altIn den Städten finden Kämpfe statt

Ulrich Khuon im Gespräch mit Dirk Pilz und Christian Rakow

Berlin, 18. Oktober 2011. Herr Khuon, welche Funktion hat das Stadttheater eigentlich? Es diente ja lange der Repräsentation und der Vermittlung des bürgerlichen Selbstverständnisses. Gilt das noch?

Das Theater hat seit der Aufklärung die Gesellschaft nicht nur bestätigt, sondern auch befragt. Das Eigentümliche an der bürgerlichen Gesellschaft ist ja, dass sie sich den künstlerischen Widerspruch fast masochistisch gewünscht hat. Das Bürgertum ist wirtschaftlich aufgestiegen und hat sich mit moralischen Ansprüchen diesen Aufstieg stilisiert. Über Geld zu verfügen, war noch nie besonders populär. Ich glaube, darin fußt diese tiefe und ängstliche Bereitschaft, sich immer neu von den Künsten kritisieren zu lassen. Als die Städte begannen, ihre Theater teilweise wie Kirchen ins Stadtzentrum zu stellen, wurde es auch ein Repräsentationsraum. Das stimmt. Aber es war immer ambivalent: Das Bürgertum hat sich in seinen Theatern selber gefeiert und hat gleichzeitig mit Autoren wie Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen bis hin zu Bertolt Brecht über den Kreis des Bürgerlichen hinausgewiesen. Das Theater war nie eine thematisch schmale Institution, die nur zur Bestätigung seiner Besucher diente.

Ein gutes Stadttheater ist also eines, das die Ambivalenz, die Nähe und Ferne zu der Stadt und zur Gesellschaft reflektiert?

Ja. Was macht denn Städte aus? Heterogenität und Verdichtung. Da stellt sich die Frage: Wie halten wir Heterogenität aus? Wie halten wir uns selber kommunikationsfähig? Es gibt ja so viele Diversitäten zwischen reich und arm, Frau und Mann, migrantisch und hier situiert. Das Theater muss sich in immer neuen Wellen auf die Frage einlassen: Wie kann man die Gesellschaft als Ganzes, in ihrer ganzen Heterogenität, exemplarisch bearbeiten?

Gut, aber damit lässt sich nicht die Frage von Matthias Lilienthal beantworten: Warum sollte das Publikum in diese vernagelten Kisten in der Stadtmitte gehen? Um etwas über sich zu erfahren, um gebessert zu werden?

Wo wird denn verhandelt, was uns in der Stadt wichtig ist? Die Stadt ist ja nach wie vor der Quell für exemplarische Konflikte, wie man derzeit in Nordafrika oder auch in Stuttgart und London sehen kann. In den Städten werden Konflikte sichtbar, da findet der Kampf statt. Die Künste sind Orte, die diesen Kampf thematisieren, ohne dass es interessengelenkt wird. Kinos sind viel vernageltere Kisten. Aber die Leute gehen hin, obwohl es DVD's gibt. Ähnlich geht es auch im Theater nach wie vor um die Erfahrung von Gemeinsamkeit. Und hier spüren Leute, dass verhandelt wird, was die Stadt bewegt.

Na ja, die jüngere Generation sucht heute wahrscheinlich stärker interaktive Kommunikationsformen. Das Kino zum Beispiel gerät durch die Möglichkeit, Filme im Netz zu teilen, unter Druck. Und die Netzgesellschaft verändert doch auch die Bedingungen des Miteinanders im Theater.

Das Theater hat sich natürlich auch selbst verändert, indem es interaktiver arbeitet. Es ist weit über die Aufführungen hinaus zu einem Ort geworden, an dem man sich physisch anwesend austauscht und zu einem Kreis dazugehören kann, an dem in ähnlicher Weise Dinge befragt werden. Das ist natürlich im Internet auch möglich. Trotzdem ist die Virtualität und die Entpersönlichung eine Erfahrung, die – wie in einer Pendelbewegung – eine Neugierde oder Sehnsucht produziert, Menschen zu treffen. Es ist kein Zufall, dass die Fußballstadien voll sind, obwohl man alles in Ruhe auch daheim sehen könnte. Man wünscht sich alle Sinne angesprochen. Man will andere Menschen treffen, sie riechen, spüren.

Das alles sagt noch nichts über Ästhetik. Matthias von Hartz vertritt in einem Beitrag zur Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de die These, dass 90 Prozent der Innovationen im Theater aus der Freien Szene und nicht aus dem Stadttheaterbereich stammen.

Ach, wo beginnt denn die Freie Szene, und wo endet sie? Ist Stefan Pucher ein freier Regisseur, oder war er schon immer Stadttheater? Ist Nicolas Stemann, der bei Jürgen Flimm Theater gelernt hat und sich jetzt eigene, eher freiere Produktionsformen schafft, ein Freie-Szene-Mann oder ein Stadttheatermann? Und wie ist das bei Castorf, Kriegenburg, Solberg, Steckel? Die Wege des Lernens gehen ja über Regie- und Schauspielschulen, dazu gehören u.a. auch die staatlichen Schulen Gießen und Hildesheim, die berühmten Brutstätten des performativen Theaters. Das sind für mich keine Orte jenseits der Institutionen. Der Gegensatz, den Matthias von Hartz aufmacht, ist künstlich und historisch. Die Übergänge sind längst fließend. Man kann nicht angeben, ob sich neue Formen in den Institutionen, in der Lehre oder außerhalb entwickelt haben. Aber die Stadttheater haben eine schützende Struktur, in der man Dinge entwickeln kann.

Gut, aber die Kunstform, die Ästhetik kann nur außerhalb der Strukturen vorangebracht werden, sagt Matthias von Hartz.

Wirklich? Ist Marthaler Guckkasten-Retro-Schwachsinn? Ist Stemanns "Faust 1 +2" ein in der Struktur sich reaktionär selbst bespiegelndes Theater? Sind seine Jelinek-Arbeiten keine neuen Wege? Bei von Hartz gibt es dann auch immer nur zwei, drei wirklich gute Beispiele: Rimini Protokoll oder Gob Squad oder She She Pop.

Diese Gruppen hätten ihre spezifische Theatersprache nicht ausbilden können, wenn sie von Anfang an immer den Apparat hätten denken müssen, an Probenzeiten, ein festes Ensemble, die Techniker.

Die Künstler haben sich innerhalb der Theater entwickeln können, weil Technik und Strukturen da waren, die ihnen alles zur Verfügung gestellt haben. Das war schon in den 1970er Jahren so. Da hat Augusto Fernandez in Frankfurt drei Monate probiert. Das hat die Struktur auch ermöglicht. Oder Klaus Michael Grüber hat "Im Dickicht der Städte" dort gemacht, später Schleef. Da ging kaum jemand rein, aber das Stadttheater hat das getragen. Hans Neuenfels ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie jemand sich ausschließlich in der Struktur diesen Raum genommen hat, um die Ästhetik weiterzuentwickeln. Ich finde dieser Antagonismus zwischen unbeweglicher Struktur und Nicht-Struktur, in der wirkliche Kunst entsteht – das ist ein romantisches Bild.

Viele Stadttheater haben ja einen Hausautor. Wieso haben sie eigentlich keine freie Hausgruppe?

Vieles davon passiert doch schon! Wir am DT arbeiten mit Geheimagentur, mit Ligna oder Tobias Rausch zusammen. Da bindet man sie nicht fest, sondern man versucht, diese künstlich beschriebenen Mauern gar nicht zu akzeptieren. Eine echte Frage ist dabei natürlich, wie sich das Ganze mit dem Ensemblegedanken verbindet. Weil viele Gruppen sich ja gar nicht mehr auf Schauspieler beziehen. Ich finde, es gibt gute Gründe für das Ensemble. Das ist eine Gruppe, in der man zusammenarbeitet, aber gleichzeitig auch eine Heteronomie zulässt.

Prägende Regisseure wie Christoph Marthaler oder Dimiter Gotscheff bringen ihre Leute mit. Sie bilden eher isolierte Inseln im Ensemble.

Wir versuchen, mit einem Ensemble von ca. 40 Schauspielern einen bestimmten Weg zu gehen. Dass die Theaterkleinfamilien als Spezialenergie innerhalb dieses Kosmos auch noch da sind, kann sogar fruchtbar sein. Ich will aber nicht verschweigen, dass es auch eine offene Frage ist, was es heißt, wenn jemand nur ein Stück spielt und dann wieder weg ist.

Hat das in den letzten Jahren eigentlich zugenommen, dass Regisseure in festen Teams mit vertrauten Musikern, Schauspielern und Bühnenbildnern  zusammenarbeiten?

Ich denke, in den 1970er Jahren konnte man recht klar bestimmen, was man ablösen wollte. Die Gesellschaft war viel formierter. Heute kann man gegen Gleichgültigkeit, Ziellosigkeit  oder Verschlafenheit angehen, aber das ist schwerer zu beschreiben, als wenn man etwa das Standbein-Spielbein-Theater angeht, das in den 1960ern der herrschende Stil war. Heute gibt's ja tausend Stile. Um zu bestimmen, was man ablösen will, muss man kreativer sein. Kann sein, dass in diesem Druckkontext die Sehnsucht nach der Kleingruppe, die stabil ist, zugenommen hat. Ich versuche aber eher, mehr Bewegung reinzubringen. Bei aller Begeisterung für das Theater der Truppe, wie Ivan Nagel es genannt hat.

Aber es sind hehre Beispiele, die wir da bewegen: Marthaler, Gotscheff. Wo liegt der Vorteil der Ensemblestruktur gegenüber diesen Kleingruppen und Theaterfamilien?

Der Nachteil der Familie ist, dass die Rollen verteilt sind. Da gibt es weniger Brüche, insofern befreit das. Aber es gibt dadurch eben auch die Gefahr der Erschöpfung, der Repetition oder der Anregungsarmut. Man kann das auch unter dem gesellschaftlichen Aspekt beleuchten: Wir reden unentwegt darüber, dass wir Heteronomie organisieren und eine andere Form der Bereitschaft und Neugierde für das Fremde entwickeln müssen, ohne die eigenen Erfahrung dabei beiseite zu legen. Wenn man sich in eine kleine kreative Gruppe zurückzieht, finde ich das das falsche Exempel für die Gesellschaft als Ganzes.

Es gibt defensivere und offensivere Varianten, Stadttheater zu positionieren. Sebastian Hartmann hatte in Leipzig den Traum eines Theaters, wo die Kunst eindeutig Vorrang vor Sozialaufgaben hat. Und sei es nur den Stadtfrieden zu sichern.

Ja, aber er hat das Soziale anders definiert. Er will ja auch den Diskurs. Ich würde nicht sagen, dass wir die soziale Aufgabe haben, die Stadt zu befrieden, aber ich denke schon, dass man einen Diskurs mithilfe ästhetischer Formen motivieren muss. Als Stadttheatermacher müssen wir zwar durch unsere personale Ausstrahlung zunächst eine Einladung sein. Auf der ästhetischen Ebene müssen wir aber möglichst komplex sein. Beides gelingt nicht immer.

Schrumpfen die Räume für Wagnisse im Stadttheater? Und arbeiten die Theater mit ihrem wachsenden Output an Produktionen gegen die Gefahr des Misserfolgs an?

Die Gründe, weshalb so viel produziert wird, sind komplexer. Bei mir hat es mit einer Verspieltheit zu tun, mit der Lust, viel auszuprobieren und unterschiedliche Räume für neue Dramen zu öffnen. Eine vielfältigere Gesellschaft verführt uns dazu, wie Allrounder mit unserem Handwerkskasten herumzurennen und Themen aufzugreifen. Manchmal wäre es wahrscheinlich besser, man würde sich konzentrieren. Aber man merkt natürlich, dass man auch die Sehnsucht hat, in viele Winkel rein zu kommen.


khuon_declair_hf_140Ulrich Khuon , geboren 1951 in Stuttgart, ist seit 2009 Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Zuvor leitete er das Thalia Theater Hamburg (2000-2009), das Niedersächsische Staatsschauspiel Hannover (1993-2000) und das Stadttheater Konstanz (1988-1993). Seit 1997 ist er Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, seit 2002 Vorsitzender im Ausschuss für künstlerische Fragen des Deutschen Bühnenvereins. 2008 wurde er in den Senat der Deutschen Nationalstiftung und in den Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen.

(Foto: Arno Declair)


Mehr zur Debatte um die Zukunft des Stadttheaters finden Sie im entsprechenden Lexikoneintrag.

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Kommentare  
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Ach ja, intelligent? Was für eine Überschrift und was für ein nichts sagendes Interview. Die Kämpfe, von denen da gesprochen wird, scheinen zumindest am DT meilenweit vorbei zu gehen. Wo bitte wird denn da die Heterogenität der Städte abgebildet? Und dann dieses Gefasel von freier Szene und Stadttheater. Wann war denn Ulrich Khuon zum letzten mal in der wirklich freien Szene unterwegs? Pucher und Stemann sind sicher auf ihre Art innovativ, haben aber mit der freien Szenen nichts zu tun. Ein Stadttheater kann sich auf Dauer auch gar keine sogenannten Innovationen leisten, dafür ist nämlich das Publikum nicht vorhanden. Für jeden freien Künstler, der dort auftritt, müssen dann wieder hochsubventionierte Starschauspieler mit unsäglichen Klassikeradaptionen das Geld reinspielen. Man sollt auch weiterhin diese beiden Sparten sauber trennen und die freie Szene entsprechend fördern. Meine Meinung jedenfalls.
Stadttheaterdebatte: ein juristischer Unterschied
Lieber Ulrich Khuon,

Ich denke, einer der entscheidenden - aber sehr wichtigen Unterschiede zwischen freier Szene und Stadttheater ist ein juristischer Unterschied. Der Umstand, dass in der freien Szene die Nutzungsrechte am Werk im Besitze der Künstler sind, hat Auswirkungen auf die Arbeiten. Dieser Unterschied ist nicht zu unterschätzen. Die Regieverträge machen auch den Regisseur zu einem Dienstleister. Nicht, dass das zwingend was schlechtes sein muss, aber es ist etwas anderes, als wenn der Regisseur und die Schauspieler (insofern es überhaupt solche Zuordnungen gibt) als Mit-Produzenten zeichnen - und das nicht nur künstlerisch, sondern auch ökonomisch. Ich finde, es ist wirklich etwas verschleiernd, diesen Umstand immer zu verschweigen. Mit besten Grüssen: Samuel Schwarz
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