Auch im Lob angreifbar

von Petra Kohse

Berlin, Januar 2009. Die Nachtkritik ist eine Erfindung der Romantik. Moritz Gottlieb Saphir ergriff diese theaterkritische Sofortmaßnahme 1827 im Berliner Courier, um die nach theatralen Neuigkeiten gierende Leserschaft schneller bedienen zu können als die Konkurrenz. Die Bühne und das Feuilleton waren zu der Zeit die einzigen von der Zensur halbwegs verschonten öffentlichen Foren, und die Theaterkritik war entsprechend populär.

Anders aber als etwa Ludwig Börne, der "im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens" entdeckte, gehörte der 1795 in Ungarn geborene Saphir zu den Skandalschreibern. Zu jenen, die den romantischen Personenkult bedienten und ihre spitze Feder spazierenführten. Wegen seiner frechen Kritiken in der Wiener Theaterzeitung hatte der Journalist und Schriftsteller 1824 schon die österreichische Hauptstadt verlassen müssen.

In Berlin gab er ab 1826 zunächst die Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit heraus, ein Jahr später zusätzlich den Berliner Courier, ein Morgenblatt für Theater, Mode, Eleganz, Stadtleben und Localität. Die Tatsache, dass die Nachtkritik die Zensur ganz offensiv umging, störte den preußischen König Friedrich Wilhelm III. nicht so sehr. Er soll selbst zu den Lesern des Berliner Courier gehört haben. Als Saphir dann aber zwei Jahre später die allgemeine Pressefreiheit in Preußen forderte, wurde er auch hier des Landes verwiesen.

Die Form der Nachtkritik hielt sich. Auch über die Revolution von 1848 hinweg. Selbst Theodor Fontane, der für die in Berlin erscheinende Vossische Zeitung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ausführliche Theaterberichte verfasste, die teilweise – "Auf das Spiel komme ich morgen früh zurück." – in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben erschienen, war oft gehalten, den ersten Beitrag schon in der Nacht zu schreiben, was ihn alles andere als glücklich machte. 1889 entschuldigte er sich bei der Schauspielerin Paula Conrad dafür, ihre Hilde in Ibsens "Frau vom Meer" am Königlichen Schauspielhaus "reizend" genannt zu haben:

Alles bleibt unvollkommen

"Es ist ein Verlegenheitswort. Weiter nichts. Da setzt man sich hin und hat in drei Stunden eine ellenlange Kritik zu schreiben über eine, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche, sehr schwierige Materie. Das Mädchen, eingemummelt, steht schon hinter einem, mit einem Markstück in der Hand, um sich sofort auf eine Droschke erster Klasse stürzen zu können. Alles ist in Hast, Angst, Aufregung, und noch immer sitzt der unglückliche alte Mann an seinem Schreibtisch und fegt über die Seiten hin und ist noch immer nicht fertig.

Endlich. Aber da sind ja noch die Schauspieler. Meyer phänomenal, Ludwig dito, Collmer verfehlt, Conrad reizend – abgemacht, weg. Es ist alles ehrlich gemeint. Auch der ungefähre Ausdruck, aber alles grob, ungehobelt, unvollständig, auch im Lob angreifbar, übertrieben alles schönen Maßes entbehrend. Das beklage ich am meisten. Aber es ist nicht zu ändern und man kann nicht mehr tun als es augenscheinlich zuzugestehn und, soweit es geht, hinterher auszugleichen. Wer diesen Zustand der Sache bestreiten will, lügt. Alles bleibt unvollkommen."

Alles bleibt unvollkommen. Immer. Es gibt auch heute wohl kaum einen Kritiker, der dies nicht sofort und vorbehaltlos unterschreiben würde. Auch wenn man seinen Text für die Tageszeitung am folgenden Mittag um 12 Uhr abgibt. Und um wieviel mehr, wenn man noch in der Nacht oder am noch nicht ganz hellen Morgen schreibt – bei nachtkritik.de ist der Abgabeschluss um sieben Uhr, am Wochenende um acht Uhr früh. Veröffentlicht wird jeweils zwei Stunden später.

Manchmal schicken nachtkritik.de-KorrespondentInnen ihre Kritiken aber auch schon kurz nach Mitternacht. Sie müssen dann nach Hause gestürzt sein und 90 Minuten ohne aufzusehen getippt haben. Und trotzdem ist oft kein Jota zu redigieren – erstaunlich! Wobei man natürlich fragen kann, was denn diesen Mitternachts- oder Frühmorgentexten alles fehlt. Welche Reflexionsebenen, welche Kontextbezüge. Aber im allgemeinen ist festzustellen, dass sich zwar die Referenzberichte im Wochen- oder Monatsblatt deutlich komplexer lesen, die in der Tagespresse aber nicht.

Beschleunigung im eigenen Auftrag

Nachtkritik.de wurde im Mai 2007 gegründet. Aus Neugier. Alle schreibenden GründerInnen hatten die Erfahrung gemacht, dass in den gedruckten Feuilletons immer weniger Platz für immer weniger Ereignisse zur Verfügung gestellt wurde. Und dass die von ihnen aktuell verfassten Kritiken durchaus mal zwei oder drei Tage auf Halde lagen, bevor sie gedruckt wurden. Um dann übrigens auch im Internet zu stehen. Warum also nicht gleich, warum also nicht selbst?

Zumal die technische Übermittlung anders als zu Saphirs Zeiten keine eigene Zeit in Anspruch nimmt und unter Umständen vor dem Schreiben sogar noch geschlafen werden kann. Und das Format war vakant: Als festes Zeitungsgenre hatte sich die im Mai 1936 von Goebbels verbotene Nachtkritik nach Ende der Nazizeit nicht mehr durchgesetzt. Der Bericht am übernächsten Morgen hat den Lesern – von einigen, meist österreichischen und vor allem musiktheatralischen Ausnahmen abgesehen – seither offenbar immer gereicht. Entsprechend ist der größte Unterschied zur romantischen Nachtkritik der, dass die postmoderne Neuauflage nicht aus verlegerischem Kalkül erfolgte, sondern als Projekt der Schreiber und Schreiberinnen selbst. Keine Beschleunigung im öffentlichen Auftrag also, sondern im internet–typisch eigenen.

Theaterkritik gibt es im Internet auch jenseits von nachtkritik.de. Viele Zeitungen stellen ihre Beiträge meist mehrere Stunden vor Drucklegung ins Netz. Nur wenige allerdings für immer und niemand direkt am Morgen nach der Premiere. Auch wird die Vielstimmigkeit nicht gepflegt. So dass es durchaus so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal der Internet-Kritik von nachtkritik.de gibt. Die Frage ist, was die Sache denn eigentlich kostet. Und da muss man antworten: Den Leser ein beglückendes Nichts, den Schreiber fast alles, worauf er anderswo bauen kann.

Jeder ergreift das Wort – und keiner behält es

In der Zeitung oder im Radio ergreift der Kritiker (die Kritikerin) das Wort, um einen für Kultur vorgesehenen Platz zu füllen. Zwischen politischer Nachricht, Lokalreportage und dem Fernsehprogramm ist er (oder sie) zuständig für die Ausdeutung dessen, was derzeit im Theater passiert. Da kann man dann in der Bühne die Welt erkennen, den Künstler als Genie preisen oder in der Theaterführung ein kulturpolitisches Versagen anprangern. Man erhebt als autorisierte Fachkraft das Wort und darf es für die Dauer dieses Tages und Anlasses behalten.

Anders bei nachtkritik.de. Wer hier schreibt, wird nicht nur am folgenden Tag redaktionell von den naturgemäß ganz anders tönenden Stimmen der Print-Kollegen eingerahmt, sondern unter Umständen sofort nach der Veröffentlichung in eine Diskussion mit den Lesern verwickelt. Wobei einem manchmal umstandslos widersprochen wird, in durchaus harten Worten und zwar von Leuten, die meist ihren Namen nicht nennen, sondern als "Gast", "Gelangweilter" oder "Hollywut" auftreten. Das können Theaterangehörige sein, Kollegen oder Abonnenten. Man weiß es nicht – und würde es auch nicht erfahren, wenn man um Klarnamen oder wenigstens um e-Mail-Adressen bäte. Dann hätte man es stattdessen eben mit Hans Luft oder abc@web.de zu tun.

Die Idee der Identität ist im Internet obsolet geworden. Jeder lebt in dem, was er äußert, und verschwindet hinter dem Gesagten sofort wieder – es sei denn, er stellt sich bewusst zur Schau und an den Pranger, wie die Nachtkritiker es im selbst erteilten Auftrag des allgemeinen Diskurses über Theater tun.

Das "Recht der ersten Nacht" (Roland Koberg) wird also mit dem Verlust der Deutungshoheit bezahlt. Ganz egal, ob der Kritiker Zuspruch oder Proteste provoziert, er ist – zumal retrospektiv – nur einer von vielen, der spricht und hebt sich zwar momentan noch durch Identifizierbarkeit hervor, aber das ist eine Differenz, die jederzeit überwunden werden kann. Von Redaktionsseite durch die Verwendung von Pseudonymen. Seitens der Nutzer durch Bekenntnis von Identität und einer wiedererkennbaren eigenen Berichterstattung über Theater auf den nachtkritik.de-Seiten.

Zurück zu Lessing?

Für die Theater ist das Jedermannsrecht auf nachtkritik.de eine feine Sache. Endlich widersprechen und richtigstellen, endlich sich wehren und erklären können! Einerseits. Andererseits verlieren die Theater den Kritiker (die Kritikerin) hier als öffentliches Gegenüber. Als beauftragten Meinungsbildner eines bestimmbaren Teils der Gesellschaft, zu dem jeweils auch viele gehören, die gar nicht selber ins Theater gehen. Von der Gefahr der Nischenrelevanz ist jede Fachpublikation bedroht. Als Mitmachmedium ist nachtkritik.de für die Theaterinteressierten jedoch ein doppelt selbstbezügliches Medium: der Diskurs hier hat deutlich Werkstattcharakter.

Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, und tatsächlich gehörte eine solche Entwicklung von Anfang an zu den Absichten der MacherInnen. Damit einher geht aber eine Funktionsveränderung von Theaterberichterstattung, die kritikgeschichtlich interessant ist, weil sie die Kritik wieder dorthin zurückbringt, von wo sie in ihrer heutigen Form vor knapp 250 Jahren startete: in den unmittelbaren Einflussbereich des Theaters.

Gotthold Ephraim Lessing hatte sich als Dramaturg der Hamburgischen Entreprise in seiner anfangs halbwöchentlich erscheinenden "Hamburgischen Dramaturgie" zunächst auch mit der Aufführungsästhetik an seinem Haus auseinandergesetzt. Aufgrund von Protesten der Schauspieler musste er damit aber nach dem 25. Stück aufhören. Dass Theaterkritik nicht in die Interessen des Theaters verstrickt sein darf, war somit bewiesen, und in der Folge nahm das nach der französischen Revolution erwachte – und bald verlegerisch genutzte – kulturelle Interesse einer großen Schicht von Leuten die Stelle des Auftraggebers ein.

Heute gibt es dieses Interesse noch immer. Aber es bedarf keiner Zeitung mehr, um sich zu kanalisieren und zu reflektieren. Das Bisschen, was die Leute lesen, posten sie im Internet selbst. Was man auch daran merkt, dass es gegen den massiven Abbau des überregionalen Feuilletons während der Zeitungskrise vor einigen Jahren keine Leserproteste gab. Längst ist nicht mehr das Zeitungsabonnement identitätsstiftend, sondern der Eintrag in Facebook. Gleichzeitig haben die Theater gemerkt, dass es weniger zählt, was, als dass über sie geschrieben wird, und indem sie ihre Internetaufritte in Magazinformaten organisieren und dort auch zunehmend Platz für die Dokumentation von Kritiken einräumen oder sogar Zuschauerkommentare zulassen, haben sie sich selbst in den Bereich des Internet-Journalismus aufgemacht.

Der Internetkritiker ist Teil der Party

Früher standen sich Publikum, Presse und Theater als getrennte Größen gegenüber. Heute wuselt der Diskurs im Do-it-yourself-Verfahren auf mehreren Ebenen fröhlich durcheinander. Hinsichtlich der Fairness im Ton, der Beschreibungsgenauigkeit oder der Kontextualisierung einer Arbeit hat die Vermischung der Bereiche der zeitgenössischen Theaterkritik sicher einiges gebracht. Die Frage nach der nur individuell zu verifizierenden Wahrheit eines Abends, nach dem persönlichen Funktionieren oder Nicht-Funktionieren und der sich daraus ableitenden Relevanz für die jeweilige Restwirklichkeit aber wird deutlich seltener gestellt.

Anders als der zahlende Zuschauer oder der diskursgeschützte Zeitungskritiker, ist der Internetkritiker unauflöslich Teil der Party und weiß, dass Spielverderber in die Ecke gestellt werden. Kann sein, dass es genau darauf – auf die Kultivierung eines Gesprächs über die Rampe hinweg – zur Zeit ankommt, weil die Diskussionskultur innerhalb der Branche nach erst der Subventions-, dann der Zeitungskrise auf einem Tiefpunkt war. Kann aber auch sein, dass man wichtige Anschlussstellen und Außenbezüge verkennt, wenn man – durchaus übrigens in der Tradition der Romantik – zu sehr damit beschäftigt ist, die eigenen Positionen abzusichern und zu bequatschen.

 

Die Autorin ist Theaterhistorikerin und gehört zu den GründerInnen von nachtkritik.de.

 

 

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Kommentare  
Theaterkritik im Internet: kein Gespräch
Quatsch. Burlesk, Vaudeville war besser; das HIER: auf jeden Fall: Kei(u)n Gespräch.
Theaterkritik im Internet: so wird gesprochen
Ach Lösch, mach doch erstmal deine Hausaufgaben, bevor du hier den lauten raushängen lässt. Wieso überhaupt "Kei(u)n"? Irmgard Keun oder was? Inszenierst du demnächst "Das kunstseidene Mädchen"? Als Chor der arbeitslosen Schauspielerinnen? Käse! Komm nach Leipzig! Hier wird wenigstens noch deutlich gesprochen. Von echten Schauspielern! Laien kann jeder!
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