist.
Medienschau Volksbühne: Risiko & Brecht-DNA
Dieser Thread ist seit meinem ersten Post #1 alles andere als "geschmacklos": Sofern die Beiträge ein ernsthaftes und kundiges Nachdenken über die Zukunft der Volksbühne offerieren, reagieren wir ja hier "nur"auf das disqualifizierende Ausrufen von Herrn Stemann als Neo-Intendant durch den geschmäcklerischen Artikel des Peter Laudenbach.

"Geschichtsvergessen"?! - Es war der ungarisch-deutsche Theaterkritiker und legendäre Intendant, Ivan Nagel, der nach der Wiedervereinigung vom Berliner Senat aufgefordert wurde, ein Konzept sowohl für die Volksbühne als auch für das Berliner Ensemble zu entwerfen: Ivan Nagels weitsichtiger Empfehlung ist es zu verdanken, daß Frank Castorf am Rosa-Luxemburg-Platz und ein mehrköpfiges Direktorium (später: Heiner Müller allein) am Schiffbauer Damm Intendanten wurden. Nagel war ein brillianter Kopf und Theaterphilosoph. 
Aus dieser Gründungsphase 1990/92 ist das Bonmot an Castorfs Truppe für die Zukunft der Volksbühne überliefert: "Nach drei Jahren seid Ihr und die Volksbühne tot oder weltberühmt!" 
@ Nagels berühmt gewordenes Gutachten über die Theaterlandschaft Berlins ist auch heute noch sehr lesenswert und hilfreich!

#2
Thomas Oberender ist gar kein Regisseur, wie es der/die künftige Intendant/-in der Volksbühne Berlin aber dringend sein sollte. Er steht für die konservative Denkschule eines Botho Strauß, über den er promoviert wurde; niemals für den linksradikalen Geist der Volksbühne! Wegen bekannt gewordener Kritik an seinem machtbewußten Führungsstil und Arbeitsüberlastungen seiner Mitarbeiter mußte Herr Oberender die Berliner Festspiele als deren Intendant bekanntlich vorzeitig verlassen. Ihn an die Spitze der Volksbühne Berlin zu berufen, wäre ein krasser Affront!

#3
Die Volksbühne ist als Repertoirebühne eindeutig für Schauspiel gedacht, gebaut worden und muß von der Kulturpolitik als solche geschützt werden. Das Fehlen eines Tanzhauses und die riesige Nachfrage nach Tanz in Berlin darf doch nicht zu Lasten dieses Theaters mit exzeptioneller Schauspiel-Historie verwurschtelt werden, Leute! 
Ich meine, daß der Tanz an der Volksbühne eine Berechtigung als Ergänzung NEBEN dem Schauspiel hat, nicht aber indem man das Sprechtheater dafür ersatzlos streicht.
"[...] Bevor sich nun noch jemand an diesem übergroßen Erbe abarbeitet, wäre es klug[,] etwas Neues anzufangen." - Vorsicht, Vorsicht, denn dieses Brecht'sche Erbe ist doch die wertvoll-einzigartige DNA der Volksbühne! Ansonsten kann es wie bei den Herren Dercon oder Dürr enden.

#5 
Wenn von "Hartmann" die Rede ist, sprechen wir wohl von Sebastian, nicht von Matthias. 
Ja, absolut richtig, wie die Geschichte zeigt, an der künftigen Volksbühne als Sprechtheater ist sehr viel Platz für Tanz; denken wir auch noch an Meg Stuart. Man kann beides an der Volksbühne parallel haben, so wie Reinhild Hoffmann und deren Tänzer weiland am Schauspielhaus Bochum neben Herrn Steckels Sprechtheater-Ensemble.

#6  & #9
Haben Vegard Vinge, Constanza Macras, Florentina Holzinger, Susanne Kennedy und Ersan Mondtag tatsächlich das nötige Format für solch ein bedeutendes Haus? - Ich meine, nicht rein künstlerisch, sondern geschichtsphilosophisch und ästhetisch? Oder muß man deren Ästhetik nicht als zu begrenztes Nischentheater charakterisieren?

#7
Wenn Sascha Hawemann für den Berliner Kultursenator infragekäme, müßte man ihm eine fähige Kaufmännische Direktion beiseitestellen oder ggf. Herrn Hawemann in ein Dreier-Direktorium einladen, wie damals Leander Haußmann mit Dimiter Gotscheff und Jürgen Kruse in Bochum?

#8 
Ja, der Auszug des Tanzes im Haus der Berliner-Festspiele würde Lücken reißen. Wurde schon darüber nachgedacht, mehr Tanz in Berlin z.B. im Radialsystem anzusiedeln und an diesem Haus durch die Kulturverwaltung besser auszustatten?

#9
Nein, hier werden spezielle Leute (sicher nicht "alle möglichen) ins Gespräch gebracht, weil man diese - im Gegenteil - ernsthaft diskutieren will.
Ja, Herbert Fritsch ist sicher erneut ein heißer Kandidat; ebenso wie Sebastian Hartmann.
Findungskommission: Tja, eine Findungskommission wird meist ernannt, wenn die Kompetenz an der Spitze der Kulturverwaltung in der Selbsteinschätzung schmal ist (siehe: Berufung Schauspiel Köln). Wenn ein Kulturdezernent/-senator aber kompetent und risikofreudig ist, läßt er/sie sich diese Hoheit nicht nehmen (z.B. Richard Erny in Bochum; Hilmar Hoffmann in Frankfurt/Main).
Aber in einer Findungskommission sitzen nun mal meist die üblichen Verdächtigen, fürchte ich. 
Ich vermute, daß der Berliner Kultursenator bald die Aufgabe hat, "in aller Ruhe und mit großem Radius jemand" zu suchen, und dabei hoffentlich Expertisen einholt: Joe Chialo könnte dabei auch vom Wissen einer Nele Hertling sowie eines Frank Baumbauer profitieren, der übrigens Frank Castorf, Matthias Lilienthal, Carl Hegemann und Christoph Marthaler während seiner Intendanz am Theater Basel ab 1988 zusammengebracht hat und miteinander arbeiten ließ.

#10 
Mir käme als künftiger Intendant der Volksbühne ein russischer Regisseur in den Sinn, Dessident in Berlin: Kirill Serebrennikow, Jahrgang 1969. Er wäre sicher keine "Reproduktion der deutschen Platzhirsche".
Übrigens: René Pollesch war ein Wessi, der durch das Denken von Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann geschult worden ist.

#12 
Richtig, weil die Volksbühne Berlin ihre glanzvollsten Zeiten mit Schauspieltruppen um jeweils regieführenden (!) Intendanten hatte, sollte sie wirklich kein reines Tanzhaus werden. 
@ Also, haben wir hier m.E. ein weiteres Kernkriterium: Welche/r gegenwärtige Regieführende (im Alter zwischen Mitte 40 und Anfang 50) vereint/bildet eine Truppe, ggf. der Ostschauspieler, ein Theater, das sehr stark "vom Darsteller aus gedacht [war/ist], vom Spiel und vom Subversiven dieses Akts."?
Übrigens ist die Wahl einer gewissen sozialrealistischen Literatur in der Vita der Regisseur/innen für die Programmatik der Volksbühne durchaus wichtig.

"Risiko" ist ein weiteres verlorengegangenes Kriterium. 
Aber eine tolle Schauspieltruppe findet sich ja oft erst mit der Möglichkeit, ein Theater leiten zu dürfen - das kann man erstmal nur von den Inszenierungen der infragekommenden Regisseur/-innen ableiten. 

Mit "Die Truppe aus Basel" meinen Sie wohl Benedikt von Peter und dessen Ensemble? Aha, nur für's Protokoll: Herr von Peter ist ein interdisziplinär geschulter Regisseur des Musiktheaters.

@Letztlich liegt der Ball beim Kultursenator Berlins, Joe Chialo.
Medienschau Volksbühne: Bochum unter Haußmann
Das in Bochum war kein Dreier-Direktorium, allerdings war Haußmann klug genug zwei weitere starke Regisseure fest ans Haus zu binden. Und am Ende haben die drei dann gemeinsam dieses Haus geprägt, mit ihren ganz unterschiedlichen Arbeiten. Natürlich gab es aber neben Leander Haußmann einen Kaufmännischen Direktor oder Geschäftsführer oder wie auch immer die genaue Bezeichnung von Alexander von Maravić war.
Medienschau Volksbühne: Ein Linksozialisierter
Als direkte Antwort auf #16 fällt mir da Lars-Ole Walburg ein. Linksozialisiert, hat zwar keine feste Truppe, aber was an Ensemble-Nähe und Treue in Hannover herrschte, sucht man bundesweit vergebens.
Medienschau Volksbühne: Junge Generationen Vorschläge
Ich vermisse mehr junge Generationen Vorschläge.

Was ist mit Antu Romero Nunes oder Jan Christoph Gockel?

Oder ein Typ wie Christopher Rüping? Das sind zumindest starke Schauspielhandschriften.

Auf der weiblichen Seite wäre vielleicht Nora Abdel Maksoud zu nennen.

In den Fällen würde ich zumindest schon mal zur Eröffnung gehen…
Medienschau Volksbühne: Basler Schauspieltruppe
@16 Nein, mit der Truppe aus Basel meinte ich das Schauspiel, das von einem Kollektiv geleitet wird:
Antu Romero Nunes, Jörg Pohl, Dirks, Schonlau
Medienschau Volksbühne: Schaurig
Es ist einfach nur schaurig mit anzusehen, wie hier ganz wichtige Menschen zig und zig Namen in den Ring werfen. Schlimmer als die schlimmste Boulevardpresse, die bei einem frei gewordenen Fußballclub permanent neue Trainernamen nennt. Wozu das alles?
Medienschau Volksbühne: Ranking
also wie ist jetzt das ranking
der bereits 22 oder 27 namentlich nominierten?
Medienschau Volksbühne: Luft rauslassen
@22 mit einer einfachen, brillianten Frage in den Ballon der Spekulationen und Empfehlungen gepiekst und jetzt pfeift es leise und die Luft entweicht. Dann ist es still.
Medienschau Volksbühne: Irre Vorstellung
Möglicherweise wäre es einfacher das Gorki Team zur Volksbühne zu verschieben und somit das Gorki neu zu besetzen. just saying
Medienschau Volksbühne: Gegenentwürfe fehlen
@24 keine schlechte idee, allerdings finden am gorki momentan nicht gerade die stärksten arbeiten statt. kompass scheint ein bisschen verrutscht.
was ich schade finde, dass offenbar die zeit der radikal politischen denker*innne vorbei ist. das meiste, was man zur zeit zu sehen bekommt ist entweder von einer geradezu apolitischen ästhetisierung oder plump gemacht und gedachtes agit prop. hinzu kommen die ästhetisch sauber gearbeiteten arbeiten, vieler mitteljunger regisseur*innen, die zumeist von den schulen kommen und bestens vernetzt sind.
was fehlt, im schauspiel, ist die verquickung von theaterliebe, intellektualität und politischem bewusstsein, dabei meine ich nicht vordergründige identitätspolitik, die nur darauf abzielt, dass marginalisierte akademiker*innen auch mal ran dürfen oder noch schlimmer weiße intendantin*innen die sich mit bipocs schmücken damit der zeitgeist sie nicht überrent, nein, theatermacher*innen, die* den großen gegenentwurf wagen. es braucht wieder linke opposition. ja linke.
Medienschau Volksbühne: Viel, wenig, gar nichts?
Weiß jemand, was der Berliner Autor des Artikels im "biederen Zürich" vom "klugen Stemann" so gesehen hat, was ihn zu dieser altherrenhaften Findungskommissionshaftigkeit im Text verleitet? Viel, wenig, gar nichts?
Medienschau Volksbühne: Sahra Wagenknecht
Also wenn ich mir die Vorschläge hier so durchlese, habe ich auch noch einen: Sarah Wagenknecht wird Intendantin in der Freizeit, den Laden führen aber eigentlich Wessis mit eigener Sozialismusnostalgie wie Stege- und Hegemann. Ausländer dürfen nur ins Team, wenn sie mindestens 10 Seiten Heiner Müller aufsagen können und eine halbe Stunde Selbstkritik üben bei der Dramasitzung. Danach kann man wieder zur Tagesordnung übergehen und wie bisher im Prinzip Dercons Theater aufführen (Holzinger, Macras ja beides Positionen, die genau seinem Plan entsprachen, international zu produzieren und das Ensemble anders zu denken, also so klein, wie es schon lange war).
Medienschau Volksbühne: Eine Frau
@27: Richtig.

Hauptsache Polleschs Nachfolge wird eine Frau. Alles andere geht gar nicht.
Medienschau Volksbühne: Danke
Plauderbach Danke. Das fasst die Vorschläge ihrer Vorgänger sehr schön zusammen. Sehr konstruktiv und uneigennützig das alles hier.
Medienschau Volksbühne: Partei
Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass die Mehrheit hier vergisst, aus welcher Partei der momentane Kultursenator kommt.
Medienschau Volksbühne: Links sein, reicht nicht!
Ein Ranking zu erstellen, ist Aufgabe der Berliner Kulturverwaltung, aber eine Shortlist zu diskutieren, können wir hier ja durchaus:

Damit der Blick auf gewisse Kandidaten nicht verengt bzw. präjudiziert wird, könnte es dem Kultursenator Joe Chialo sehr gut weiterhelfen, neben den von mir erwähnten Frank Baumbauer und Nele Hertling weitere Expertisen an der Akademie der Künste einzuholen: Hoffentlich erklären sich speziell Matthias Langhoff und Christoph Hein auch dazu bereit! Denn was ich in Post #1 als Brecht-DNA, Affinität und Street Credibility der Volksbühne zu beschreiben versucht habe, kennen diese beiden Herren ja aus eigenem Erleben und Gestaltung!

Wenn ich bei der Wahl einer neuen Intendanz für die Volksbühne Berlin immer wieder auf das Vorhandensein einer marxistischen Ästhetik verwiesen habe, müssen wir konstatieren, daß es kaum ein/n Regisseur/-in U60 mit DDR-Kindheit oder post-sowjetischer/osteuropäischer Biographie gibt, der/die uns satisfaktionsfähig für dieses Amt erscheint. Es fällt uns auch keine (anarchistische) Truppe der Ost-Schauspieler ein - wie mit anderen Vorzeichen weiland unter Peter Stein. Dieser Pool von linksradikalen Regisseur/-innen, die für Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" eine wirklich authentische Bühnenform gefunden haben, ist so klein, daß wohl gar kein(e) kraftvolle(r) und eigenwillige(r) Regisseur/-in Mitte 40 bis Anfang 50 im deutschsprachigen Theater existiert, der/die das entsprechende Format mitbringt.
@ Kirill Serebrennikow; Sebastian Hartmann; Sascha Hawemann

Links sein, reicht nicht! - Die Volksbühne Berlin wird in der Statik der fünf Sprechtheater Berlins schwer zu kämpfen haben, wenn sie von der Intendanz aus nicht linksradikal und anarchistisch gedacht und gelebt würde! Es sprengt den Rahmen dieses Threads, hier zu definieren, was eine marxistische Ästhetik sei, aber das obige Zitat von Heiner Müller in meinem Post #1 liefert eine Definition in nuce.

Es ist also fundamental bei der Auswahl von Kandidaten zu bedenken, daß man zwar einen Heiner Müller/Brecht inszeniert haben kann, aber damit noch lange keinen Heiner Müller/Brecht GEMACHT hat!
Insofern scheidet ein @Lars-Ole Walburg für mich aus, denn ich habe am Berliner Ensemble seine Inszenierung "Heiner 1-4" gesehen: keine authentische Konfliktaustragung oder marxistische Wirkungsästhetik, geschweige denn ernsthaftes Aufbäumen gegen den herrschenden Neoliberalismus.
Insofern scheiden @Kühnel/Schuster für mich aus, denn ich habe deren "Der Auftrag" am Staatsschauspiel Hannover gesehen: hilflose Komödiantik, aber die grundlegende Dialektik gekillt - anstatt emanzipatorischer Schrecken, wie von Heiner Müller gefordert.
Insofern scheidet ein @Laurent Chétouane eindeutig aus, denn ich habe seine "Bildbeschreibung" am PACT Zollverein in Essen gesehen: Selbstverliebtheit und Eitelkeit; er hat die Intentionen Heiner Müllers verraten.
Insofern scheidet auch @Armin Petras aus, denn ich habe u.a. sein "Jeder stirbt für sich allein / Leipziger Meuten" am Schauspiel Leipzig gesehen: keine authentische Konfliktaustragung oder marxistische Wirkungsästhetik, geschweige denn ernsthaftes Aufbäumen gegen den herrschenden Neoliberalismus.
- Die Inszenierungen dieser Regisseure tun nicht weh, wie es gefordert wäre, sondern wollen cool sein.

Erinnern wir uns daran, daß Benno Besson ja aus der Schweiz stammte - also wird die Berliner Kulturverwaltung auch Kandidaten ins Visier nehmen(müssen), die keine DDR- oder post-sowjetische Vergangenheit haben. 
@ Ulrich Rasche; @Herbert Fritsch; @Milo Rau
 
Medienschau Volksbühne: Links sein, reicht nicht! (Teil 2)
Erinnern wir uns daran, daß Benno Besson ja aus der Schweiz stammte - also wird die Berliner Kulturverwaltung auch Kandidaten ins Visier nehmen(müssen), die keine DDR- oder post-sowjetische Vergangenheit haben. 
@ Ulrich Rasche; @Herbert Fritsch; @Milo Rau

Auf ihre je eigene Weise sind diese Drei mit dem historischen Erbe von Piscator, Artaud, Brecht, Benno Besson, Heiner Müller, Einar Schleef, der russischen Avantgarde bzw. sozialrealistischer Dramatik verbunden. Milo Rau ist wie Pollesch ein Autor-Regisseur. Joe Chialo muß entscheiden, inwiefern einer dieser Drei als Nicht-Ostdeutscher sich fruchtbar auf dieses exzeptionelle Erbe der Volksbühne beruft bzw. daraus eine eigenständige subversive Ästhetik entwickelt hat. Diese drei Regisseure besitzen das intellektuelle Format, die großen Fußstapfen an der Volksbühne auszufüllen, aber ich kenne keinen der Drei persönlich. Besitzen sie auch die legendäre Freundlichkeit eines Bert Brecht, sind hoffentlich kaum eitle Persönlichkeiten und laden prägende Regisseur/-innen neben sich ein?

Wenn man ein Weiterleben der "alten" Volksbühne unter Frank Castorf in einer verengte Richtung des Fäkalien-Trash verlängern will, kann @Vegard Vinge in die zukünftigen Pläne einbezogen werden. Doch ist für mich mehr als fraglich, ob Herr Vinge als möglicher Intendant mit seinem slapstikhaften Theater und Ibsen-Fixiertheit überhaupt der Brecht-DNA und den geschichtsphilosophischen Ansprüchen der exzeptionellen Ästhetik der Berliner Volksbühne entspricht.

Wenn die neue Intendantin der Volksbühne Berlin zwingend eine Frau werden soll, wird sich die Berliner Kulturverwaltung mit einer ehemaligen Intendantin und einer amtierenden Schauspieldirektorin auseinandersetzen, die beide kürzlich mit Bewerbungen am Volkstheater Wien gescheitert sind.
@ Claudia Bauer und @Anna Bergmann

Wenn man die jetzige Pollesch-Volksbühne verlängern will, und es unbedingt ein Direktorium aus jüngeren Frauen werden soll, kann man sich mit @Florentina Holzinger, @Constanza Macras und @Susanne Kennedy als Co-Intendantinnen beschäftigen, wobei meine Frage aus dem Post # 16 hier noch niemand beatwortet hat: Haben die Drei tatsächlich das nötige geschichtsphilosophische und ästhetische Format? Oder muß man deren Ästhetik nicht als zu begrenztes Nischentheater charakterisieren?

Ich kann aus Pietät über den plötzlichen Tod von René Pollesch jetzt schweigen, aber wenn ein Peter Laudenbach eine tendenziöse Berichterstattung von sich gibt, darf das durch die informierte Leserschaft mit einer konstruktiven Analyse und fundierten Empfehlungen erwidert werden. 
Medienschau Volksbühne: Nicht sinnvoll
Die Verengung auf Personen, deren Schaffen zentral von Brecht und Müller beeinflusst ist und auch weiterhin überwiegend darauf ausgerichtet sein soll (!), halte ich nicht für sinnvoll. Weder verlangt die Geschichte des Hauses eine derart eng verstandene Kontinuität noch folgt sie zwingend aus der Programmatik der anderen Berliner Bühnen. Links, ja, gerne auch deutlich linker als der Rest - aber in der Form und Text-/Personal-Auswahl in erster Linie: frei!
Medienschau Volksbühne: Durch die Hölle
Wie auch immer sich Chialo und Co entscheiden werden (und wer auch immer überhaupt für dieses Hochrisikounternehnen zur Verfügung steht, egal ob Interimsintendanz oder Neuanfang), wird in Berlin durch die Hölle gehen und die Kulturbehörde muss wissen, ob sie das aushält und den Neuen vielleicht etwas länger unterstützt als drei Monate. Denn in einem Punkt (nicht der einzige) hat dieser wie immer polemische und auch anmaßende Text eben auch recht: Die alte Volksbühne ist definitiv am Ende. Wer sie verlängern will, wird scheitern. Und wer sie neu ausrichten will, weil es anders wirklich nicht mehr geht, wird in den Augen sehr vieler erst recht scheitern. Durch diesen Schmerz muss Berlin aber jetzt mal durch.
Medienschau Volksbühne: Museum
Meine Güte!
@ Mark Rabe
Gruselig, was Sie da entwerfen.
Fernab der Kunst.
Fernab des Spiels.
Wie die meisten Beiträge hier: Ein kleinliches Schaulaufenlassen.
(...) Ins Theater gehen, um sich und die eigene Weltsicht bestätigt zu sehen und bitte nicht mit anderem konfrontiert zu werden.
Das alles aber in Weltläufigkeit verpackt. Denn es geht ja um Berlin! Berlin! Berlin!
Zum kotzen.
Was sie, Mark Rabe brauchen ist entweder ein Museum oder eine zugestaubte Zimmerbühne für Ihr marxistisches Theater. In Hohenschönhausen vielleicht. Hauptsache Brechts legendäre Freundlichkeit wird unter die Leute gebracht.
Ich werd' mir Ihre Texte hier mal rauskopieren. Die gehören bei passender Gelegenheit verwurstet.
Ach und: Die Gelegenheit angesichts Rene Polleschs plötzlichem Tod zu schweigen, haben Sie grandios verpasst.
Lassen Sie sich die Gelegenheit kein zweites Mal entgehen. Schweigen Sie jetzt!
Und schlagen Sie die Bedeutung des Wortes "Pietät" nach!
Medienschau Volksbühne: Wunsch-Team
Mein Wunsch wäre, die DNA der Volksbühne in die Zukunft zu führen, ohne Nostalgie und Ideologie. Dafür braucht es jemanden, der sowohl kulturpolitisch in den Berliner Gewässern zu navigieren weiss, ohne zerfetzt zu werden (bitte nicht noch einmal solche destruktiven öffentlichen Debatten), als auch Haltung und Vision zeigt. Mein Wunschteam wäre deshalb Matthias Lilienthal, der Betriebe nach vorne denken und führen kann und dabei Raum für andere macht, vielleicht zusammen mit Holtzinger, Meg Stuart, Kennedy, Rüping. Ästhetisch anvanciert, politisch mit mutigen Setzungen und immer einem Händchen für neue Stimmen und Themen vom Rand der Gesellschaft. Schauspiel und Tanz, andere Künste und Diskurse, die quer durch das Programm laufen: darauf würde ich mich freuen. Aus meiner Sicht steht Lilienthal als einer der Wenigen für Überraschungen, die dennoch immer aus einer klaren Haltung heraus entwickelt werden. Dagegen wird bei den Rasches und Hartmanns dieser Theaterwelt aus meiner Sicht vor allem reproduziert, da weiss man jetzt schon, was kommt.
Medienschau, Volksbühne: Geschichtslosigkeit
(...) ein ausdrückliches Danke an Sie # 1 Mark Rabe. Ihrem ersten Post hätte man gar nichts hinzufügen brauchen. Bedauerlicherweise mussten sie sich rechtfertigen und erklären. Es ist an der Zeit, ein nicht staatskonformes und geschichtsvergessenes Theater (das sich ästhetischer Verzweiflung hingibt) zu ermöglichen. Herr Rabe, Sie haben mich daran erinnert, was Theater soll: "Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär." - Heiner Müller. Das hatte ich während der letzten, enttäuschenden Volksbühnen-Besuche schon gänzlich aufgegeben, zu erhoffen. Denn da war nichts oder zu wenig. All ihren Empfehlungen, vor der Schar der Infragekommenden zu warnen, stimme ich zu und ich freue mich, dass Sie den Reigen der Antworten eröffnet haben. Auch wenn die meisten den Anspruch eines dialektischen, postdramatischen Theater stracks und kiesig verunglimpfen, nur eine Volksbühne mit Intellekt, Bewusstsein und geschichtsphilosophischem Format in Persona kann dieses Siechentheater noch retten.
Medienschau Volksbühne: Neuerfindung
@ 37 Soukie
Bitteschön; ich freue mich über Ihre positive Resonanz, denn im Internet ist inpolemische Akklamation von einem Fremden und nicht gefaketen Beiträger sehr selten! Ohne mit Klarnamen zu posten, konnten mir die obigen Verunglimpfungen wenig anhaben...
Ich habe nach Ihrer ermutigenden Conclusio nur noch mitzuteilen, daß ich meine Begrifflichkeit anpassen könnte, weil "marxistisch" in meinem Sprachgebrauch für einige bedrohlich ideologisch klingen mag: Also, besser "dialektisch" anstatt marxistisch und mehr Betonung des Postdramatischen anstatt Artaud, da viele mit dessen wirkungsästhetischer "Grausamkeit" ggf. weniger anfangen können.

"[...] Auch wenn die meisten den Anspruch eines dialektischen, postdramatischen Theater stracks und kiesig verunglimpfen, nur eine Volksbühne mit Intellekt, Bewusstsein und geschichtsphilosophischem Format in Persona kann dieses Siechentheater noch retten."
- Wow, damit erteilen Sie z.B. auch Martin Wuttke als möglichem Interimsintendant eine Absage.
Tja, in gewisser Weise hat der Berliner Kultursenator in Bezug auf die Volksbühne ab sofort offenbar wieder die selbe Aufgabe wie weiland Ivan Nagel: Die Neuerfindung der Volksbühne durch eine/n regieführende(n) Intendant/-in und dessen/deren Schauspielertruppe in der Kontinuität des geschichtsbewußten Erbes mit Brecht-Affinität, aber - und das ist entscheidend - ohne die personelle Kontinuität der Leitenden Mitarbeiter aus der Castorf-Ära in der künftigen Intendanz.

Satisfaktionsfähige Regisseurinnen sind bei den Empfehlungen zu kurz gekommen: Unter den regieführenden Frauen der mittleren Generation ragt für mich @Karin Henkel (Jg. 1970) weit heraus, mit der sich die Berliner Kulturverwaltung ebenso beschäftigen sollte. Auch, wenn Frau Henkel keine Brecht-DNA verkörpert, bewundere ich ihre Inszenierungen seit zwei Jahrzehnten. Doch befürchte ich, daß sie nirgends (und schon gar nicht am Rosa-Luxemburg-Platz) eine Intendanz übernehmen will: Man müßte ihr mit Nachdruck den Teppich ausrollen, wenn ästhetische Gründe in besonderer Weise dafür sprechen, Karin Henkel an die Spitze der Volksbühne Berlin zu berufen.

Wann führt @nachtkritik.de eine grundsätzliches Interview mit Joe Chialo, damit die Öffentlichkeit erfährt, wie repräsentativ-konservativ oder subversiv-dialektisch er die Zukunft der Volksbühne Berlin denkt?
Medienschau Volksbühne: Fenster öffnen
Ich weiß nicht, wer sich hier hinter welchem Namen verbirgt. Aber ich glaube, ein guter Anfang für die Suche wäre, alle Namen, die hier genannt wurden, kategorisch auszuschließen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die wie Castorf, Pollesch, Marthaler, Kresnik, Schlingensief und deren Dramaturgen und Schauspieler als Enkel, Urenkel oder Schüler von Brecht (bzw. Schuhmacher, Müller, Lehmann) bezeichnet werden könnten. Und das nicht nur deshalb, weil sie sich dazu erklärt haben. Dazu kommen viele aus Ländern am Rande Europas oder weit von Europa entfernt, die uns helfen könnten, die deutschsprachige Kulturbetriebsblase zu verlassen. Der Artikel von Laudenbach wie die Diskussion hier riechen muffig wie ein schlecht gelüftetes altes Haus. Zeit, ein Fenster zu öffnen!
Medienschau Volksbühne: Avantgarde und Klassenkampf
Ich finde den taz-Beitrag sehr gut im Gegensatz zu dem Laudenbach (...).

Die Volksbühne ist für mich ein Haus der Theateravantgarde und des Klassenkampfs, ein Haus von Arbeitenden für Arbeitende. Damit sind für mich schnöde Karrierismen des Bürgerlichen Theaters a la (...) mit ihren Agenturen obsolet. Es gibt so wenig Raum in Germany und mittlerweile auch Berlin für Bühnenkunst, die etwas wagt und den Status Quo aufrüttelt, die einen eigenen Biss hat, sich nicht ständig selbst reproduziert in Form, Kraft und Humor besitzt, etwas hinzustellen und die Sparten öffnet und andere Zuschauende erreicht - auch durch Formen des Popkulturellen oder der Subkultur. Für mich gehören auf die Bühne der Volksbühne: Vinge&Müller, Florentina Holzinger, Herbert Fritsch, Doris Uhlich, Peng Kollektiv, glanz&krawall, die Helmis, Protestoper Lauratibor. Es gibt sicherlich einige Vergleichbare, die ich noch nicht kenne - wie bekannt oder unbekannt sie sein mögen. Wer ermöglicht es, dass die dort stattfinden können? Oder sie selbst leiten das Ding? Die anderen Langweiler sind doch schon am DT, BE und wie sie alle heißen... Nur befürchte ich keinen klugen Akt der Vergabe bei diesem CDU-Senator für Kultur.

(Anm. Redaktion: Zwei Wendungen, die in ihrer Polemik gegen Personen übers Ziel hinausschießen, wurden aus diesem Kommentar entfernt.)
Medienschau Volksbühnen-Zukunft: Tor zum Osten
Serebrennikow und die VB als Tor zum Osten scheint mir die stärkste Idee bisher.
Medienschau Volksbühnen-Zukunft: Wieso Serebrennikow?
@ 41
Aha, freut mich, diese Empfehlung habe ich oben in meinem Post 16 ja bereits gegeben...
Aber können Sie Ihre Bestätigung hier bitte unterfüttern, wieso genauer Kirill Serebrennikow und die Volksbühne Berlin "die stärkste Idee bisher" ist?
Haben Sie Inszenierungen von ihm gesehen und wollen uns an Ihrer Seh-Erfahrung hinsichtlich Herrn Serebrennikow als Theaterregisseur (künstlerisch, ästhetisch, geschichtsphilosophisch) teilhaben lassen?
Medienschau Volksbühnen-Zukunft: Zustimmung
@42 Das war in der Tat als direkte Zustimmung zu Ihrem Post gemeint. Ich stimme im Großen und Ganzen allen Ihren Erwägungen zu, außer zu Ulrich Rasche, dessen Format ich für überschätzt halte. (Und mit Hawemann kenne ich mich gar nicht aus.) Von Serebrennikow habe ich Inszenierungen gesehen und Interviews gelesen. In meinen Augen ein künstlerisch und intellektuell starker Regisseur, Teambildungstalent, weiter Blick. Sowjetsystemerfahrung, Putin-Dissdident, Osten. Allerdings reicht mein Wissen nicht aus, um meinen eher instinktiven Wunsch wirklich überprüfen zu können.
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