Debatte Urheberrecht - Das Recht der Regisseure auf freie Nutzung der Theaterstücke und der tatsächliche Wille der Autoren
Es lebe die Freiheit der Kunst!
von Jan Froehlich
28. Mai 2015. Regisseur Frank Castorf, soeben mit seiner Baal-Inszenierung in den Schlagzeilen, hat Theaterstücke immer schon sehr frei neu inszeniert. So besetzte er zum Beispiel 1996 in "Des Teufels General" von Carl Zuckmayer eine männliche Rolle stellenweise mit der Schauspielerin Corinna Harfouch. Die Inszenierung wurde zu einem grandiosen Erfolg, weil Castorf mit verschiedenen, sehr verfremdenden Einfällen eine wunderbare Parodie auf die von manchen als viel zu harmlos empfundene Darstellung der NS-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Unter anderem wurde eine Szene von einem Restaurant in eine Raumstation verlegt. Jedoch: Die Inszenierung hat keinerlei Einwände seitens der Erben hervorgerufen.
Wenn "Baal" nicht "Baal" geheißen hätte
Das Urheberrecht auf Carl Zuckmayers Werk erlischt erst 2048. Möchten Regisseure für ihre Arbeit ein Theaterstück einer anderen Person nutzen, so steht Ihnen dafür allerdings die Möglichkeit der freien Nutzung offen. Dazu muss die Textvorlage durch Hinzufügen oder Streichen von Szenen, Dialogen oder Rollen so bearbeitet werden, dass das ursprüngliche Stück "verblasst", weil sich aufgrund der Arbeit einer kreativen Person ein neues Stück ergeben hat. Auch die Verlegung einer Szene in eine vollkommen andere Umgebung kann der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Aussage des Stückes dienen – so wie man bei Castorf die Raumstation als Sinnbild für seine Kritik am Drama lesen kann, in dem das Leben unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft verharmlost werde.
Diese Form der freien Nutzung gestattet das Gesetz gemäß den Regelungen des § 24 UrhG, und zwar ohne die Zustimmung der Autoren: "Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden." Wendet man dieses Beispiel auf den Fall "Baal" an, so hätte es keine Probleme geben dürfen, wenn Frank Castorfs Inszenierung nicht "Baal" von Bertolt Brecht geheißen hätte.
Der Fall "Germania 3" und die Freiheit des Regisseurs
Castorf hat ja verschiedene Texte anderer Autoren – Carl Schmitt, Ernst Jünger, Artur Rimbaud – verwendet. Und natürlich hätten auch umfangreiche Textpassagen von Bertolt Brecht genutzt werden können, seitdem das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der bekannten "Germania 3"-Entscheidung die großzügige Verwendung ganzer Szenen als zulässig erachtet hat, auch wenn diese nicht bearbeitet und damit überhaupt nicht verändert wurden. Heiner Müller hatte in seinem Stück "Germania 3" ganze Passagen aus Brechts "Leben des Galilei" und "Coriolan" zitiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es bei der Nutzung eines Werkes, für welches keine Lizenz erworben wurde, nicht nur auf das Urheberrecht des Autors, sondern eben auch die Kunstfreiheit des Theaterregisseurs ankommt und damit die Kunstfreiheit die privatrechtliche Verfügungsbefugnis einschränkt.
Heiner Müller übernahm zwar unverändert Textteile von Brecht, hatte aber schon deshalb das Recht zu umfangreichen Zitaten, weil er sich mit diesem Hintergrund intensiv auseinandergesetzt hat. Es bedarf nämlich nicht immer der inhaltlichen Veränderung, sondern ein Zitat kann auch deshalb gerechtfertigt sein, weil sein Inhalt zum Gegenstand der Diskussion wird. Bei Brecht war es bekanntermaßen sein Standpunkt zu dem Aufstand in Ungarn 1956, den Heiner Müller ablehnte und deshalb zum Gegenstand seines Stückes machte. Wäre Heiner Müller hier als Regisseur aktiv gewesen und hätte er als solcher diese Textpassagen im Rahmen eines neu entstehenden Stücks genutzt, wäre auch dies zulässig gewesen, wenn er sich inhaltlich mit dem Standpunkt Brechts auseinandergesetzt hätte.
Das Bundesverfassungsgericht sieht Kunst, Theaterstücke und Literatur als eigenständige Werke, welche "geistiges und kulturelles Allgemeingut" werden, wodurch sie auch zur künstlerischen Auseinandersetzung genutzt werden dürfen. Wichtig ist dabei immer, dass diese Werke zum Gegenstand der inhaltlichen Auseinandersetzung werden. Wenn die Nutzung allerdings lediglich dazu dient, ein bekanntes Werk zu vervielfältigen und zu verbreiten und also der kritischen Auseinandersetzung mangelt, dann soll eine solche Nutzung unzulässig sein.
Im Stil des "Regietheaters" – wenn Aufführungsrechte erworben werden
Sehr viel interessanter ist aber die Frage, inwiefern ein Theaterregisseur oder eine Regisseurin im Falle des Erwerbes der Aufführungsrechte in einer Inszenierung erhebliche Änderungen am Text oder an der Besetzung (Schauspielerin statt Schauspieler) durchführen oder andere prägende Stilmittel einsetzen darf. Zunächst sollte man als Regisseurin oder Regisseur natürlich darauf achten, dass schon in den Vertrag zum Erwerb der Aufführungsrechte eine entsprechende Klausel aufgenommen wird, wonach man im Stil des "Regietheaters" zu einer selbstständigen freien Bearbeitung von Text, Handlung, Darstellern und Szene sowie eventuellen anderen Anweisungen des Autors/Autorin berechtigt ist, eine Zustimmung zu Änderungen seitens des Autors oder seiner Erben oder des Verlages nicht erforderlich ist und durch diese Klausel auch die Ausübung der Rechte gemäß §§ 14, 39 UrhG geregelt ist. Das wäre dann sozusagen die "Castorf-Klausel" des Theatervertragsrechtes.
Kommt es nämlich nicht zu einer solch weiten "Kreativitätserlaubnis", so gelten die doch etwas kunstfeindlichen Rechtsgrundsätze des Bundesgerichtshofes, welche mit "Treu und Glauben" und der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Verwertungs-/Anerkenntnisinteressen des Autors seitens des Bundesverfassungsgerichtes wieder sehr eng werden können. Vehement widersprechen möchte ich aber vor allem dem Ansatz des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichtes, welcher von den unteren Instanzen bisher noch kritiklos übernommen wird. Herangezogen wird in deren Argumentation neben § 39 UrhG (Berücksichtigung der Urheberpersönlichkeitsrechte bei Vertragsauslegung) auch § 14 UrhG: "Der Urheber hat das Recht, eine Entstellung oder eine andere Beeinträchtigung seines Werkes zu verbieten, die geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk zu gefährden." Doch wie können die Erben oder der Verlag bestimmen, was man unter der Entstellung eines Textes zu verstehen hat?
Brechts "Laxheit im Umgang mit Fragen geistigen Eigentums"
Meines Erachtens müssen hier das Wirken und die Ansicht des Autors oder der Autorin selbst maßgeblich sein. Wenn Bertolt Brecht ausführlich und immer wieder darauf hingewiesen hat, dass er selber Texte, Stilmittel, Ideen und Theaterformen Dritter übernommen und genutzt hat, so ist allein dieses Vorgehen und dieses Kunstverständnis maßgeblich für den Grundsatz von "Treu und Glauben" und der Freiheit der Kunst gemäß der Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes in "Germania 3" von Heiner Müller. Das heißt: Wenn ein Autor oder eine Autorin selbst fremde Werke zur Inspiration oder Änderung der eigenen Ansichten nutzt, dann kann eine Fortsetzung dieser Arbeit durch Dritte nur in einer Weise eine Entstellung darstellen, als diese sich von der eigenen Rezeption der betroffenen Autorin oder des Autors unterscheidet.
Das Brecht-Handbuch zur "Werkeinheit" von "Baal": pic.twitter.com/EGSVAAa9be
— Andreas Tobler (@tobler_andreas) 31. Januar 2015
Wie wäre es denn gewesen, wenn das Landgericht München I dem Antrag stellenden Verlag und Frau Brecht-Schall freigestellt hätte, von dem München Residenztheater zu verlangen, eine Originaltextausgabe auszugeben, damit man "Original" und Inszenierung voneinander unterscheiden kann? Niemand zwingt zu dem Besuch eines Regisseurs, der aus der Verwendung der Texte Dritter kein Geheimnis macht.
Für einen Paradigmenwechsel, wider die Interessen der Erben und Verlage
Maßgeblich bleibt, dass die deutsche Rechtsprechung bisher den Verwertungsinteressen der Verlage und der Erben eine in § 14 UrhG so gar nicht vorgesehene rechtliche Bedeutung einräumt. Es wird deshalb ein Paradigmenwechsel angeregt, welcher die Interessen der Erben und Verlage im Hinblick auf die Inszenierung von Theaterstücken vollständig vernachlässigt, auf die eigenen Rezeptionsgewohnheiten der Künstler selbst abstellt und der Kunstfreiheit den eindeutigen Vorrang einräumt, welcher ihrer "schlechthin konstituierenden Bedeutung" als Medium und Plattform für die Thematisierung von sozialen Konflikten auch zukommt. Der wunderbar beschreibende Begriff der "Verhandlung" gesellschaftlicher Konflikte auf der Bühne bliebe bedeutungslos, wenn nicht auch gerade Klassiker noch lebender oder gar nicht so lange toter Autoren Gegenstand einer freien Auseinandersetzung werden können.
Carl Zuckmayer hat bei seinem Stück "Des Teufels General" zu Lebzeiten selbst noch maßgebliche Korrekturen eingefügt, als er merkte, dass sein Stück das Alibi für viele "Wiederaufarbeitungsunwillige" wurde. Aber auch der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Ausschwitz-Prozess in Frankfurt haben bei ihm selbst ein Umdenken bewirkt. Ein Gedankenspiel: Was wäre gewesen, wenn Carl Zuckmayer aufgrund eines tragischen Unfalls noch 1948 gestorben wäre, und dann die späteren Entwicklungen gar nicht mehr hätte zum Anlass nehmen können, um sein Stück noch zu ändern?
Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht wären wohl nur wenig hilfreich gewesen, wenn es ebenso streitbare Erben wie im Fall von Bertolt Brecht gegeben hätte. Auch diese Standpunkte von Autoren, aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren und kritisch zu betrachten, müsste also in die jeweilige Rezeption einfließen, und – ungeachtet der eigenen Rezeptionsgewohnheiten der Autoren und Autorinnen – den tatsächlich ausschlaggebenden Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Inszenierung darstellen.
Kunstfreiheit ist so schützenswert wie Meinungsfreiheit
Aber auch das Gegenteil einer solchen Sicht des Autors muss zulässig sein, um die Kunstfreiheit "frei atmen" zu lassen und ihr die Möglichkeit der provokativen, lebendigen, leidenschaftlichen, viele vielleicht verärgernden Inszenierung zu bieten, die – wenn sie Meinungsäußerungen wären – gerade dann und deshalb den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Schutz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) genießen.
Da aber das deutsche Verfassungsrecht aufgrund seiner "völkerrechtsfreundlichen Haltung" auf diese Rechtsprechung besonderen Bezug nimmt, wäre Kunstfreiheit schon aufgrund der EMRK grundsätzlich ein "Anwendungsvorrang" einzuräumen, welche jede Form der verfassungsrechtlichen Interessenabwägung, die auch die unteren Instanzen vorzunehmen haben, prägt. Es lebe die Freiheit der Kunst!
Rechtsanwalt Jan Froehlich, LL.M. (University of London), Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz und Fachanwalt für Informationstechnologierecht, berät Theater, Theaterregisseur*innen und Schauspieler*innen in Fragen des Vertragesrechtes, urheberrechtlicher Auseinandersetzungen und der Nutzung und Verwendung von Sozialen Medien.
Im Februar 2015 berichtete der Jurist Rupprecht Podszun für nachtkritik.de vom Prozess Suhrkamp vs. Residenztheater und schrieb im Mai 2015 eine kleine Theatergeschichte der jüngeren Urheberrechtsdebatte.
Alles über den "Baal"-Urheberrechtsstreit finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.
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