Gefangen zwischen Zynismus und Tragödie

von Kai Bremer

Osnabrück, 11. Dezember 2010. Die straff gegelte Blondine bereitet geschäftig ihren Smoothie zu. Ihre schlanken Beine in der Reiterhose ebenso wie das penibel aufgereihte Obst auf dem Tisch vor ihr machen unmissverständlich klar, wie wohlgeordnet ihr Leben ist. Vielleicht hat sie sogar ein wenig Humor: "N' Apfel ist die Mango aus Deutschland!", so scherzt sie, bevor sie unvermittelt eine ungeschälte Kiwi in sich reinschlingt und sich dabei die weiße Bluse einsaut.

Ihre Alltagsfassade verwandelt sich alsbald in eine Fratze, die ihren abwesenden Psychoanalytiker beschimpft: "Kleiner fetter Jude." Ihr Körper aber ist längst zur political correctness erzogen. Wie zur Strafe für ihren privaten Antisemitismus bekommt sie Bauchschmerzen. Magdalena Steinlein spielt das perfekt gestylte Blondchen der Figur angemessen. Ihr manischer Versuch, immer alles 'gut' machen zu wollen und trotzdem zu scheitern, wirkt komisch. Aber auch nur ein bisschen.

Die Mutter, ihr gefallener Sohn, das Überbringen der Nachricht

Es ist keine neue Idee von Mark Ravenhill, die Folgen von 9/11 auf die Gesellschaft mit Hilfe von Alltagsbanalitäten und -hysterien durch den Kakao zu ziehen. Das war schon in "Das Produkt" der Fall. Nun hat er sich wieder des Themas angenommen. In "SHOOT / GET TREASURE / REPEAT" hat er Szenen versammelt, die lediglich in sich geschlossen sind, nicht aber zusammen eine Handlung bilden.

In der Osnabrücker Aufführung hat Regisseurin Marie Bues die daraus resultierenden Freiheiten genutzt. Sie nimmt die Mehrzahl der Szenen auf, hat sie souverän neu geordnet und durch einige geschickte Griffe miteinander verknüpft. Zur Eröffnung mischt sie den Chor der Troerinnen mit der Szene "Gestern gab es einen Vorfall", die von einem Angriff auf einen Schauspieler am vorhergehenden Theaterabend handelt und in die Forderung nach Überwachungstechniken und Ermittlungsverfahren im Theater mündet. Vor allem aber hat sie die Szene "Die Mutter", in der zwei Abgeordnete des Militärs einer Mutter (Verena Fitz) klarzumachen versuchen, dass ihr Sohn gefallen ist, über den gesamten Abend verteilt und diesen dadurch verknüpft.

Im Dunstkreis der Ängste

So überzeugend diese Lösungen dem ersten Eindruck nach sind, sie zeigen zugleich das Dilemma, in dem sich vielleicht jede Inszenierung von "SHOOT / GET TREASURE / REPEAT" befindet. Denn auch wenn es keine durchgehende Handlung oder ein einheitliches Personal gibt, haben die Szenen doch einen gemeinsamen Kern. Bestimmte Figurationen und Motive kehren wieder: der Engel mit dem gebrochenen Flügel, den Bues peripher behandelt; der unvermittelte Einbruch des Krieges in die heile Wohlstandswelt; das Engführen von sexueller und militärischer Gewalt.

Bues nimmt all das wie auch Ravenhills zynische Sicht auf die Ängste der westlichen Welt und ihrem Beharren auf ihren Werten auf. Sie findet dafür vielfältige ästhetische Lösungen. Doch weder der martialische Chor noch die Video-Einspielungen (Thorsten Alich), die im Bühnenhintergrund projektiert werden und in die Szenen gut eingebunden sind, lösen das Problem, dass hier die konkrete Bedrohung der westlichen Welt lapidar behandelt wird. Man fragt sich immer wieder, ob bei der Londoner Aufführung des Stücks Anschlagsopfer im Publikum saßen, und wie es ihnen ging, als Ravenhill ihnen ihre Smoothie-Spießigkeit vor Augen zu führen versuchte.

Ignorierter Konflikt der Freiheit und ihrer Durchsetzung

Hinzu tritt eine weitere Schwierigkeit. Auch wenn "SHOOT / GET TREASURE / REPEAT" gemessen an Ravenhills bisherigen Stücken bemerkenswert offen ist, so ist es weiterhin ein Drama, das auf Illusion und daraus resultierender emotionaler Wirkung setzt. Deswegen ist es nicht konsequent, wenn in der Szene "Verbrechen und Strafe" der Soldat der Frau zwar die Zunge herausschneidet, die Brutalität der Szene aber nur angedeutet wird, da die Frau mit dem Rücken zum Publikum liegen bleibt und lediglich eine Blutlache auf dem Boden zu sehen ist. Ravenhills Wertschätzung physischer und psychischer Gewalt ist weiterhin das wesentliche Merkmal seiner Dramatik.

Am Ende erzählt eine Jugendliche per Videobotschaft von ihrer Hoffnung, dass irgendwann einmal ihr Brieffreund in seinem fernen Land so frei und glücklich leben kann, wie sie selbst es in ihrem schon tut. Auf diese Weise hat Bues am Ende versucht, sich von Zynismus und Brutalität zu befreien. Es gelingt ihr dadurch den Konflikt anzudeuten, den Ravenhill ignoriert: den Konflikt zwischen Freiheit und ihrer Durchsetzung. Früher hat man einen solchen Konflikt Tragödie genannt. Die Osnabrücker Inszenierung lässt am Ende erahnen, dass die Tragödie weiterhin aktuell ist. Nur muss man auch eine Tragödie inszenieren, um das überzeugend behaupten zu können.

 

SHOOT / GET TREASURE / REPEAT
von Mark Ravenhill
Regie: Marie Bues, Bühne: Johanna Fritz, Kostüme: Floor Savelkoul, Musik: Anton Berman, Video: Thorsten Alich.
Mit: Saskia Boden, Verena Fitz, Magdalena Steinlein, Alexander Jaschik, Dominik Lindhorst, Jan Schreiber, Olaf Weißenberg.

www.theater-osnabrueck.de


Mehr zur Ravenhills Stück: Claus Peymann inszenierte Shoot/Get Treasure/Repeat im September am Berliner Ensemble. Mehr zur Regisseurin Marie Bues: wir besprachen ihre Uraufführung von Matias Faldbakkens Romantrilogie Final Girl im Dezember 2009 in Basel und Der Berg, über den kein Vogel fliegt, das im Februar 2009 ebenfalls in Basel Premiere hatte.


Kritikenrundschau

"Geschickter kann momentan wohl niemand einsteigen" in Mark Ravenhills "Shoot/Get treasure/Repeat", meint Christine Adam von der Neuen Osnabrücker Zeitung (13.12.2010): das Osnabrücker Theater selbst wird zum fiktiven Anschlagsort erklärt. "Aktueller kann Theater auch kaum sein". Da "momentan islamistische Attentate in der vorweihnachtlichen Luft liegen" seien "Vorsichtsmaßnahmen dagegen gar nicht mehr so absurd, erscheinen der Ausnahmezustand und seine Entgleisungen psychologisch nachvollziehbar". Die geänderter Reihenfolge von Ravenhills Variationen erscheinen der Kritikerin ebenso schlüssig wie Kürzungen und Ergänzungen. "Fast jedes Stück schlägt ein wie der Blitz", zumal die Schauspieler "mit brennender Eindringlichkeit und punktgenauer Emotionalität spielen". Es lasse sich studieren, wie Angst Ungeheuer gebiert, "aufrichtige Fürsorge verwandelt sich zu böse lauernder Gewaltsamkeit", "Krieg wird aber auch in den Köpfen vorbereitet". Das Ganze sei "pralles Theater, das auf fast kahler Bühne (...) das Grauen mithilfe vorzüglicher Videoeinblendungen (...) hereinholt" - ein Theaterabend, "der als Warnung unter die Haut geht".

 

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