Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages
Platz der Republik 1
11011 Berlin

 

Deutscher Bühnenverein
Bundesverband der Theater und Orchester
Herrn Präsidenten Prof. Klaus Zehelein
Geschäftsführender Direktor
Herrn Rolf Bolwin
St.-Apern-Str. 17-21
50667 Köln

 

Offener Brief

Berlin, 29. November 2010

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Bolwin,

auf deutschen Bühnen habe ich schon manches gesehen. Vieles hat mich begeistert, manches verstört, einiges irritiert, häufiger inspiriert. Ich bin selten verärgert, nie wütend aus dem Theater gegangen.

Bis zum letzten Sonnabend und der Verleihung des Deutschen Theaterpreises "Faust" im Essener Aalto-Theater. Diese unglaubliche Selbstabdankung des Theaters und seiner Ansprüche zugunsten eines beliebigen Fernseh-Unterhaltungsformats, das für fast alles Zeit hat, nur nicht für authentisches Theater, macht mich fassungslos: Grußworte, Moderationen, Laudationes, Musikeinlagen, Slapsticks und eine Saalwette (!!) mit zwei renommierten Schauspielern als Showmaster, die für ihre mal geistreichen, mal albernen Auftritte vermutlich höhere Gagen erhalten haben, als für ihre bei weitem besseren, gehaltvolleren Theaterrollen. Und dazwischen: Nominierungen für Darsteller, Tänzer, Sänger, Regie, Bühnenbild, Choreographie, präsentiert in fernsehgerechten Häppchen von jeweils etwa 30 Sekunden aus der Konserve – ein Format, das die Kunst bis zur Unkenntlichkeit entstellt, während die allgegenwärtige Unterhaltung in der Verantwortung des Deutschen Bühnenvereins dem Theater ihre Lektionen erteilt.

Ich hätte wissen sollen, worauf ich mich eingelassen habe, als ich Ihrer ausdrücklichen Bitte zur Teilnahme und Mitwirkung an der Preisverleihung folgte. Schließlich habe ich schon die Premiere vor fünf Jahren als abschreckendes Beispiel empfunden und öffentlich kritisiert, dass sich das Theater nicht selbst zum Affen machen darf. Mit kaum entschuldbarer Treuherzigkeit habe ich mich auf Ihre Zusicherung verlassen, inzwischen sei das Konzept weiterentwickelt worden: "Unser Hauptanliegen ist, dass die nominierten Künstler ihre Arbeit positiv gewürdigt sehen, und dass die Zuschauer am Verleihungsabend die Breite und die Bedeutung unserer Theaterlandschaft erleben." Auf diesen fast selbstverständlichen Anspruch passte das Hollywood-Format wie die Faust aufs Auge. Die einzige für mich erkennbare Weiterentwicklung war die geradezu umwerfende Saalwette, mitten aus dem Theaterleben, in dem es kaum Aufregenderes gibt, als die unterschiedliche, von wirklichen Schauspielexperten deshalb leicht erkennbare Qualität von Brühwürstchen in den Theaterkantinen. Spätestens an dieser Stelle wird – hoffentlich – die Hälfte der "28 Zuschauer im ZDF-Theaterkanal", so Wolfram Koch als Conférencier, das Programm gewechselt haben. Schlimmer geht's nimmer. Oder doch: wetten, dass!

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Norbert Lammert

 

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Kommentare  
Lammerts Offener Brief: Tiefpunkt aller Faust-Verleihungen
Die Kritik von Herrn Lammert an der Faust-Preisverleihung ist ja noch gnädig. Tatsächlich stellte die Veranstaltung, die ich im Fernsehen verfolgte, den Tiefstpunkt aller bisherigen Faust-Preisverleihungen dar und machte deutlich: eine Theaterlandschaft, die sich in dieser Weise selbst darstellt, brauchen wir nicht! Die beleidigte Reaktion des Bühnenvereins auf den Lammert-Brief unterstreicht noch einmal mehr, dass der Bühnenverein und seine Event-Agentur, die die Faust-Preisverleihung organisiert, der tatsächlich geleisteten Theaterarbeit in Deutschland unwürdig sind.
Lammerts Offener Brief: ein Ruhrgebietswitz
Jetzt hat der Lammert also auch noch Humor. Wo kommen wir denn da hin, wenn sogar schon der Bundestagspräsident eine Theaterpreisverleihung im Fernsehen kritisieren darf und das noch in einem offenen Brief? Konnte er nicht über den Ruhrgebietswitz lachen, als verdienter Bürger des Selben, hat er sich geärgert, das Niveau falsch eingeschätzt zu haben und nun als ernstzunehmender Politiker und Bildungsbürger zu gelten oder gab es keine Cürrywuurst? Eine Büttenrede hätte er halten sollen und danach wäre der Niveau-Limbo, so heißt das jetzt nämlich im fernsehtauglichen Neudeutsch, sicher etwas flotter über die Bühne gegangen. Also Lammert jammert und setzt die Faust aufs Auge des deutschen Theaters. Helau, Man Tau und Gott zum Gruß. So werden Etatkürzungen wirkungsvoll in Szene gesetzt und in den Kantinen gibt es sowieso nur noch schlechte, abgestandene Witze und geplatzte Brühpimmel. Nu is Essen fertig, Mahlzeit.

Ich bin de Nobert
Un wenn ich was sach
Dat is echt wichtig
Sons mach ich krach

Bei uns in Bochum
da heißt dat Mann Tau
lass nu die Sau raus
Un mach mal Nivau

Heut gibt´s den Faust
Nur für die Besten
Auf`m Theater hier
So tief im Westen

Glück auf denn, Bochum
Ich komm aus Dir
Mag heute auch Essen
So tief im Revier

Ich will n` Bier, Mann
Weil dat gibt´n Durst
Hörste Ker un denn
Gib mich noch Currywurst
Lammert-Brief: Gutsherrenverhalten
Wenn die Sonne tief steht, werfen die Zwerge lange Schatten. In der politischen Schicht macht sich ein arrogantes Gutsherrenverhalten breit, dass es zum kotzen ist. Der Herr Bundestagspräsident Prof. Lammert disqualifiziert sich bereits selbst in seinen ersten Sätzen. Da schreit er nach Niveau weil er soviel gesehen hat auf den deutschen Bühnen. Deswegen kann er auch mitreden.Er war oft "begeistert" - manchmal "verstört" - ein paar Mal "irritiert" - aber öfter "inspiriert" - und, Gott sei Dank nur "selten", war der Herr Bundestagspräsident " verärgert" - Da haben wir ja noch Glück gehabt.- Lächerliche Bildungsbürgerschlagworte. So plappert einer, der Kunst nur für die Beantwortung einer Forderungshaltung von Seiten des Publikums (und sich selbst für das Maß aller Dinge) hält. Kuscheltheater! Kuschelkultur! A bisserl Irritation und Verstörung darf schon sein. Aber wenn man sich ärgern muss, dann kann man auch mal andere Geschütze auffahren. Da muss man mal einen "offenen Brief" schreiben und einen schönen medialen Abgang inszenieren.
Der Kaiser ist verärgert, der Kaiser hat seine Loge verlassen. -Wegen einem Furz auf der Bühne. Ob man Preise und Preisverleihungen braucht oder nicht. So what. Und ob man einen Thetaerpreis so aufzieht, als sei es die Vermehrung des Bambis. Schei...egal. Aber die aufgeblähte Empörung über Kunst, der derzeitigen politischen Kaste, ist unerträglich. Bleibt nur zu sagen, dass sich im Fall von aufgeblähter Empörung meistens das Mittelmaß selbst die Hand reicht. Wenn sich dann der "Arbeitgeber"-Präsident auf tiefgreifende Ironie einer Preisverleihung rausredet, ist dies genauso jämmerlich. Die Thetaerbranche will einen glamourösen Preis verleihen.Findet aber die herkömmliche Weise glamouröser Preisverleihungen doof. Deswegen zieht sie eine glamouröse Preisverleihung durch, die aber ironisch sein soll.-Alles klar. Ich wünsche Herrn Professor Doktor Lammert noch viele Ärgernisse auf deutschen Bühnen. Und dem deutschen Theater wünsche ich mehr Abkehr von allgemeiner Anbiderung.
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