Coğrafya Kaderdir (Geografie ist Schicksal) – Oder etwa nicht?

23. Februar 2023. Das Erdbeben in Syrien und der Türkei zerreißt auch hier Menschen. Weil das Ausmaß desaströs ist, weil sie Verwandte in betroffenen Regionen haben. Weil sie merken, dass sie in Deutschland kaum Gehör für ihre Sorgen finden. Auch das Funktionieren im Theater fällt schwer.

Von Nida Bulgun

© pixabay.com

23. Februar 2023. Für Theaterschaffende bieten die Mauern des Theaters oft auch einen Safe Place; einen Zufluchtsort, an den sie fliehen können, um den Tragödien der Realität zu entkommen oder sie mit Hilfe von Kunst zu kompensieren. Auch mir, einer Vollzeitstudentin, die versucht, jede freie Minute im Theater zu verbringen und selbst noch in den kleinsten Tätigkeiten an verschiedenen Schauspielhäusern Erfüllung findet, ermöglicht es, unabhängig von meinem diversen Background oder meiner sozialen Identität, unterzukommen und Geborgenheit zu empfinden. Mit Blick auf die Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei, meinem Herkunftsland, drohte mir jedoch auch hier, in meinem Wahlrefugium, der Boden beinahe unter meinen Füßen wegzuziehen. Aber fangen wir von vorne an.

Uns allen ist wahrscheinlich das Gefühl des Fallens kurz vor dem Einschlafen bekannt. Für einen Moment schrecken wir auf, doch wenige Minuten später werden wir wieder friedlich in den Schlaf gewogen. Man geht davon aus, dass es sich hierbei um eine Störung in der Informationsvermittlung zwischen dem Gehirn und den Nervenzellen des Körpers handelt. Was seit jeher als ein absolut harmloses und kurzzeitiges Phänomen erachtet wurde, ist in der vergangenen Woche für erschreckend viele Menschen zu einem fortwährenden Albtraum mutiert.

Das endlose Fallen nach Tag X

Am 6. Februar 2023 erschütterte um 4:17 Uhr nachts ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8 die türkisch-syrischen Grenzregionen, mit der Stadt Kahramanmaraş in der Südosttürkei als Epizentrum. Mittlerweile, 17 Tage nach dem katastrophalen Ereignis, zählt die Türkei mehr als 40.000 Tote. Die Zahl der Todesopfer in Syrien wiederum liegt knapp unter 6000. Es wird angenommen, dass mehrere Tausend Verschüttete noch unter den Trümmern liegen.

In der Obhut meines warmen, federweichen Bettes werde ich am Tag X von der Nachricht eines Freundes wach:

"In Kahramanmaraş gab es ein Erdbeben. Es gibt viele Tote (türk.)".

Sofort schrecke ich auf und kontaktiere jeden Verwandten in Gaziantep, an den ich in dem Moment denken kann, über Instagram oder WhatsApp.

"Geht's euch gut? Ist bei euch alles in Ordnung? WARUM MELDET SICH DENN KEINER (türk.)????".

Nachdem ich ungeduldig meine For-You-Page erkundigt habe, poppt eine Nachricht meiner Cousine auf meinem Home-Bildschirm auf:

"Ich schäme mich zu sagen, dass ich am Leben bin (türk.)".

Haltlos zwischen zwei Welten

Das desaströse Ausmaß der Lage wird mir erst mit dieser Nachricht bewusst. Seit jeher schwebt in meinem Kopf der weitverbreitete türkische Spruch "Coğrafya Kaderdir", was übersetzt so viel bedeutet wie: "Geografie ist Schicksal". Ich kann nicht umhin, als daran zu denken, dass ich um ein Haarbreit in derselben Lage gesteckt hätte: Hätten meine Großeltern sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder nicht dazu entschieden, in den 1970er Jahren nach Deutschland zu emigrieren.

Der mediale Teufelskreis

Meine lokale (Miss-)Platzierung hindert mich jedoch nicht daran, mehr Furcht zu empfinden. Vielmehr erfüllt mich ein unbeschreiblich erdrückendes Gefühl von Verzweiflung, Abscheu und Todesangst. Meine Stunden und Tage werden von einem dauerhaften Konsum von Negativnachrichten über soziale- und andere Leitmedien wie das Fernsehen erfüllt, das seit Jahren im Haushalt wieder für die Live-Rezeption der Katastrophennachrichten aus der Heimat eingeschaltet wird. Kurze Zeit später entpuppt sich dieser Teufelskreis als mein neuer Alltag. Ich kann nicht anders, als alle zwei Minuten meinen Insta-Feed zu aktualisieren.

"Guck, es gab ein neues Nachbeben!"

"Siehst du, da graben sie gerade ein drei Wochen altes Baby aus! Die Eltern sind bereits verstorben."

"Hast du schon mitbekommen, eine Frau wurde neben der Leiche ihres Mannes ausgegraben!".

All diese Fälle sind selbstverständlich nur repräsentativ. Die Liste der Betroffenen könnte genauso fortgeführt werden, es scheint noch immer kein Ende in Sicht. Die türkische Regierung spricht von der verheerendsten Katastrophe seit der Gründung ihrer Republik. Das Ausmaß der Schäden soll um das Dreifache schlimmer sein als das Erdbeben von Gölcük im Jahr 1999, welches in meinem Geburtsjahr nicht weniger als 20 000 Menschen das Leben kostete. Auch die WHO betitelt das Beben als die fatalste europäische Naturkatastrophe des letzten Jahrhunderts (ZEIT ONLINE, 2023).

Der Befehl zu funktionieren

Zwischen all diesen medial vermittelten Informationen und den sehnlichst erwarteten Face-Time-Anrufen von den Verwandten aus der Heimat, die zwischen dem ganzen Kindergeschrei und inmitten von Schutt und Asche versuchen, ein Lebenszeichen zu geben, merke ich, wie meine Gedanken, Gefühle und mein Herz unter all der Trauer nach und nach Konkurs melden. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse begebe ich mich in Deutschland, der Wahlheimat meiner Großeltern, meinem Zuhause, auf den Weg zur Arbeit, ins Theater.

Während meine Verwandten weiterhin in Lebensgefahr schweben, komme ich mir naiv und blöd vor, Theater zu machen. Abgesehen davon wird von mir absolute Funktionstüchtigkeit erwartet. Ich denke, ich spreche für alle BIPoC's, wenn ich sage, dass wir die Lüge "Mir geht es gut" als Teil unserer Alltagslexik verinnerlicht haben. Für die Identitätskrisen, mit welchen wir als Resultat der Ausländerfeindlichkeit und der Ungleichbehandlung, die wir in unserem Geburtsland tagtäglich erfahren, zu kämpfen haben, wurde nie ein offenes Ohr geboten. Somit wurden wir dazu genötigt, uns zu assimilieren und schließlich auch unsichtbar zu werden. Mit den Dilemmata, die mindestens 27 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands, ein Gastarbeiterland, betreffen, wollte man sich doch nie wirklich beschäftigen.

Versuch einer Kulturrevolution

Am Abend des 8. Februars, zwei Tage nach dem großen Erdbeben in der Südosttürkei, entscheide ich mich dennoch dazu, die Wahrheit zu sagen und diese Kette an Dauerlügen zu brechen, sichtbar zu werden. Meine ganz persönliche Kulturrevolution sollte damit innerhalb der vier Wände des Theaters, meinem Safe Place, beginnen; das war zumindest der Plan. Nach einem routinemäßigen Durchsprechen begebe ich mich folglich in die Tiefen und dunklen Ecken des Theaters, um meine Habseligkeiten abzulegen. Dabei begegne ich einem Teammitglied, das ich der deutschen Dominanzgesellschaft zuordne. Auf deren Frage "Wie geht es dir?", antworte ich absolut zielsicher: "Nicht wirklich gut. Es passiert gerade so viel Schlimmes auf der Welt, ich habe das Gefühl, dass alles scheiße ist!".

Völlig teilnahmslos und komplett erschrocken erwidert die Person meinen getarnten Hilferuf mit den Worten: "Ach quatsch, alles halb so wild. Die Welt ist immer noch schön." Ich bleibe fassungslos. Ich habe Mühe zu verstehen, wie gleichgültig Menschenleid sein kann. Genau in diesem Moment versagt die Informationsvermittlung zwischen meinem Hirn und meinen Nervenzellen. Ich befinde mich im Sturzflug. Verwirrt und hilflos trotte ich ins Freie. Ich schnappe nach Luft. Zeitgleich kommt mir eine andere Person aus dem Theater entgegen. Auch sie hat einen türkischen Migrationshintergrund, genau wie ich. Sie sieht mir die Verwirrung an, kann das Leid in meinen Augen lesen:

"Iyimisin Nida? Ailen iyi mi?"

In derselben Sekunde kommen mir die Tränen. Auch sie hält sich nur noch schwer zurück. Sie zieht ihre Zigarettenschachtel heraus und hält mir eine hin. Ich rauche nicht, nehme in dem Moment aber dennoch an. Genau in diesem Augenblick teilen wir Zigaretten, aber in Wahrheit teilen wir unser Leid und irgendwie tut es weniger weh. An demselben Abend erlaube ich es mir, auch wieder zu lachen. Ich unterhalte mich mit Freunden und Kollegen und wir machen uns lustig über das absurde Markenzeichen der Fake-Spezi, an der ich in unserer Kantine nuckle. Für einen Moment scheint alles wieder normal zu sein. Ich bin wieder das superlangweilige, theaterverliebte Mädchen mit dem superprivilegierten Leben in einer der wohlhabendsten Regionen Deutschlands.

Zusammenhalt

Auf die Frage:

Coğrafya Kadermidir?

habe ich aktuell keine Antwort. Ich weiß nur eines: Wir müssen uns unserer Privilegien bewusst werden und unsere Position nutzen, um zu verstehen und zu agieren. Wir müssen zuhören, die Trauer unserer Mitmenschen teilen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Naturkatastrophen liegen nicht in Menschenhand. Das Minimieren von Schmerz und Leid, sowie das Heilen und das Verhindern solchen menschlichen Elends obliegt jedoch ausschließlich unserer Kontrolle.

Theater verbindet und schafft Solidarität. Es fungiert als Schauplatz der Reflexion gegenwärtiger Begebenheiten und ermöglicht die Ver- und Aufarbeitung gesamtgesellschaftlicher Themen. Es hat die einzigartige Kraft, Leid und Lösung zeitgleich zu kommunizieren. Wenn jedoch das Theater versagt, droht die Gefahr, dass auch unser innerster Kern, unser menschliches Dasein, in Schutt und Asche gelegt wird.

Mit besonderem Dankeschön an Emre Akal, der mich dazu motivierte meine Trauer aufzuarbeiten und mein Leid zu teilen, denn "Acılar sadece paylaştıkça azalır ..."

Nida BulgunNida Bulgun, Jahrgang 1999, absolviert derzeit ihren Master in Kommunikationswissenschaften an der LMU in München. Sie wirkte bereits in Produktionen wie "Göttersimulation" von Emre Akal mit. Zudem geht sie nebenbei Tätigkeiten als Regieassistentin oder Souffleuse nach. Aus persönlichem Interesse beschäftigt sie sich vorwiegend aus wissenschaftlicher sowie journalistischer, aber auch aus einer künstlerischen Perspektive mit Themen wie Diversität und Repräsentation.
 

 

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    Kommentare  
    Gedanken zum Erdbeben: Toller Beitrag
    Ein wirklich toller Text! Super Beitrag Nachtkritik!
    Gedanken zum Erdbeben: Spricht aus der Seele
    Same here! Du sprichst mir aus der Seele. Ich bin auch an einem Theater, an dem mich erst eine Woche später eine einzige Kollegin drauf angesprochen hat.
    Später hieß es dann: Es betrifft uns doch nicht so richtig, deshalb sind wir gar nicht drauf gekommen.

    Es reiht sich halt nur nahtlos ein in eine jahrzehntelange Erfahrung der Abwertung. Wir sind die, deren Opfer man unter "Dönermorde" subsumiert, wenn wir in der Ambulanz warten, schreibt der Arzt "Morbus Bosporus" in die Akte und wenn ein junger Mann ermordet wird, schreit die Presse "Clan-Kriminalität".
    Unsere Leben sind einfach weniger wert.
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