"Wir haben Ängste, sind mit Gewalt konfrontiert"

15. September 2022. Schon der berühmte Pädagoge Bruno Bettelheim plädierte dafür, Gewalt nicht aus Stoffen für Kinder und Jugendliche auszuklammern, da sie zu ihrer Realität gehören. Wie ist es heute, im Zeitalter der Triggerwarnungen? Was können Theatermacher:innen ihrem jugendlichen Publikum zumuten?

Von Elena Philipp

Schwerer Stoff im Jugendttheater: "Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück" vom Berliner Grips Theater © David Baltzer | Bildbühne

15. September 2022. Eva hätte fast ihren Bruder umgebracht. Jonathan watet in einer Hühnerzucht durch die Exkremente verendender Tiere. Und im Leben von Joey sind Klimatote Alltag. Krasse Inhalte aus dem Jugendtheater. Kann man das jungen Menschen zumuten?

Kann man, dachten sich das Staatstheater Hannover, die Parkaue in Berlin und das Theater Junge Generation, Dresden, die mit "Vater unser", "Du blöde Finsternis" und "Tiere essen" Produktionen auf die Bühne gebracht haben, die thematisch an die Grenzen des Erträglichen gehen und ihre Zuschauer:innen herausfordern.

Genau richtig, schwierige Themen aufzugreifen, findet die Regisseurin Mina Salehpour, die fürs Kinder- und Jugendtheater ebenso wie für den Abendspielplan inszeniert: "Wir kriegen doch als Kinder und Jugendliche die Realität, die Welt, das Leben um die Ohren gepfeffert. Wir haben Probleme, wir haben Ängste, wir sind mit Gewalt konfrontiert", sagte sie im Theaterpodcast #29. "Wenn wir die Kinder und Jugendlichen teilhaben lassen wollen an dieser Welt, die nun mal positiv und negativ ist, aber im Theater schützen und deckeln, dann schließen wir das Leben aus."

Grund genug, einmal genauer hinzuschauen, wie "schwere Stoffe" im Jungen Theater verhandelt werden. Dem Thema widmet ab kommender Woche die Reihe Play Time – Stream und Diskurs Junges Theater auf nachtkritik.plus einen eigenen Schwerpunkt, in dem auch einige exemplarische Produktionen gezeigt werden.

Begleitung ist das A und O

Erschreckte Fragen von Erwachsenen und Pädagog:innen, ob die Jugendlichen eine Inszenierung psychisch unbeschadet überstünden, verraten für Ulrike Stöck, die Intendantin des Jungen Nationaltheaters Mannheim, mehr über die Erwachsenen als über die Bedürfnisse der jungen Menschen, um die es geht. "Ich glaube, wir unterschätzen Kinder und Jugendliche meistens. Oft ist ein Besuch im Kinder- und Jugendtheater gut begleitet. Da geht viel! Und was die Jugendlichen sich auf ihren Handys anschauen, was nicht geländert wird, ist deutlich rougher." Begleitung ist das A und O, sagt auch Mina Salehpour. Dafür gibt es an jedem Haus die Theaterpädagogik. Auch am Jungen Nationaltheater Mannheim steht die Abteilung Kunst und Vermittlung in engem Kontakt zu Schulen, stellt vorbereitende Materialien zusammen – und das Nachgespräch gehört zu jeder Vorstellung. "Gerade Lehrer:innen brauchen oft eine Entlastung, dass das Gespräch schon angefangen hat und sie nicht mit dem nachhause gehen, was sie glauben, dass die Kinder denken", so Stöck.

vater unser 162Theater mit Triggerwarnung: "Vater unser" vom Staatstheater Hannover. Auf dem Bild: Viktoria Miknevich © Katrin Ribbe

Nehme man die jungen Zuschauer:innen ernst und stelle Fragen, betont die Intendantin, ergäben sich oft angeregte Gespräche. "Man merkt, wie perspektivenreich das Publikum auf eine Inszenierung schaut." Bei einer Inszenierung für Grundschüler:innen am Theater Senftenberg deutete sie den Tod der Mutter an. Die Lehrer:innen hegten Befürchtungen, das könne emotional überfordernd sein, aber die Kinder hatten mit dem Thema kein Problem: „Da sagt jemand, ich fand das zu viel, jemand anderes, ich fand das sehr traurig, aber ich bin froh, weil meine Mama wirklich gestoben ist und ich jetzt endlich einen Anlass habe, euch das zu erzählen. Wieder jemand anderes hat das mit der toten Mutter gar nicht so gesehen."

Mit Triggerwarnung oder ohne?

Annahmen von Erwachsenen über junge Menschen können Vorurteile sein. Um zu vermeiden, an der Zielgruppe vorbei zu inszenieren, gebe es in jedem Theater für junges Publikum schon in der Entstehung ein Feedback der Zuschauer:innen, erzählt Ulrike Stöck: "Wir produzieren immer begleitet von Kindern und Jugendlichen in dem entsprechenden Alter, auf ein Zielpublikum hin. Das ist unserer Theaterform inhärent." Was funktioniert, finde man im Probenprozess heraus, und was altersgeeignet ist, wisse man "durch Erfahrung und dauerhafte Überprüfung", so Ulrike Stöck. Ihre Überzeugung: "Ich glaube ja, auf dem Theater geht so gut wie alles." Tabuthemen gebe es für sie nicht. Wenn Künstler:innen eine Idee zu einem Stoff mitbrächten, sei es die Aufgabe des Hauses, diese Idee bestmöglich umzusetzen und dem Publikum nahe zu bringen.

Strittige Inszenierungen, die nicht schon auf der Bühne mit vermitteln, wie sie verstanden werden wollen, brauchen also eine besonders gute Einbettung oder: ein besonders stabiles Geländer. Aber ist das nicht allzu pädagogisch, ein künstlerisches Ereignis stets diskursiv einzubetten, statt es wirken zu lassen? Nicht für die jungen Zielgruppen, da sind sich Mina Salehpour, Ulrike Stöck und vermutlich die meisten ihrer Kolleg:innen einig. Vielleicht gibt es hierzulande auch ein bisweilen zu kurz gegriffenes Verständnis von Pädagogik? "Inhalte rüberbringen" sieht Ulrike Stöck jedenfalls nicht als Aufgabe des Theaters. "Schützen und deckeln" sind es Mina Salehpour zufolge auch nicht. In einem Telefonat für diesen Text sagt die Regisseurin: "Ich finde es schwierig, wenn man versucht, eine Geschichte zu erzählen, aber sich dann im Vorhinein selbst zensiert. Theater ist nicht pädagogisch. Die Schule ist pädagogisch." Über Triggerwarnungen in den Ankündigungstexten ließe sich diskutieren, aber darüber sollten ihrer Meinungen nach die Häuser entscheiden, nicht die künstlerischen Teams.

In-Yer-Face-Adaption "Vater unser" am Staatstheater Hannover

Eine Triggerwarnung gibt es bei "Vater unser“ aus Hannover: "Die Inszenierung enthält Passagen mit expliziten Beschreibungen von Essstörungen sowie Beschreibungen von Suizid und sexualisierter Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen", heißt es auf der Webseite zu der Romanadaption. Und tatsächlich schont diese ihre Zuschauer:innen nicht: Eva Gruber sitzt in der Psychiatrie und beschwert sich – über das ignorante Personal, die überflüssigen Therapiesitzungen und ihren abweisenden Bruder, der in der gleichen Einrichtung lebt wie sie. Mit der Zeit wird in der Inszenierung von Hannah Gehmacher klar, dass Eva eine unzuverlässige Erzählerin ist: Sie schreit die Therapeutin an, ermutigt die Freundin ihres Bruders zum Suizid und verschleppt ihren Bruder zum Haus des längst verstorbenen Vaters, um diesen umzubringen. Wahrlich keine Identifikationsfigur (Viktoria Miknevich wurde für ihre Darstellung der Eva gerade für den Deutschen Theaterpreis "Der Faust" in der neu geschaffenen Kategorie "Darsteller:in Theater für junges Publikum" nominiert).

Aber, so die Botschaft einem jungen Publikum gegenüber: Psychische Erkrankungen gibt es, und so könnte es aussehen, wenn jemand mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung sein Leben erzählt. Als In-yer-face-Inszenierung müsste "Vater unser", folgt man Ulrike Stöck, unbedingt vermittelnd begleitet werden.

Gepusht bis zum Geht-nicht-mehr: "Fake it till you make it"

Geländert werden muss auch "Fake it till you make it", von Stephanie van Batum und Florian Schaumberger an der Schauburg München inszeniert. Bis zum bitteren Ende wird hier an einer jungen Frau das Social-Media-Business durchdekliniert: Kendi, die wir beim Dreh für ein Musikvideo erleben, wird von ihrer Mutter und ihrem Manager immer weiter gepusht und von der Produktionsfirma durchgestylt, bis das süße Mädel optisch einem Softpornostar ähnelt. Wie hier ein Mensch psychisch und physisch unter Druck gesetzt wird, zeigt die Inszenierung schonungslos. Geht das – oder geht das zu weit?

Fake it till you make it Schauburg cJudithBuss 6Jugend im Schatten des Instagram-Beauty-Terrors: "Fake it till you make it" von der Münchner Schauburg  © Judith Buss

Diese Frage wird auch im zweiten Teil der Reihe "Play Time" auf nachtkritik.plus thematisiert. Am 13. Oktober 2022 diskutiert die Müncher Schauburg-Intendantin Anne Richter unter anderem mit Ulrike Lessmann vom Theater Junge Generation Dresden, das mit seiner Produktion "Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns blickte" nach Jens Raschkes parabelhaftem Stück über den Zoo im KZ Buchenwald ebenfalls FAUST-nominiert ist.

Flirrend-verführerische Social-Media-Persona: "Fräulein Else" nach Arthur Schnitzler

Den Auftakt zur Themenreihe macht am 22. September "Fräulein Else" vom Nationaltheater Mannheim. Die Instagram-Performance haben der Regisseur Daniel Cremer und die Dramaturgin Lena Wontorra während der Pandemie entwickelt – (hier die Nachtkritik zur Inszenierung). Arthur Schnitzlers Else als Insta-It-Girl zu lesen, das seinen Monolog als Live-Feed aus einem schicken Hotel an seine Follower:innen postet, verleiht der knapp 100 Jahre alten Novelle eine höchst zeitgemäße Anmutung. Vassilissa Reznikoff ist eine kraftvolle, selbstbewusste Else, die sich vor der Kamera bestens zu inszenieren weiß.

Und die sich live beobachten lässt, wie sie vom Gewicht der Entscheidung, ob sie den Kunsthändler Dorsday um Geld für ihre Familie bitten und sich womöglich prostituieren soll, immer tiefer in einen fatalen emotionalen Strudel gezogen wird. Im Abendspielplan entstanden, lässt die Inszenierung das einfach in seiner Härte stehen.

Apokalypse im Hintergrund: "Du blöde Finsternis"

Der Erzählhaltung schon eingeschrieben ist das Vermittelnde in Sam Steiners "Du blöde Finsternis" vom Berliner Theater an der Parkaue. Dystopisches erfährt man in der geschmeidigen Dialogkomödie über die Klimakatastrophe nur beiläufig: Die Ehrenamtlichen des telefonischen Beratungsdienstes Brightline tragen Gasmaske auf dem Weg zur Arbeit, berichten von eingestürzten Brücken und einem grau und suppig gewordenen Meer.

du bloede finsternis sinjehasheiderDystopie zur Klimakatastrophe: "Du blöde Finsternis"  © Sinje Hasheider

Angerufen werden sie von Menschen mit Alpträumen, Zukunftsängsten und Suizidgedanken. Zugleich sieht man die Vier in Mathias Spaans Parkaue-Inszenierung Kaffee kochen, Motivationsrunden abhalten und, um einen Apparat versammelt, über die Geschichten eines Stammanrufers lachen. Im Alltag der Figuren steht das Banale neben dem Bedrohlichen, treffen traumatische Erlebnisse auf tröstliche Momente. Einmal Leben mit Alles.

Fernsehquiz zu Güllegruben: "Tiere essen"

Auf Komödie setzt das Dresdner Theater Junge Generation in "Tiere essen". Dem Buch von Jonathan Safran Foer folgend, schickt Regisseur Nils Zapfe den US-Autor in Gestalt von neun Schauspieler:innen auf seine Recherchereise durch die Schrecken der Massentierhaltung. Fakten, die Foer ermittelt hat, werden als launiges Fernsehquiz präsentiert, und als er mit einer Tieraktivistin in eine Hühnerfarm einbricht, um sich ein Bild von den Zuchtbedingungen zu machen, inszeniert Zapfe eine rasante Klipp-Klapp-Jagd durch eine Reihe blauer Toilettenhäuschen. Als man sich an den klamaukigen Gestus gewöhnt hat, werden unvermittelt dokumentarische Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus einem Schlachthof auf die mobilen WCs projiziert – und brennen den Zuschauer:innen das Bild in ihrem Blut krepierender Tiere auf die Netzhaut. Heftig! Ein intendierter Schockmoment in einer ansonsten unterhaltsamen Inszenierung.

Vom Schrecken des Kampfes: "Kai zieht in den Krieg…"

Unter einer spielerischen Oberfläche macht "Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ jungen Menschen ab 9 Jahren einen hochaktuellen schweren Stoff zugänglich. Robert Neumann hat das Stück von Zoran Drvenkar am Grips Theater inszeniert. Kai bewundert seinen Opa für dessen Heldentaten im Krieg, und weil der demente Großvater sie zu vergessen droht, spielt Kai sie kurzerhand mit ihm nach. Bei der Reise in die Vergangenheit offenbart sich, dass Krieg vor allem Dreck, Gewalt, Tod und Elend bedeutet. Eine Desillusionierung, bei der die harte Realität aber durch den Gestus des "Als-ob" lindernd auf Abstand gehalten wird. Diese und auch die folgende Inszenierung werden im Stream auf nachtkritik.plus zu sehen sein.

Wutbürger zu Death Metal: "Kohlhaas – Moral High Ground"

In die Vollen geht "Kohlhaas – Moral High Ground". Jonas Werling erzählt den Kleist in Umgangssprache, ohne sich an Jugendslang anzubiedern. Sanft ist seine Ausstrahlung. Aber wenn der ambivalente "Held" der Story mordend als Rächer durch die Lande zieht, packt Werling seine Vorliebe für Death Metal aus und spielt die Gewalt einfach als Song. Brachial. Mit hinter ihm projizierten Fragen und Kommentaren konterkarieren die Regisseur:innen Nadja und Martin Brachvogel das Gesagte, und sie zeigen Videos von Wutbürger:innen, die im Alltag ausrasten. Sind sie die Kohlhaasens von heute? Schwer zu sagen, aber gut, darüber nachzudenken.

Lustvoll wie ein Konzert

"Ich bin der Meinung, man kann Kinder auch erschrecken, man kann ihnen traurige Dinge vorsetzen. Man kann nicht nur, man sollte", sagte Mina Salehpour kämpferisch im Theaterpodcast. Vorbild sind für sie die Kindertheater in Schweden. Dort gebe es auch Leid und Tod zu sehen, das Bühnenereignis werde "nicht zu Tode zerredet und zerkaut". Vielleicht kommt daher manchmal eine gewisse Hölzernheit auf jungen deutschsprachigen Bühnen? Ja, findet Mina Salehpour, "weil es nicht in dem Moment erfunden wurde, sondern man dachte, das müsste man mal". Mut haben und auf die jungen Zuschauer:innen vertrauen, lautet ihre Devise: "Jeder spürt doch, wie bei einem Konzert, ob das, was passiert, eine erweiterte Moralpredigt der Eltern ist oder aus Lust kommt." Leichtfüßig müssen sie nicht daherkommen, die schweren Stoffe. Nur ein gutes Geländer braucht es, dann geht viel.

 

In der Reihe Play Time – Stream und Diskurs Junges Theater präsentieren wir in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes auf nachtkritik.plus exemplarische Produktionen online.
Den Auftakt macht am 22. September "Fräulein Else" vom Nationaltheater Mannheim.
Am 13. Oktober um 18 Uhr diskutieren u.a. Anne Richter von der Schauburg München und Ulrike Lessmann vom Theater Junge Generation, Dresden über "Schwere Stoffe" im Kinder- und Jugendtheater.

nachtkritik.plus

 

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Kommentare  
Schwere Stoffe: Man darf!
Ich habe meine Söhne, damals etwas 10 und 12 Jahre alt, zu Jan Bosses Faust in Hamburg mitgenommen, nachdem ich die Inzenierung zuvor schon alleine auf einem Gastspiel in Frankfurt gesehen hatte. Edgar Selge und Joachim Meyerhoff waren so sensationell gut, ich wollte, dass meine Kinder das sehen. Ich wurde vielfach gewarnt, die Inszenierung sei ungeeignet, zu lang, für Kinder zu schwer usw., aber meine Söhne hatten Lust und wir haben es gewagt.

Sie haben den Abend geliebt, obwohl oder weil er an manchen Stellen auch eine Überforderung war.

Und noch Jahre später schrien sie laut: "Selge!!", wenn sie ihn mal im TV sahen.

Gerade gehen sie nicht ins Theater, aber das kann sich ja wieder ändern.

Und was ich mit meinem Sitznachbarn in der Frankfurter Vorstellung, Marcel Reich-Ranitzki, erlebt habe, ist eine andere Geschichte.
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