Dass der Mensch zu so etwas fähig ist

12. April 2022. Wenn russische Soldaten in der Ukraine wüten, scheint klar, wer die Guten sind und wer die Bösen. Aber verraten wir nicht in der aktuellen Tendenz, alle Mitglieder eines Landes zu Feinden zu erklären, unsere Werte? Ein Aufruf zu mehr Differenzierung.

Von Wolfgang Behrens

12. April 2022. Kürzlich habe ich eine Passage in "Paare, Passanten" von Botho Strauß wiedergelesen, die mich bei meiner Erstlektüre vor vielen, vielen Jahren wohl kaltließ, die mich nun aber eigenartig berührte:

"Ich denke, daß es richtig ist, von Kunstwerken, vor allem auch von Filmen, zu erwarten, daß sie uns unentwegt mit moralischen Bewertungen beschäftigen mögen, und dies in einer solchen Folge, daß uns das Urteilen schließlich drunter und drüber geht und wir aus einem Wechselbad von Sympathie und Ablehnung, von Gut und Böse, mit welchen Begriffen wir ein und dieselbe Person schwankend bedenken, gar nicht mehr herausfinden."

Abscheu und Entsetzen

Schon zu der Zeit, als Strauß diese Zeilen schrieb (das Buch erschien 1984), werden die hier eingeforderten Filme nicht die Regel gewesen sein. Mittlerweile jedoch hat sich zumindest im Mainstream-Kino eindeutig ein Erzähltyp durchgesetzt, der von schwankenden moralischen Bewertungen gar nicht weiter entfernt sein könnte: In den Marvel-Filmen oder auch in den Filmen aus dem "Herr der Ringe"-Kosmos sind die Rollen von Gut und Böse sehr klar verteilt. Dass ein Elbe böse oder ein Ork gut sein könnte, steht schlicht nicht zur Debatte. Im Genre des Fantastischen mag das seinen guten Sinn haben; bedenklich wird es jedoch, wenn solche Schwarz-Weiß-Dramaturgien als Interpretationsschlüssel auch in die reale Welt hineingetragen werden.

NAC Illu Kolumne Behrens 2x2Doch halt! Erleben wir nicht gerade jetzt in brutaler Konsequenz, dass die Wirklichkeit leider eben solchen binären Schemata folgt? Bei dem verbrecherischen Krieg, den Russland in der Ukraine führt, kann es kein "Wechselbad von Sympathie und Ablehnung" geben, es bleibt nur Abscheu und Entsetzen. Die verübten Massaker in Butscha und anderswo verbieten den Gedanken daran, in den Tätern etwas anderes als unmenschliche Schlächter zu sehen. Und insofern ist es nur recht und billig, wenn sich seit Kriegsausbruch die Bestürzung über das von der russischen Regierung mutwillig herbeigeführte Grauen immer wieder neu formuliert. So hat etwa der Deutsche Bühnenverein Ende März seine Mitglieder gebeten, den Welttheatertag der Ukraine zu widmen und vor den Vorstellungen an diesem Tag ein Statement der ukrainischen Dramatikerin Natalka Vorozhbyt auszustrahlen. Darin heißt es u.a.:

"Die Knöpfe, die die Raketen in Marsch setzen auf unsere Theater, Städte, Menschen, werden von den Fingern gewöhnlicher Russen gedrückt, um uns zu vernichten. Sie begehen bewusst einen Genozid an den Ukrainern, und das im 21. Jahrhundert, heute. (…) Ich bitte Sie um Unterstützung – in Wort und Tat, und nicht zu vergessen, dass auch die russische Intelligenz Verantwortung für das trägt, was gerade in der Ukraine passiert."

Ist Russland ein "Feindstaat"?

Am 6. April erschien dann in der F.A.Z. ein Gespräch von Simon Strauß mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, in dem dieser begründet, warum er seine Teilnahme an einem Benefizkonzert des Bundespräsidenten, an dem auch russische Musiker teilnahmen, abgelehnt hat:

"Uns kann es jetzt nicht darum gehen, zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden. Denn Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine. Es ist nicht Putin, der Menschen in Butscha ermordet hat. Das waren konkrete Menschen aus verschiedenen Regionen Russlands. (…) Ich sage es ganz klar: Russland ist ein Feindstaat für uns. Und alle Russen sind Feinde für die Ukraine im Moment."

Zwei Tage später schrieb der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch ebenfalls in der F.A.Z.: "Heute früh habe ich mich bei dem Gedanken ertappt: Wie würde ich mir wünschen, dass sie [die russischen Soldaten] nur Marodeure wären. Das würde bedeuten, dass sie, trotz alledem, Menschen geblieben sind. Schlechte Menschen, böse Menschen, aber Menschen. Aber alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung. Russlands Bevölkerung hat sich erfolgreich selbst entmenschlicht. Das ist eine Antiwelt. Das ist ein Teil der Menschheit, der freiwillig zum Antimenschentum übergegangen ist."

Was wollen wir im Westen verteidigen?

Ich habe für alle diese Äußerungen großes Verständnis, denn sie entspringen einer Lage, die verzweifelt zu nennen wohl richtig wäre, wenn es nicht so lächerlich floskelhaft klänge. Und doch muss ich gestehen, dass mich auch ein Unbehagen angesichts der Rhetorik in diesen Wortmeldungen beschleicht: Es wird ausgelöst von dem durchgängig vorgebrachten induktiven Schluss vom Einzelnen auf das ganze Kollektiv – ein Schluss, den wir uns mit gutem Grund normalerweise verbieten (das fatale Muster ist bekannt: Wenn ein türkischstämmiger Mitbürger straffällig geworden ist, führt das oft genug zu dem Urteil: Alle Türken sind latent verbrecherisch veranlagt). In den angeführten Statements liegt dieser Schluss in der Annahme, dass alle Russen für die Kriegsverbrechen ihrer Armee verantwortlich seien. Andruchowytsch etwa sagt nicht, dass sich ein Teil der russischen Soldaten entmenschlicht habe, sondern "Russlands Bevölkerung". Das finde ich erschreckend. Denn damit ist ein Schritt vollzogen, der alle Russen im Grunde zu Orks erklärt: Sie sind keine Menschen mehr.

Klar ist, dass in einer Kriegssituation – und nicht zuletzt in einer, in der eine Partei aus der Verteidigung heraus agiert – Rhetorik dieser Art überlebenswichtig und kampfentscheidend sein kann. Ein ukrainischer Kämpfer, der in der moralischen Beurteilung seines russischen Gegenübers unschlüssig wird, mindert seine Schlagkraft grundlegend. Auch weil der Krieg keine moralischen Erwägungen mehr zulässt, ist er so verabscheuungswürdig. Es scheint mir indes heikel, diese Kampfrhetorik als nur mittelbare Kriegsbeteiligte ungefiltert zu übernehmen. Ganz abgesehen davon, dass man damit Eskalationsdynamiken das Wort redet, die gar einen Dritten Weltkrieg zur Folge haben könnten – abgesehen davon, muss man sich doch auch fragen, was genau eigentlich das ist, was wir im Westen verteidigen wollen. Die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine gehören dazu, unbedingt. Aber nach wie vor geht es auch um das simple Menschenrecht, um das Recht der Gleichbehandlung aller Menschen, das eine klassische Formulierung bei Hegel findet: "Es gehört der Bildung, [also] dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit [an], daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist."

Verhindern, dass Menschen wie Putin an die Macht kommen

Putin, die russische Regierung und die russische Armee treten dieses Recht gerade mit Füßen. Doch wir dürfen es umgekehrt nicht aufgeben, weshalb der Mensch als Mensch gilt, egal, ob er Jude, Muslim, Christ, Ukrainer oder Russe ist. Und machen wir uns nichts vor: Die Massaker in der Ukraine haben nicht deswegen stattgefunden, weil nur Russen zu so etwas fähig sind, sondern weil die Weltgeschichte schrecklicherweise immer wieder zeigt, dass der Mensch zu so etwas fähig ist – unter bestimmten Bedingungen. Die große Aufgabe der Menschheit besteht nicht darin, ein bestimmtes Volk (jetzt gerade die Russen) zurückzudrängen, sondern zu verhindern, dass diese Bedingungen eintreten. Und dass Menschen wie Putin an die Macht kommen, die solchen Bedingungen auf entsetzliche Weise Vorschub leisten.

Am Tag, der zwischen den Erscheinungsdaten der beiden Beiträge von Melnyk und Andruchowytsch lag, brachte die F.A.Z. einen ungemein mutigen Text des Petersburger Stadtabgeordneten Vitali Bovar, in dem dieser den Krieg einen Krieg nennt (was an sich in Russland schon unter Strafe steht) und die Vermutung aufstellt, dass eine funktionierender demokratischer Staat in Russland einen solchen Krieg nicht begonnen hätte. Die Demokratisierung Russlands sei daher ein "Problem der ganzen Welt". Ich kann den Russen, der dies schreibt, nicht als Feind betrachten. Und ich werde versuchen, dass mein moralisches Urteilen allen Russen, allen Ukrainern und allen Menschen gegenüber auch weiterhin, auch über diesen Krieg hinaus "drunter und drüber geht." Selbst, wenn das für den Moment unangemessen scheinen mag.

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

In seiner letzten Kolumne widmete sich Wolfgang Behrens dem Lob des Abonnenten.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: Danke
Danke für diesen differenzierten Text!
Kolumne Behrens: Danke
Der Text spricht mir aus dem Herzen; vielen Dank auch für den Hinweis auf den Artikel von Vitali Bovar in der FAZ. Solche Stimmen gibt es sicher noch mehr, nur dringen sie momentan nicht durch.
Kolumne Behrens: Erschrecken
Lieber Herr Behrens, ich lese Sie gerne. Dennoch kann ich ihnen diesmal nicht ganz zustimmen. Natürlich ist es eine Binsenwahrheit, dass es in einem Volk nie "alle" sind. Dennoch höre ich bei vielen, die Sie zitieren und auch von anderen, dass es ein großes Erschrecken darüber gibt, wie deutlich eine Mehrheit der russischen (auch intellektuellen) Menschen die Politik Putins unterstützen, zumindest tolerieren. Aus unserer Sicherheit lässt sich da trefflich raten. Daher, da auch ich nicht oberklug sein möchte, sende ich Ihnen ein Gedicht von Brecht, in Erinnerung dessen, was auch mal mit unserem Volk geschah. Wir Deutschen konnten uns aus dieser Verstrickung, aus dieser Mitwisserschaft, aus dieser Mittäterschaft nicht selbst befreien. Es brauchte dafür Millionen Soldaten der Anti-Hitler-Koalition, die kämpften und starben und siegten.

Bertolt Brecht 1933

Mögen andere von ihrer Schande sprechen
ich spreche von der meinen.

O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.
Unter den Befleckten
Fällst du auf.

Von deinen Söhnen der ärmste
Liegt erschlagen.
Als sein Hunger groß war
Haben deine anderen Söhne
Die Hand gegen ihn erhoben.
Das ist ruchbar geworden.

mit ihren so erhobenen Händen
Erhoben gegen ihren Bruder
Gehen sie jetzt frech vor dir herum
Und lachen in dein Gesicht.
Das weiß man.

In deinem Hause
Wird laut gebrüllt, was Lüge ist.
Aber die Wahrheit
Muß schweigen.
Ist es so?

Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber
Die Unterdrückten beschuldigen dich?
Die Ausgebeuteten
Zeigen mit Fingern auf dich, aber
Die Ausbeuter loben das System
Das in deinem Hause ersonnen wurde!

Und dabei sehen dich alle
Den Zipfe deines Rockes verbergen, der blutig ist
Vom Blut deines
Besten Sohnes.

Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.
Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer
Wie beim Anblick einer Räuberin.

O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie haben deine Söhne dich zugerichtet
Daß du unter den Völkern sitzest
Ein Gespött oder eine Furcht!
Kolumne Behrens: Auf die Freunde setzen
Lieber Herr Soubeyrand,

vielen Dank für das Brecht-Gedicht!

Was das Erschrecken betrifft: Ja, selbst wenn ich nicht weiß, inwieweit man den Zahlen der "Umfragen" in Russland trauen kann, ahne ich, dass tatsächlich weite Teile der russischen Bevölkerung Putins verbrecherischen Krieg unterstützen (Vitali Bovar hat das in seinem Artikel auch eingeräumt und sogar beziffert). Und das erschreckt mich auch. Und es ist mir psychologisch auch vollkommen nachvollziehbar, dass man schließlich gegen die gesamte Nation Anklage zu erheben geneigt ist.

Aber, und das ist mir wichtig: Man sollte doch an diejenigen Teile der russischen Bevölkerung (und Intelligenz) appellieren, die Putin nicht unterstützen. Man sollte diese Teile als Koalitionspartner begreifen, die für ein demokratischeres Russland stehen können. Wir alle hoffen auf eine Ära nach Putin - man wird dann dort Menschen benötigen, die an einem demokratischen Aufbau ein virulentes Interesse haben. Dazu allerdings bringt es m.E. nichts, diese Leute wegzubeißen oder ein ganzes Volk zu dämonisieren. Sätze wie: "Alle Russen sind Feinde" oder "Russlands Bevölkerung hat sich entmenschlicht" halte ich da in ihrer Allgemeinheit einfach nicht für hilfreich. Es gibt diese Feinde, es gibt diese Entmenschlichung - aber damit sich in Russland etwas ändert, müssen wir dort auf die Freunde und die Menschen setzen.
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