Vorschlaghammer und Sekundenkleber

22. April 2023. In Berlin beginnt "Augenblick mal!", das Festival für junges Publikum. Der Auftakt mit drei Gastspielen verspricht viel, doch die Kinder und Jugendlichen fordern mehr.

Von Iven Yorick Fenker

"Master of Desaster" des Theater Marabu, eingeladen als eine von zehn Inszenierungen zum Festival "Augenblick mal!" 2023 © Katrin Schander

22. April 2023. Es ist Freitag, Frühling in Berlin und der erste Tag des "Augenblick mal!"-Festivals des Theaters für junges Publikum. Vor dem FELD Theater am Schöneberger Winterfeldplatz ist die Szene versammelt, die Erwachsenen sind an diesem Werktag und am Morgen noch in der Überzahl, aber einige Kinder sind da. Die Altersempfehlung für "Dinge Dingen", die erste Vorstellung der Biennale, ist 5+. Im Theater dann ist die gemauerte Guckkastenbühne mit weißer, dicker Folie verhangen. Die Spieler:innen Julia Keren Turbahn, Jan Rozman und Jan Kress treten auf. Und dann fliegen die Dinge durch den Raum.

Vom Eigenleben der Dinge

Doch zuerst werden sie erklärt, wie bei einem Ratespiel. "Das Ding ist" so und so und "das Ding ist" so. Jan Kress übersetzt simultan in deutsche Gebärdensprache, während aus der linken verhangenen Bühnenseite und durch die zerschnittene Folie nacheinander die Dinge auf die Bühne geworfen werden, leicht verzögert, so dass auf jedes "so und so" irgendwann ein "aha" folgt und viele herzliche Lacher. Verkehrte Scharade, ein einfacher Trick, der in den spielerisch und choreografisch äußerst aufwendigen Auftakt leitet. Die Dinge werden zum Leben erweckt werden und: (ein softer Spoiler oder je nachdem, Teaser) diese Vorstellung hat einen doppelten Boden.

Nach komischen Annäherungen zwischen Mensch und Ding, choreografisch herausragend von Breakdance bis Schattenspiel, bleiben schließlich, die Lichter werden gedämmt, die Strahler leuchten frontal, nur noch die Schatten der Dinge, in denen die Spieler:innen verschwinden.

Dinge Dingen c Philipp Weinrich u"Dinge Dingen" von Jan Rozman und Julia Keren Turbahn © Philipp Weinrich

Das "Augenblick mal!" findet alle zwei Jahre statt, und nachdem es 2021 pandemiebedingt in den digitalen Raum verlegt werden musste, ist das Festival nun wieder gut besucht und an diesem ersten Tag auch schon ausverkauft. Später – wir machen hier einen zweiten, zeitlichen Sprung –, am Abend herrscht sogar noch größeres Gedränge, als es darum geht, in den Saal des Theater Strahl zu kommen. Dort am Ostkreuz in Friedrichshain ist das Festivalzentrum und in dessen neugebauten Saal findet nun gleich die Eröffnung statt. Gäste aus der Politik sind geladen. Klaus Lederer wird eine seiner letzten Reden als Berlins Kultursenator halten. Die Stimmung ist gut, das Programm wird vorgestellt.

Die Kurator:innen sprechen über ihre Arbeit und die Auswahl der eingeladenen Gastspiele. Aus über 200 Bewerbungen haben Antigone Akgün, Malte Andritter, Dorothea Lübbe, Elena Philipp und Winfried Tobias zehn Inszenierungen nach Berlin eingeladen. Gibt es Tendenzen, die sich nach der Sichtung der eingereichten Produktionen erkennen lassen? Es gebe viele Dystopien und Utopien, die drohende Klimakatastrophe, Diskurs. Woran mangelt es? Antigone Akgün antwortet: an Multiperspektivität, an gelebter Diversität. Sie endet mit einem Aufruf: "An alle die das hören: zeigt Eure Kunst!"

Dann folgt das Zeremoniell. Geschenke werden verteilt. Reden, Reden, Reden. Und da die bisher von älteren Menschen, den Erwachsenen, gehalten wurden ist es für ein Festival für junges Publikum nur folgerichtig, dass nun jüngere Menschen das Mikrofon an sich reißen und: Spotlight und Bühnenzeit. Nicole Etschberger, Florian Hecht, Jana Oehlerking, Mariella Pierza, Lena Riemer und Alicia Ulfik bilden die "Vertretung für junge Perspektiven". Auch sie haben Geschenke mitgebracht, Wünsche und vor allem: konkrete Forderungen. Aber erstmal die Geschenke. Die "Blick's mal!"-Kids, die das Festival begleiten, bekommen einen Vorschlaghammer, "um ihr Theater nach ihren Vorstellungen zu gestalten". Gerd Taube, künstlerischer Leiter des Festivals, wiederum bekommt Sekundenkleber überreicht, und zwar nicht, "um sich auf umstrittene Art und Weise für den Klimaschutz einzusetzen", sondern um da zu kleben, wo dann der Vorschlaghammer einmal geschwungen sein wird. Außerdem fordert die Vertretung für junge Perspektiven drei Sitze in der Auswahljury für Kinder und Jugendliche. Der Diskurs ist da, es ist etwas in Gange und hier wird es vorangetrieben. Das lässt aufblicken.

Explodierende Kindersorgen

Die zweite Vorstellung des ersten Festivaltages ist am Mittag, die Sonne scheint immer noch, es ist recht warm im Innenhof des Grips Theater im Podewil. Hocker und Stühle stehen in einem Halbkreis bereit. Die Bühne ist mit gestreiften Leitkegeln abgesteckt. Das Theater Marabu zeigt "Master of Desaster", Altersempfehlung 6+, und damit das Desaster verhindert werden kann, wird jetzt erst einmal die Rasenfläche von Müll befreit und ordentlich gemacht. Silas Eifler, Tobias Gubesch, Julia Hoffstaedter, Tina Jücker, Leonard Spies und Claus Overkamp tragen blaue Arbeitsoveralls. Sie steigen auf einen Hebewagen, auf dem ein Schild befestigt ist, auf ihm steht: "Straßenunterhaltungsdienst". Also es gibt Arbeit und nun wird schweres Gerät aufgefahren.

Das Spiel ist clownesk und ziemlich lustig. Mit dem Laubbläser wird der Rasen von allem befreit, was nicht Wiese ist, und auch das Publikum muss sich festhalten oder zumindest die Caps, mit einem Drucksprühgerät wird Desinfektionsmittel großflächig eingesetzt, zur Sicherheit, da geht auch mal was daneben, ins Publikum (es ist nur Wasser, die klassische Nummer, aber charmant). Dazu natürlich Greifarme, Instrumente. Bereit stehen Blasinstrumente, die in den Laubbläser einstimmen und eine Trommel. Es passiert so viel, die Instrumente wechseln, immer ist irgendwo Interaktion gleichzeitig, da die nächste, so dass die Requisten- und Instrumentenwechsel ganz wunderbar unscheinbar ablaufen können.

Augenblick mal 01 Master of Desaster 805 Katrin Schander uViel Action bei den "Master(s) of Desaster" von Theater Marabu © Katrin Schander

Die Show ist ein großer Spaß und scheut den Ernst nicht. Denn als ein einsamer Schulranzen auf der Rasenbühne auftaucht, mitten auf dem Rasenrund, und es aus dem Ranzen dann auch noch anfängt zu vibrieren, herrscht Alarmbereitschaft und die Spieler:innen versuchen die Situation zu entschärfen. Trotz toll ausgetüfteltem Gerät kommt es zur Detonation und in der Luft flattern kleine Zettel. Auf ihnen Kinderängste: Krieg, Klimakatastrophe, Alpträume. Aufgeschrieben von Kindern, vorgetragen von den Spieler:innen. Die Frage geht ans Publikum: "Was macht ihr wenn ihr Sorgen habt?".

Am Ende gehen neue Zettel rum, das Publikum ist ein paar Sorgen los und der Schulranzen wieder zum Platzen gefüllt.

Direktheit, die durchdringt

Die dritte Vorstellung, es ist mittlerweile abends und nach den Eröffnungsreden, beginnt auf den oberen Treppenstufen. Dort stehen die Spieler:innen des Piccolo Theater Jugendclubs aus Cottbus. Unter ihnen das Foyer, die Gäste am Buffet, es gibt Häppchen und Sekt. Über die Gesprächskulisse deklamieren sie. Wir befinden uns in einer Krise, aber wir kommen auch aus einer. Dann beginnt der Einlass.

"Die Verdunkelung II – Coronaleuchten" ist eine Auseinandersetzung mit der Zeit der Pandemie. Aus der Perspektive von Jugendlichen ist dies eine Vorstellung für Jugendliche, die allerdings auch für Erwachsene erhellend sein wird und berührt. Nun aber gehen erst mal die Lichter aus. Der Saal im Theater Strahl wird, wie der Titel schon verriet, verdunkelt. Die Spieler:innen tragen Stirnlampen. Sie blicken und leuchten damit ins Publikum.

Piccolo Verdunkelung Coronaleuchten1 c Michael Helbig uDie Verdunkelung II – Coronaleuchten vom Piccolo Theater Jugendclub © Michael Helbig

Was dann folgt ist ein Highlight in dunklen Zeiten. Das Ensemble, Amy Münzenberger, Henriette Bayer, Luise Unger, Anne Fiedler, Zuzanne Pacholska, Justus Bothe, Lennart Gantzer, Florian Jähne, Dennis Selka, Courtney Bischoff und Leonhard Lorenz zeigen hier, was das Theater kann: Präsenz erschaffen. Die Spieler:innen sind wahnsinnig präsent, und was sie auf die Bühne bringen ist dringlich, drängt, durchdringt. Sie bedienen sich vieler theatraler Mittel. Die Sprechchören sitzen, die Monologe sind melancholisch und erheiternd, die Slapstickeinlagen, der feine Humor, die Choreografie. Die Inszenierung ist komplex, durchdacht und entfaltet ihr Potential. Die Spielweise ist unscheinbar, dafür ungeheuer direkt, ehrlich, unvermittelt.

Der Lockdown, die verlorene Zeit, die Folgen der Pandemie, Angst, das politische Agieren, das politische Versagen, das Systemversagen, die Klimakatastrophe, die Ignoranz, die Abwehrmechanismen, der Krieg gegen die Zukunft, der politischen Stillstand. Und dann steht alles auf der Bühne still. Das Licht geht an. Sie schauen ins Publikum. Minutenlang. Und das muss man auch erstmal aushalten. Aber das können die Spieler:innen. Viel können sie, die Inszenierung und der Text basieren auf einer beeindruckend präzisen materialistischen, antikapitalistischen Analyse. Und an wen die gerichtet ist, das ist seit den Stirnlampenspotlights klar, nur spielen sie den Stellvertreter-Boomer selbst, was auf jeden Fall lustiger ist. Die Boomer bis Millenials im Publikum jedenfalls lachen.

 


Augenblick mal!
Das Festival des Theaters für junges Publikum
21. – 26. April 2023
Mit: Tanzkomplizen, Junges Schauspielhaus D'haus, Pinsker + Bernhardt, Piccolo Theater Cottbus, Julia Keren Turbahn + Jan Rozman mit Jan Kress, vorschlag:hammer, Isabelle Schad & Theater o.N. im der Offensive Tanz für junges Publikum, subbotnik mit Theater an der Ruhr, Theater Marabu, pulk fiction.

Dinge Dingen

Konzept: Julia Keren Turbahn und Jan Rozman mit Jan Kress
, Choreografie: Jan Rozman, Julia Keren Turbahn, Künstlerische Beratung, Adaption Aufführungen in Deutscher Gebärdensprache: Jan Kress, Bühnenbild: Dan Pikalo, Jan Rozman, Lichtdesign: Annegret Schalke, Outside Eye: Sanja Tropp Frühwald, Kostümbild: Tanja Padan/Kiss the Future, Sound: Andres Bucci/Future Legend, Komposition, Text ‚Dinge Dingen“: Alexander Patzelt, Illustration: Matija Medved, Mentoring: Gabi Dan Droste, Benjamin Zajc.
Mit: Jan Rozman, Julia Keren Turbahn, Jan Kress.
Produktion: Emanat, Co-Produktion: Puppentheater Ljubljan, In Kooperation mit: FELD Theater für junges Publikum.
Altersempfehlung: 5+ (ab Vorschulalter)
Dauer: 55 Minuten, keine Pause

Master of Desaster
Theater Marabu, Bonn
Stückentwicklung: Ensemble, Komposition: Eifler/Gubesch/Spies, Ausstattung: Bernd Knetsch, Regina Rösing, Musik- und Theaterpädagogik: Vivien Musweiler.
Performance / Musik: Silas Eifler (Helikon Tuba), Tobias Gubesch (Posaune), Julia Hoffstaedter (Klarinette), Tina Jücker (Saxophon), Leonhard Spies (Trompete), Claus Overkamp (Trommel).
Altersempfehlung: 6+ (1. bis 4. Klasse)
Dauer: 60 Minuten, keine Pause

Die Verdunkelung II – Coronaleuchten

Piccolo Theater Jugendclub
Spielleitung: Matthias Heine, Choreografie: Zaida Ballesteros Parejo, Licht / Technik / Klavier: Konstantin Walter.
Mit: Amy Münzenberger, Henriette Bayer, Luise Unger, Anne Fiedler, Zuzanna Pacholska, Justus Bothe, Lennart Gantzer, Florian Jähne, Dennis Selka, Courtney Bischoff und Leonhard Lorenz.
Altersempfehlung: 14+ (ab 8. Klasse)
Dauer: 75 Minuten, keine Pause

www.augenblickmal.de


Kritikenrundschau

"Ängste, Zukunftsnöte, auch Weltuntergangssorgen – das waren bestimmende Themen zum Auftakt. Längst nicht durchweg so lustig verhandelt wie vom Theater Marabu in 'Master of Desaste'", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (24.4.2023). Der Piccolo Theater Jugendklub aus Cottbus zum Beispiel blickt auf eine Pandemiezeit zurück, die nichts Gutes für die kommenden Jahre erwarten lässt. Die jungen Spieler*innen haben sich mit der Klimakrise auseinandergesetzt. "Im Zuge ihrer Corona-Betrachtung ist ihnen aufgegangen, wie verschränkt diese Themen sind. Die Katastrophe ist der Mensch mit seinen Umweltverheerungen." Dass die Welt ein seltsamer Ort ist, davon erzähle auch "Bambi und die Themen" des Dramatikers und Regisseurs Bonn Park. Fazit: "In einem hochgepitchten Niedlichkeitston werden stauneäugig höchst bedenkenswerte Fragen gestellt. (...) Ein starker Festivalauftakt."

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