Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Die paranoide Vorsicht beim Sprechen über Israel
Das Ende der Unschuld
5. Dezember 2023. Der stillschweigend ungedruckt bleibende Text eines israelischen Dramatikers, seltsame Diskussionen um eine Solidaritätserklärung – in Arbeitszusammenhängen ist schon seit sehr langer Zeit ein an Paranoia grenzender Umgang mit dem Thema Israel zu beobachten.
Von Wolfgang Behrens
5. Dezember 2023. Vor einer Woche erschien an dieser Stelle eine gewichtige, eine wichtige Kolumne von Esther Slevogt (gefolgt von einer noch andauernden, durchaus instruktiven Kommentar-Debatte), in der die Chefredakteurin von nachtkritik.de aufgezeigt hat, wie die Ideologie der BDS-Kampagne schleichend in unsere Kulturinstitutionen eingedrungen ist und so auf erschreckende Weise antisemitischen Haltungen zu neuen Räumen verholfen hat.
Der Befund des Textes hat mich seitdem nicht mehr losgelassen – und mit dem Nahen meines eigenen Kolumnen-Termins wurde mir klar, dass ich nicht einfach zur Tagesordnung der harmlosen Anekdotenplauderei übergehen können würde. Anstatt jedoch meine Kolumne abzusagen, habe ich mich nun entschieden, eine Art persönlicher Fußnote zu Esther Slevogts Beitrag zu liefern.
Grundstimmung in Arbeitszusammenhängen
Eine gerade in intellektuellen und künstlerischen Kreisen verbreitete Grundstimmung, sich nicht vorbehaltlos zum Existenzrecht des Staates Israel zu bekennen, beobachte ich schon lange. In Arbeitszusammenhängen bin ich ihr das erste Mal im Jahr 2006 begegnet, als ich noch ein Kritiker und Redakteur bei der Zeitschrift "Theater der Zeit" war. Damals haben wir bei dem israelischen Dramatiker und Dramaturgen Avishai Milstein einen Text in Auftrag gegeben, der die Situation des Theaters in Israel unter den besonderen Umständen des anhaltenden Konflikts mit den Palästinensern beleuchten sollte. Leider liegt mir Milsteins Artikel nicht mehr vor, doch ich erinnere mich, dass er sehr deutlich ein grundlegendes Dilemma Israels benannte: an den Verhandlungstisch mit Parteien und Gruppierungen gehen zu sollen, die wiederum als einzigen tatsächlichen Verhandlungserfolg die vollständige Zerstörung des Staates Israel ansehen würden. Wie könne man, fragte Milstein, unter einer solchen Voraussetzung überhaupt auf Augenhöhe miteinander sprechen?
Radikale Haltung?
Der Text löste damals bei uns in der Redaktion eine heftige Diskussion aus. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen hielten dieses klare Benennen der israelischen Situation für eine radikale Haltung, und es wurde eine Gegenposition von einem palästinensischen Künstler eingefordert, um sie zeitgleich mit Milsteins Text veröffentlichen zu können. Als sich diese Option jedoch kurz vor Drucklegung des entsprechenden Heftes zerschlug, wurde (gegen mein Votum) beschlossen, den Beitrag von Avishai Milstein stillschweigend im Reich des Ungedruckten zu belassen. Milstein schrieb mir damals überrascht: "Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass mein unschuldiger Aufsatz solche Zwiste entfacht."
An diese Episode wurde ich dieser Tage wieder erinnert, als wir am Hessischen Staatstheater Wiesbaden zum 9. November einen Text unseres ehemaligen israelischen Orchesterdirektors Ilia Jossifov veröffentlichten – samt einer Solidaritätsadresse des Theaters. Letztere wiederum legte Empfindlichkeiten bloß, auf die zumindest ich nicht gefasst war: Die Erklärung sollte ursprünglich schlicht mit "Solidarität mit Israel" überschrieben sein. Doch schon das ging einigen zu weit: Man müsse den Eindruck vermeiden, dass man sich mit der israelischen Regierung und ihrem Handeln solidarisiere. Der Kompromiss machte den Titel der Erklärung sperriger, aber immerhin konnte man sich auf "Solidarität mit dem Staat Israel und allen jüdischen Menschen" einigen.
Paranoide Vorsicht
Ein Irritationsmoment bleibt freilich: Die seltsame, fast paranoide Vorsicht, unabhängig von der aktuellen Regierung ein Bekenntnis zu Israel abzulegen. Ich frage mich, bei welchem anderen demokratisch verfassten Staat das so wäre. Würde ein Land wie Italien von einem Unglück oder gar einem Krieg bedroht werden, würden wir erst fragen, wer gerade dort Ministerpräsident:in ist, ehe wir uns solidarisierten? Vor einigen Jahren trat ein Freund von mir als Nicht-Jude eine Stelle als Lehrer an einer jüdischen Schule an. Er schloss jedoch kategorisch aus, eine Klassenfahrt nach Israel mitzumachen, da er das dortige "Regime" nicht unterstützen könne. Ich habe ihn damals gefragt, warum er denn dann nach Italien gefahren sei, als Berlusconi dort Ministerpräsident war. Das sei etwas Anderes, wurde mir beschieden. Aber warum soll das etwas Anderes sein?
Das Alarmierende an all diesen scheinbaren Petitessen: Es fällt vielen Menschen schwer, überhaupt das Wort "Israel" auszusprechen, ohne zugleich Relativierungen anzubringen. Die ständige Präsenz dieser Relativierungen hat offenbar inzwischen dazu geführt, dass das Existenzrecht Israels selbst bei denen, die sich selbst für wohlmeinendend Israel und Juden gegenüber halten, nicht mehr als selbstverständlich gilt und manchen von ihnen sogar die umstandslose Distanzierung von den Verbrechen des 7. Oktober schwerfällt.
Vermeindliche Ausgewogenheit
Avishai Milstein hat 2006 seinen nicht veröffentlichten Text als unschuldig bezeichnet: Er beschrieb einfach das, was war. Die gleiche Unschuld aber haben damals auch meine Kollegen und Freunde für sich in Anspruch genommen, die über die Nichtveröffentlichung entschieden. Schließlich wollten sie für sich doch "nur" in Anspruch nehmen, im sogenannten Nahost-Konflikt neutral zu bleiben und ausgewogen zu argumentieren. Dass diese vermeintliche Ausgewogenheit allerdings in Kauf nimmt, das bloße Beharren auf einem Dasein als völkerrechtlich anerkannter Staat bereits als latente Aggression zu deuten (und eine Stimme, die diese Selbstbehauptung zum Ausdruck bringt, deswegen zu unterdrücken), war schon 2006 mehr als bedenklich.
Ich widme diesen Text Ilia Jossifov, der nach seiner viel zu kurzen Zeit in Wiesbaden nun wieder mit seiner Familie in Tel Aviv lebt.
Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war
Wolfgang Behrens
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
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es gibt aber immer noch den Unterschied zwischen der Solidarität mit der Politik beziehungsweise den Machthabern eines Staates oder der Solidarität mit einem Staat (und dessen Existenzrecht, das Ziel dieses Angriffes war) an sich. Diese feine Unterscheidung fehlt mir bei Ihren an sich richtigen Ausführungen.
Dass das Sprechen und Schreiben über Israel anders aussieht als das Sprechen und Schreiben über andere Staaten, erkennt man daran, dass es den Begriff "Israelkritik" gibt. Wer oder was wird hier kritisiert? Die Regierung? Oder nicht doch gleich der ganze Staat?
Das Besondere des Wortes ist, dass nur selten der Name eines Staates mit dem Wort "Kritik" zu einer Einheit verschmolzen wird. Israel wird also sprachlich anders behandelt als andere Staaten, was daher einen sprachlichen Doppelstandard darstellt - und damit auch einen in der Haltung. Über einen anderen Doppelstandard schreibt ja Behrens.
Einzig "Amerikakritik" war einige Zeit populär; aber das wäre vielleicht ein anderes Thema.
1. Wer wissen will, wie Omar Barghouti, Mitgründer und Mastermind des BDS, immer noch denkt, möge im "Guardian" dessen Beitrag vom 16.10. konsultieren: https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/16/why-i-believe-the-bds-movement-has-never-been-more-important-than-now
......
3. Diese ganze Szene beruft sich so gerne auf Frantz Fanon, den Autor der "Verdammten dieser Erde". Fanon hat aber geschrieben: "Wenn es wieder gegen Juden geht, dann spitzt die Ohren: Ihr seid die nächsten!"
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Diesen Kommentar haben wir in gekürzter Form veröffentlicht, da wir einen Bericht darin nicht kurzfristig verifizieren konnten. Wir bitten um Verständnis bei diesem kontroversen Thema. Viele Grüße aus der Redaktion