Alexander Granach - Angelika Wittlichs Porträt des Schauspielstars der Weimarer Republik
Überwirkliche Wirklichkeit
von Georg Kasch
Berlin, 4. Dezember 2012. Es ist nur ein Gesicht, schwarz und weiß fotografiert, das vor nachtfinsterem Grund pulsiert zwischen Klarheit und Unschärfe: Mal glaubt man, deutlich die dunkel glänzenden Augen zu erkennen unterm vollen, dunklen Haar und den sinnlichen Mund, dann wieder verschwimmen die Konturen. Ein treffendes Bild, das die Macher des Dokumentarfilms "Alexander Granach – Da geht ein Mensch" im Abspann gefunden haben für das Bemühen, eine Person lebendig werden zu lassen, die seit über 65 Jahren nicht mehr lebt. Zumal einen Schauspieler, von dem – immerhin! – ein paar Kinofilme existieren (darunter legendäre wie Murnaus "Nosferatu" und Lubitschs "Ninotschka") und wenige Tonaufnahmen, Fotos natürlich und Briefe.
Den Theaterhistorikern die Tränen in die Augen treiben
Aber wie kriegt man so jemanden lebendig? Zumal jemanden derart vitalen wie Alexander Granach, der einer der bedeutendsten Schauspieler des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik war? Ein Ostjude, der mit 14 Jahren zum ersten Mal Theater erlebt, jiddisches Arbeitertheater, der erschlagen ist von dieser "überwirklichen Wirklichkeit" und sofort weiß: Das will ich machen? Der mit 16 nach Berlin geht, ein Bäckergeselle, Deutsch lernt, bei Max Reinhardt genommen wird, sich die krummen Beine brechen lässt für die Karriere? Der bei Leopold Jessner, Bertolt Brecht, Erwin Piscator und mit Gustaf Gründgens, Peter Lorre und Heinrich George an vier Berliner Theatern gleichzeitig in Produktionen spielt, die dem Theaterhistoriker die Tränen in die Augen treiben? Der sowohl Hitler als auch Stalin im letzten Moment von der Schippe springt, um dann, mit 54 und auf dem Weg zum Hollywoodstar, an den Folgen einer Blinddarmoperation zu sterben? "Er kam nicht, er schlug ein", heißt es einmal, und so muss man sich Granach wohl vorstellen – als fröhlichen Workaholic, eine Naturgewalt, getrieben von der Lust am Spiel, gezähmt von der Schauspielkunst.
Markenzeichen Fremdheit
Regisseurin Angelika Wittlich versucht es nicht mit Mutmaßungen und Dokufiktion, sondern mit kreativer Archäologie und Einfühlungstricks: Knapp 300 Briefe aus dem Exil sind erhalten von Granach an seine Langzeitgefährtin Lotte Lieven, eine Kollegin am Zürcher Schauspielhaus. Juliane Köhler liest sie in Lievens herrschaftlichem Haus in der Schweiz, die Kamera kommt ihrem verletzlich wirkenden Gesicht erstaunlich nah. Gleich in der ersten Einstellung sieht man sie an einem See, wenig später sitzt sie in einem Zug und blickt verloren durch die mit Regentropfen gemusterten Fenster, während ihre Stimme jene Nachricht vorliest, in der Lievens Mutter von Granachs Tod in New York berichtet. Bei Granachs Briefen überlagert sich Köhlers Stimme mit der Samuel Finzis.
Natürlich ist es ein Wagnis, Finzis unerhört musikalische Diktion, dieses warme, liebevolle, zugleich widerständige Um- und Umwenden der Wörter als Granachs Ton zu setzen, von dem ja Tondokumente existieren und eingespielt werden: am bewegendsten die jiddischen Lieder ohne Begleitung, traumverlorenen und verwischt wie unser Bild von Galizien, das nur noch als literarische Landschaft besteht. Andererseits: Wer sonst als Finzi? Der das Deutsche ebenfalls erst spät lernte und aus diesem letzten Rest an Akzent und Fremdheit sein Markenzeichen machte? Und der, obwohl ein weitaus hellerer Typ als Granach, mit einer Intensität in die Kamera zu blicken vermag, die an Granachs zugleich glühende und beruhigende Augen zumindest erinnert?
Langhoffs Erinnerungen
Natürlich klappert auch Wittlich die Lebensstationen ab, spricht mit ehemaligen Nachbarn des 1890 im ostgalizischen Werbowitz als Jessaje Gronach Geborenen, reist nach Kiew, Moskau, Lemberg, Berlin, New York. Besonders bewegen Granachs Sohn Gad und Thomas Langhoff, der Lotte Lieven noch in Zürich begegnete – beide leben heute nicht mehr, zeichnen aber mit ihren Erinnerungen mehr als andere ein vibrierendes Bild des Schauspielers. Daneben die üblichen Verdächtigen, Historiker, Autoren, einmal auch ein Tiermediziner, der etwas zu Granachs letztem Krankenhaus sagen soll und dann doch nicht besonders viel weiß. Aber dieses Scheitern wird ebenso selbstbewusst inszeniert wie die Bilder der heutigen Städte und Landschaften, die Kameramann Lars R. Liebold mit panoramatischer Weite und Fremdheit (oft besitzen seine Farben etwas nachkoloriertes) filmt und die Wittlich konsequent gegen die Schilderungen von Damals setzt.
Die vielleicht schönste Schauspielerautobiografie
Spannend und fruchtbar wirken diese Reibungen auch deshalb, weil Wittlich immer wieder die Chronologie durchbricht, weil sie Ton und Bild mal essayistisch, mal featurehaft montiert, wendig Zeiten und Perspektiven wechselt, um all die Facetten dieses Weltbürgers aufleuchten zu lassen, der wie die Zeugen hier Jiddisch, Ukrainisch und Polnisch sprach, das biblische Hebräisch, Deutsch und Englisch. Und der der Welt die vielleicht schönste Schauspielerautobiografie hinterlassen hat, die es gibt: "Hier geht ein Mensch", posthum veröffentlicht, eine Hymne an seine Heimat Galizien und titelgebend auch für diesen Film. Ein höchst vitaler Epitaph auf einen untergegangenen Kosmos – wie dieser bemerkenswerte Film.
Alexander Granach – Da geht ein Mensch
Dokumentarfilm
Regie: Angelika Wittlich, Produzentin: Uschi Reich, Kamera: Lars R. Liebold, Schnitt: Natalie Kurz, Musik: Andrej Melita.
Mit: Juliane Köhler, Samuel Finzi, Gad Granach, Thomas Langhoff, Reinhard Müller, u.a.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten
Filmstart: 29. November 2012
www.zorrofilm.de
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