Von den Tieren lernen

3. September 2024. In seinem jüngsten Text prophezeit der Dramatiker Wolfram Lotz ein Theater der Zukunft, das sich vom heutigen völlig unterscheidet. Wie soll es aussehen?

Interview von Michael Wolf

Wolfram Lotz © André Simonow

3. September 2024. Das Gespräch fand in Berlin-Schöneberg statt.

Wolfram Lotz, Mitte Juni haben Sie per E-Mail einen Text an Freund*innen und Kolleg*innen geschickt, mit dem Angebot, diesen beliebig weiterzuverbreiten. Wie sind bislang Ihre Erfahrungen mit dieser Art der Veröffentlichung?

Ich bekomme über die Rückmeldungen ein Gefühl dafür, was die Chancen und auch die Probleme des Textes sind – und da gibt es einige. Von beidem! Für mich war aber schon von Anfang an klar, dass das ein sehr spezieller Text ist, der sehr auf die Gnade der Lesenden angewiesen ist. Man braucht wirklich viel Geduld mit ihm.

Und ich dachte, die ganze Sache ist ohnehin so sehr auf die anderen angewiesen, dass es gut wäre, meine Überlegungen auch auf eine Weise zu veröffentlichen, die dem Rechnung trägt. Was ich natürlich eher nicht mitbekomme, ist, wie genervt manche vielleicht davon sind. Also ich würde verstehen, wenn die Leute im Theater, an die der Text sich ja richtet, darauf keinen Bock haben, also wenn die im Stress sind wegen einer Produktion oder der Programmplanung oder was auch immer und dann kommt so ein wirklich seltsamer Text von mir. Der ja eine Art Werkzeug sein soll, mit dem begonnen werden kann, ganz langsam ein tatsächlich anderes Theater hervorzubringen. Ich glaube, ich würde total verstehen, wenn die sagen: Die Texte von diesem Wolfgang Lutz fanden wir ja immer ganz nett, aber jetzt reicht's, dem ist das Hirn in die Pfanne gefallen! Trotzdem ist mir die Sache extrem wichtig, ich bin seit zehn Jahren damit beschäftigt.

Ihr Text beginnt mit der Frage, was sich verändert, wenn Tiere die Bühne betreten.

Das übliche Theater unserer Zeit ist in seiner Struktur monologisch. Damit meine ich nicht, dass nur eine Person oder Figur auf der Bühne spricht, sondern dass die ästhetischen Zeichen einer Produktion nur von einer Position her ausgerichtet werden. Dabei ist unerheblich, wer in einer Theaterproduktion da die Entscheidungen trifft, sei es ein einzelner Regisseur oder ein Kollektiv. So oder so gibt es nur eine Position, von der aus die Zeichen herkommen, eine Art ästhetische Zentralperspektive.

erniedrigte3 560 Sebastian Hoppe u "Erniedrigte und Beleidigte" nach Fjodor M. Dostojewski unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz, 2018 von Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel Dresden inszeniert © Sebastian Hoppe

Wenn nun aber ein Tier die Bühne betritt, verändert sich diese Konstellation bisher am stärksten. Tiere ordnen sich nicht einfach unter. Ihre Anwesenheit auf der Bühne hinterfragt die Situation total. Da deutet sich also ein anderes Theater an, in dem das Monologische durchbrochen ist. Da wird etwas erahnbar, was ich dialogisches Theater nennen möchte.

Das heißt: monologisches Theater + Tiere = dialogisches Theater?

Nein, wenn die Tiere auf die Bühne kommen, ist das noch kein dialogisches Theater. Aber es ist der Punkt, wo ein dialogisches Theater für mich am erahnbarsten wird, wo es kurz davor zu sein scheint, ohne dass es bereits ein wirklich dialogisches Theater wäre. Das hat aber nichts mit den Tieren als solchen zu tun. Also, es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen Tieren und Schauspieler*innen oder auch Kindern auf der Bühne. Das sind nur Unterschiede in den Intensitäten.

Wie meinen Sie das?

Es gibt kein rein monologisches Theater, das Dialogische ist in Spuren immer Teil unseres bisherigen monologischen Theaters, einfach schon dadurch, dass Theater in der Realität stattfindet. Selbst Schauspieler*innen, die das konventionellste Theater spielen, tragen ja in ihren spezifischen Körpern etwas, das dem Einheitlichen Widerstand leistet. Bei Tieren und Kindern ist das vielleicht nur ausgeprägter als bei erwachsenen Schauspieler*innen …

Das Dialogische taucht also auf, sobald jemand oder etwas der Intention einer Theaterproduktion widerspricht. Sobald etwas nicht nach Plan läuft. Aber ist das nicht der Normalzustand auf dem Theater?

Ja, naja, wir alle wissen, dass Theater genau von dieser Unplanbarkeit lebt. Aber ich würde sagen, es geht nicht um die Unplanbarkeit selbst, sondern um das Nicht-Monologische, das sich aus dieser Unplanbarkeit ergeben kann. Das Dialogische wird bisher aber nicht strukturell gesetzt. Im Gegenteil arbeitet eine normale Theaterproduktion ja sogar panisch darauf hin, dass selbst diese Abweichungen nicht auftreten.

Im performativen Theater ist das anders …

Einerseits ja, andererseits liegt da genau das Verwechslungsproblem. Ich würde ja sagen: Performatives Theater ist monologisches Theater, das es stärker darauf anlegt oder auch einplant, dass der Monolog durch das ständige Zwischenrufen der Realität unterbrochen wird. Das ist aber noch kein Dialog. Zwar beinhalten beispielsweise Happenings oder bestimmte Formen von partizipativem Theater am Ende extrem viele dialogische Elemente, aber sie bleiben in der Struktur ihrer Produktion monologisch. Ich meine aber ein wirklich dialogisches Theater, was die Herstellung angeht. Das hat mit performativ oder nicht-performativ erstmal nichts zu tun.

Sie müssen genauer erklären, was Sie mit "dialogisch" meinen.

Es hilft wirklich, sich ein Gespräch vorzustellen, ganz konkret. Also eine Struktur, in der unterschiedliche Positionen aus unterschiedlichen Richtungen zueinander sprechen und es diesbezüglich nicht zu einer Einheit kommt. Aber das, was wir Gespräch nennen, ist trotzdem etwas Ganzes.

Auch wir sind gerade in einem Gespräch …

Genau. Sie stellen mir vielleicht eine Frage, und ich könnte dann imaginieren, was Sie hören wollen oder was vielleicht gut wäre für so ein Interview. Das wäre für mich monologisch, obwohl wir miteinander sprechen. Das wäre, wie unser Theater bisher verfährt. Oder aber ich versuche, möglichst selbstbestimmt das zu sagen, was ich sagen möchte, und trotzdem genau auf Ihre Frage zu antworten. Das wäre dialogisch. Und ich glaube an dieses System, also sozusagen an die Ästhetik eines Gesprächs. Um die geht es mir. Deswegen habe ich das Theater, von dem ich hier spreche, ja auch so genannt: dialogisches Theater. Ich verstehe aber, dass das wirklich nicht sofort verständlich ist, dass es eine sehr geduldige und zärtliche Imagination braucht, um mir zu folgen.

Welche wären denn Ästhetiken, in denen sich das Dialogische zu erkennen gibt?

Man könnte Spuren davon sicherlich zum Beispiel im barocken Theater finden, aber da liegt es auch nicht. Denn wenn ich das sage, dann denken alle: Ah, er meint Barocktheater. Es ist mir wichtig, dass man versteht, dass es wirklich erst hervorgebracht werden muss. Es geht nicht darum, so schnell wie möglich auf was zu zeigen, sondern kurz einen imaginären Leerraum auch auszuhalten, der erstmal vielleicht noch nicht gedanklich betreten werden kann, aber der gerade dadurch später überhaupt erst betretbar wird.

Wenn es um Hinweise in heutigen Theaterproduktionen geht, dann habe ich da noch am ehesten vielleicht was bei René Pollesch gesehen, bei dem die Bühnenbildnerin "erste Autorin des Abends" war. Das war noch kein dialogisches Theater, weil hier immer noch eine Instanz den Anfang machte und dann die nächste folgte und dann die übernächste – dieses Einreihen ist weiterhin monologisch.

geht es dir gut2 ThomasAurinFabian Hinrichs in Katrin Bracks Bühnenbild für "Geht es dir gut" 2022 an der Berliner Volksbühne © Thomas Aurin

Aber dadurch, dass die "normale" Abfolge verändert war, dass also das Bühnenbild am Beginn steht und nicht die Regie oder der Text, war das System immerhin zerlockert, andere Möglichkeiten durchzuckten alles, alle Positionen wurden dadurch bisschen autonomer. Ich glaube, im Aufeinandertreffen eines Schauspielerkörpers wie dem von Fabian Hinrichs und einem dieser Bühnenbilder und vielleicht einem dazu völlig unpassenden Kostüm lag und liegt am ehesten eine Ahnung davon, wie es aussehen könnte. Ohne dass ich sagen würde, das ist es schon. Darin ließe sich aber vielleicht behutsam eine Fährte erschnüffeln.

Geht es also um die Autonomie der beteiligten Künstler*innen?

Ja, aber um Autonomie in einem Gespräch, also in einer totalen Bezüglichkeit. Viele Leute verstehen unter Autonomie sofort etwas wie eine Isolation. Es meint für mich nicht Abgetrenntheit, es heißt eigentlich nur Selbstbestimmtheit. Autonomie kann für mich also zum Beispiel heißen, in einer Beziehung selbstbestimmt zu agieren.

Nun gibt es vor allem in der freien Szene viele Gruppen, in denen niemand jemand anderem sagt, was er oder sie zu spielen hat. Ist das dialogisches Theater?

Nein, noch nicht, auch wenn ich glaube, dass sich durch die Art und Weise, wie in diesen Zusammenhängen gearbeitet wird, die Wahrscheinlichkeit des Dialogischen erhöht.

In der freien Szene gibt es natürlich ein anderes Bewusstsein dafür, dass das Theater eine Kunst des Unterschiedlichen ist. Und dass es eigentlich keinen Sinn macht, es so rabiat einer einzigen Subjektposition zu unterwerfen.

Wolfram Lotz

Aber im Großen und Ganzen zielen diese Produktionsarten bisher weiterhin darauf ab, ein monologisches Kunstwerk herzustellen. Alle Beteiligten versuchen von sich aus, eine einheitlich-strömende Zeichenausrichtung zu finden, eine dialogische ist noch zu ungesehen, zu unvorgestellt. Auch Kollektive gründen letztlich nur komplexere Subjektkörper. Ob nun ein Kollektiv oder eine einzelne Person die eine Position besetzt, von der aus die Zeichen gesendet werden, spielt letztlich keine so große Rolle. Trotzdem gibt es in der freien Szene natürlich ein anderes Bewusstsein dafür, dass das Theater eine Kunst des Unterschiedlichen ist. Und dass es eigentlich keinen Sinn macht, es so rabiat einer einzigen Subjektposition zu unterwerfen. So ein Vorgang ist dem im Theater Vorhandenen gegenüber ja in jedem Falle immer gewaltsam und kann bestimmte Potenziale nicht ausschöpfen.

Geht es Ihnen nun um Kunst oder um Politik?

Das kann ich vielleicht gar nicht trennen, aber zunächst geht es mir in dem Text um Kunst. Ich bin für ein dialogisches Theater, weil ich denke, dass das im ästhetischen Sinne interessanter wäre. Ich würde sagen: Schon das heutige Theater funktioniert immer besonders da, wo es bereits auf dialogischen Effekten beruht, trotz seiner monologischen Ausrichtung. Der ästhetische Versuch eines dialogischen Theaters hätte aber sicherlich auch politische Implikationen. Es wäre eine Ästhetik, aus der sich andere Strukturen ergeben würden.

In den letzten Jahren waren aber gerade die sehr eigenen, starken Ästhetiken besonders bemerkenswert. Regisseur*innen wie zum Beispiel Susanne Kennedy oder Ulrich Rasche ragten aus dem Feld heraus, eben weil ihre Ästhetiken sehr streng sind und damit verbunden zum Beispiel den Schauspieler*innen kaum Bewegungsfreiheit lassen.

Nun, ich weiß nicht. Natürlich hat das monologische Theater eine Kunst hervorgebracht, die uns faszinieren konnte. Ich sage keineswegs, dass das wertlos war. Das wäre ja Wahnsinn…

Und doch sprechen Sie in der Vergangenheitsform.

Die Art, wie Ulrich Rasche Theater macht, ist nicht meine Vorstellung einer Zukunft des Theaters. Ich möchte das dialogische Theater aber eigentlich nicht über die Negation bestimmen, denn dann denkt man schnell, dass das Dialogische genau das Gegenteil des Theaters von Ulrich Rasche sei. Dabei könnte auch eine Produktion des dialogischen Theaters zum Beispiel am Ende total ausagiert und genau sein. Es wäre nur nicht von einer Subjektposition dominiert, es wäre kein ausgearbeiteter Monolog, könnte aber ein hyperpräziser Dialog sein.

Das heißt, Theater könnte dialogisch sein und trotzdem genau wie eine Rasche-Inszenierung aussehen?

Nein, nicht wie eine Rasche-Inszenierung. Weil es etwas anderes ist. Aber es könnte natürlich auch im dialogischen Theater einen Chor geben, der sehr präzise und geübt spricht. Und die Aufführung könnte mit großer ästhetischer Strenge über die Bühne gehen. Der Unterschied wäre aber, dass das keine monologische Setzung wäre, sondern eine dialogische, dass dem also noch was ganz anderes tatsächlich entgegenstünde, die Kostüme zum Beispiel, und es gäbe ganz sicher eine andere Vielheit. Es ist ein Trugschluss, einer Sache ihre Bestimmtheit abzusprechen, weil sie sich ästhetisch gesehen vielstimmig präsentiert. Das dialogische Theater ist nicht unbestimmt, es ist nur nicht nur von einer Seite bestimmt.

Wolfram Lotz, geboren 1981 in Hamburg, ist Dramatiker, Lyriker und Erzähler. In der Video-Gesprächsreihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" ist Lotz in Wort und Bewegtbild zu erleben.

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Kommentare  
Wolfram Lotz' Theater-Vision: Plädoyer
Ich plädiere für ein trialogisches Theater. Das dialogische war immer zergrenzt in Dualitäten. Das trialogische Theater ist dagegen ganz neu und es ist meine Idee. Ich weiß noch nicht nicht genau, was für eine Idee ich da habe, aber das ist doch das Spannende. Es ist wie das triadische Ballett, aber ganz anders. Ich werde ein Buch darüber schreiben. Oder zwei, drei. Die sich widersprechen und sich so dem Trialogischen annähern
Wolfram Lotz' Theatervison: Vorschlag
Wie wäre es damit: Theater zu machen, das die Leute wieder interessiert und die Säle vollmacht. Vielleicht sollte sich darüber mal jemand Gedanken machen. Das ist doch die Herausforderung.
Wolfram Lotz' Theatervison: Soso
Hab schon im Bauch meiner Mutter vom hexagonalen Musical geträumt. Mein Lieblingsspecht wird bei Neumond im Schwarzwald dazu einen Traktat morsen. Motto steht auch schon: „Si tacuisses, philosophus mansisses.“
Wolfram Lotz' Theatervison: David Bohm
Großartiger Text und Interview. Man versteht zwar nicht ganz, wo das eventuell hinführt und was es genau ist, was da drängt und aufbricht, aber die Dringlichkeit und Notwendigkeit des Ganzen ist spürbar. Ich empfehle dem Autor und allen Interessierten zum Thema den Text des Quantenphysikers und Philosophen David Bohm "On dialogue"
Wolfram Lotz' Theatervison: Wie Artaud. Wie Brook.
... ich habe heute zunächst auf Nachtkritik die Berliner Senatsausschreibung für die Volksbühne gelesen. Was für ein unkünstlerisches Desaster! Dann habe ich das Interview mit und den Text von Wolfram Lotz gelesen. Ahh! ENDLICH jemand, der einfach mal denkt, ohne das Ergebnis des Denkens schon vorher kennen zu glauben. Wie Artaud. Wie Brook. In der oben genannten Ausschreibung bitte das Innovationsgeschwurbel durch den Text von Lotz ersetzen!
PS: Was meint der Visionär mit "Säle vollmachen"? Alle scheissen in den Zuschauerraum? Das hatten wir aber in den 70er Jahren ohnehin schon...
Wolfram Lotz' Theater-Vision: Hinrichs
Die Bebilderung scheint mir etwas missglückt. Wenn es einen Menschen in der Theaterwelt gibt, der ein rein monologisches Theater nahezu perfekt verkörpert, ein Theater, das von den anderen Gewerken ausschließlich bestellen kann, eines, das unfähig ist zum Dialog und sich stets auf den einzelnen (Anti-)Held in Abgrenzung zu einer Choremasse beruft, so ist es Fabian Hinrichs. Und das ist tatsächlich keine moralische Wertung, eher eine strukturelle Beobachtung. Ein solches Theater hat natürlich trotzdem auch Unterhaltungswert und seine Berechtigung – zumal es ja dem aktuellen Stand des westlichen Subjekts irgendwo mehr entspricht, als die Utopie, die Wolfram Lotz entwirft. Das Hinrichs-Theater scheint mir aber tatsächlich das am weitesten von einer Dilalogizität entfernte Theater, während es aber zugleich – und das ist wohl das eigentlich unangenehme – auf der Oberfläche vorgibt es sei ganz nah dran, die hier performte Subjektivität eine brüchige, die Chormasse die eigentlichen Helden, die den verschwundenen Einzelnen am Ende überdauern etc. etc. Die Realität der Probenprozesse mit Hinrichs lassen einen jedoch schnell begreifen, dass das alles natürlich nichts als leere, höchstens symbolische Gesten sind (...).

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Herzliche Grüße aus der nachtkritik-Redaktion
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