Presseschau vom 27. August 2012 – Die Welt über Alvis Hermanis' Einspruch gegen Frie Leysens Bestellung zur Festwochenchefin in Wien

Zerquälte Bewältigungsmessen

Zerquälte Bewältigungsmessen

27. August 2012. Eine schöne Glosse schreibt heute Matthias Heine in der Tageszeitung "Die Welt". Und zwar über Alvis Hermanis' Einspruch gegen die Bestellung von Frie Leysen zur Wiener Festwochenchefin. (Wir berichteten.) Hermanis, so Heine, gehöre nämlich nicht zu denjenigen, "die wie Peter Stein oder Andrea Breth in jedem Interview wieder betonen, dass ihr Theaterbegriff natürlich der einzig Wahre sei und dass jeder, der ihn nicht teilt – und das sind logischerweise alle, die nicht Breth oder Stein heißen – ein verabscheuungswürdiger, dilettantischer Theatervernichter sei". Daher sei Hermanis' Einwurf umso beachtenswerter.

Leysens "Obsession für Multikulti-Theater aus exotischen Ländern mit postimmigrantischem Pathos" erinnere ihn "an die Sowjet-Ära in kommunistischen Ländern, wo Politiker nur proletarische Ideologie unterstützten, der Kunst und Professionalität geopfert wurden," hatte der Regisseur dem Wiener Standard gesagt (hier der Originalartikel).

Zwar sei der von ihm gezogene Vergleich mit sowjetischen Theaterfunktionären "natürlich total unfair, vor allem, weil diese wohl kaum die von Grund auf durchdekonstruierten, multikulturellen und selbstverständlich interdisziplinären Projekte gemocht hätten, die Frau Leysen seit Jahren fördert". Doch liest sich für Heine nun das Programmheft zum Berliner Theaterfestival "Foreign Affairs", das Leysen in diesem Herbst im Auftrag der Berliner Festspiele verantwortet, bevor sie nach Wien geht, "tatsächlich ein bisschen wie ein sowjetisches Propagandapamphlet aus der Zeit des kältesten Krieges." Die vorgestellten Produktionen würden nämlich "alle mehr oder weniger den Untergang der westlichen Zivilisation" verkünden. "Und sie suhlen sich in der Überzeugung, dass dieser absolut gerechtfertigt sei – vor allem auf Grund der kolonialen Vergangenheit." Der Kritiker spricht von "abstrakten, zerquälten Bewältigungsmessen", die ab September der Zuschauer offenbar nur mit schamgesenktem Haupt besuchen könne.
(sle)

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