Medienschau: Die Welt – Ulrich Matthes im Interview

Träger der Sinnlichkeit

Träger der Sinnlichkeit

10.8.2024. "Ich bin ein durch und durch liberaler Fritze. Das Theater hat viele Wohnungen wie unsere Gesellschaft auch. Das strenge Entweder-oder ist mir im Theater und in den Künsten überhaupt fremd", sagt Ulrich Matthes im Interview mit Jakob Hayner in der Welt.

Er halte es nicht für konservativ, Klassiker für die Gegenwart zu befragen. "Ich glaube, die sagen uns noch etwas", so Matthes. "Die Klassiker sind einfach irre gut. Jedes Mal, wenn ich einen zur Hand nehme, werde ich ganzheitlich herausgefordert: intellektuell, emotional, sprachlich, sinnlich, körperlich. Das schaffen, mit Verlaub, nicht alle heutigen Autoren. Und wer es heute schafft, wird vielleicht auch ein Klassiker."

Er vermute aber auch, "dass gerade Schiller und Shakespeare, wenn sie heute ins Theater gingen, eine Aufführung von Frank Castorf irgendwie aufregend oder cool finden würden." 

"Ich kann nur allen Intendanten der großen Häuser von Hamburg über München und Zürich bis Wien zurufen, die große Vielfalt des Theaters zu zeigen. Man kann nicht Theater nur für eine Blase machen. Es gibt halt auch noch eine große bürgerliche Klientel." Viele Leute gingen außerdem immer noch wegen der Schauspieler ins Theater. "Und das ist auch gut so. Der Schauspieler ist der Träger der Sinnlichkeit im Theater, der seinen Körper, seinen Humor, sein ganzes Hopsasa zur Verfügung stellt. Das wird nicht aussterben. Man wird noch in 50 Jahren wegen der Schauspieler ins Theater gehen."

In der umstrittenen ersten Spielzeit von Iris Laufenberg als Intendantin des Deutschen Theaters, dessen Ensemble Matthes angehört, sei "mehr geglückt, als die notorisch pampigen Kritiker der Stadt Berlin uns weismachen wollen".

Apropos Berlin – auf die Frage, was seiner Ansicht nach mit der Volksbühne passieren müsste, sagt Matthes: "Mir fällt offen gestanden kein Regisseur ein, der die Kraft und die Ausstrahlung hätte, dieses Haus mit dieser Tradition als regieführender Intendant zu leiten. Castorf hatte das, ohne Frage, aber ein Castorf-Revival wäre Quatsch. Pollesch hatte diese Kraft schon nicht mehr, obwohl er ein großartiger und bedeutender Theatermacher war. Ich glaube nicht an die Namen, die so kursieren. Also doch ein Tanzhaus? Ich weiß es nicht. Heute sind die Kassen klamm, Stichwort: Schuldenbremse, und die AfD scharrt mit den Hufen. Man kann sich nicht hinstellen und sagen, was soll's, geben wir die Volksbühne Ersan Mondtag und schauen einfach mal. Das funktioniert nicht. Mondtag ist ein begabter Regisseur, das will ich gar nicht bestreiten, aber gleich als Intendant der Volksbühne?"

(Welt / sd)

Kommentar schreiben