Kolumne: Straßentheater - Über notwendige Zeichen der Anteilnahme
Die laute Stille
10. Oktober 2023. Wo einen sonst die Solidaritätsbekundungen anspringen, bleibt es gerade erstaunlich still: Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel halten sich viele mit Solidaritätsbekundungen zurück – auch viele Theater. Warum Zeichen des Mitgefühls dennoch wichtig sind.
Von Janis El-Bira
10. Oktober 2023. Jetzt muss man sich also bekennen. Seit Beginn der fürchterlichen Terrorangriffe auf Israel wollen es viele schwarz auf weiß haben. Besonders jene, die sich in der Vergangenheit kritisch gegenüber israelischer Politik geäußert hatten, geraten nun in Bedrängnis: Ihre Verurteilung der Verbrechen wird, so sie denn erfolgt, als nicht weitreichend genug oder als geradewegs unehrlich gewertet. Andersherum kann sich auf eine Welle des Whataboutism und – fast ein neuer Begriff in diesen Tagen – "Bothsideism" gefasst machen, wer öffentlich Solidarität und Trauer um die Opfer bekundet: Man müsse doch erwähnen, dass… Man dürfe nicht vergessen, dass … Beide Seiten haben …
Das Leiden der anderen Seite
Es ist also kompliziert und wo es in Kantinen und auf Familienfeiern schon in ganz normalen Dauerkrisenzeiten schnell laut wird, wenn jemand das "Thema Nahost-Konflikt" anspricht, da wundert es kaum, wenn jetzt bei manchen gänzlich die Sicherungen durchknallen. Wie gestern auf einem Neuköllner Schulhof, wo es über einer palästinensischen Flagge dem Vernehmen nach zu Kopfstößen, Tritten und Fausthieben kam. Wohlgemerkt: zwischen Lehrern und Schülern. Keinen anderen Konflikt auf der Welt hat man in Deutschland aus historischen, vielfach antisemitischen, gelegentlich antimuslimischen und ganz bestimmt neurotischen Gründen derart zur eigenen Sache erklärt. Also soll man sich jetzt, da die Scheiße höher fliegt denn je, bitte endgültig positionieren: Sag mir, wie hältst du’s mit Israel?
Wohl auch deshalb fühlen sich das Trauern und die öffentliche Solidaritätsbekundung für viele nun ungleich gewichtiger an als bei anderen Terrorattacken, wenn routinemäßig die Profilbilder schwarz gefärbt und die GIF-Kerzen angezündet werden. Jede Geste des Mitgefühls, jeder Ausdruck von Anteilnahme zieht vermeintlich das politisch Komplexe hinter sich her und geht implizit über das Leiden der "anderen Seite" hinweg. Der Vorwurf des "selektiven Humanismus" ist schnell bei der Hand. Da entscheiden sich viele, lieber nichts zu sagen. Sie retten sich stattdessen in das Argument einer pauschalen Vernunftvermutung. Es lautet, dass man nicht eigens betonen müsse, einen barbarischen Akt der Gewalt widerwärtig und verachtenswert zu finden. Das verstehe sich, abgesehen vielleicht für einige rettungslos Verwirrte auf der Berliner Sonnenallee, schließlich von selbst.
Zeichen bleiben notwendig unterkomplex
Das ist nicht falsch. Aber die Stille ist doch laut, mit der auch in weiten Teilen der Theaterszene dem Horror der vergangenen Tage begegnet oder vielmehr lieber nicht begegnet wird. Auf den Social-Media-Profilen der meisten großen Häuser jedenfalls scheint die Welt in Ordnung, oder wenigstens nicht schlechter dran als vor dem Wochenende. Ausgerechnet die Theater, die sonst groß sind in Solidaritätsbekundungen, im Mahnen und Einmischen, die öffentlich mitgetrauert haben um die Opfer des Terrors in Paris und Nizza, in Hanau und Halle, in Butscha und Kramatorsk – ausgerechnet sie halten sich jetzt zurück.
Man mag nichts unterstellen. Vermutlich wollen viele sich nicht die Hetze einhandeln, die bei Statements dieser Art im Moment absehbar die Kommentare flutet. Und es stimmt auch, dass man eigentlich nicht zu sagen einfordern sollte, was eh klar sein muss. Die Linien dieses Konflikts zu scheuen, ist verständlich. Aber ist der Preis dafür wirklich, dass man so tut, als sei nichts geschehen? Geht es nicht auch um Zeichen, die man setzt, wissend darum, dass sie notwendig unterkomplex bleiben? Dass sie nie den Vollumfang des Leids abbilden werden? Dass das Brandenburger Tor, dieses deutsche Nationalsymbol in Gehdistanz zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, am Wochenende in den Farben der israelischen Flagge angestrahlt wurde, war ein solches Zeichen, ein Signal. Sehr deutlich, sehr einfach wurde da gezeigt, was vermeintlich nicht extra gesagt werden muss. Manchmal ist das Nicht-Komplexe gerade gut genug.
Kolumne: Straßentheater
Janis El-Bira
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
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Und überhaupt: wir sind hier in Tübingen auch erst einmal fassungslos. Unser Chefdramaturg fragte heute früh zurecht: Wie Solidarität zeigen, ohne sofort - ohne zeitliche Distanz und Raum für Trauer - wieder in die üblichen Diskussionsmuster bzgl. Israel zu verfallen? Wie kann man sich seine Humanität bewahren? Und was wird nun werden? - Jedenfalls haben wir hier in den letzten zwei Tagen auch mal die "Stille" akzeptiert.
Ich habe spät, aber hoffentlich nicht zu spät, gemerkt, dass es im Moment gut ist, sich bei den eigenen jüdischen oder israelischen FreundInnen und KollegInnen zu melden, weil die Situation in Israel, aber auch die Reaktionen oder der Mangel an Reaktionen in Deutschland oder im "Westen" gerade furchtbar für sie ist.
Man sollte denken, dass jede und jeder in unserem Land jedweden Terror und alle Barbarei unmissverständlich ablehnen würde. Und zumindest das sollten wir einander sagen.