Literatur als Provokation der Theaterkritik

von Kai Bremer

30. Januar 2019. Als vor Kurzem Simon Strauß in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dazu aufgerufen hat, vergessene Theaterstücke für die Gegenwart wiederzuentdecken, hat das auch hier für einige Reaktionen gesorgt. Bemerkenswert ist jedoch nicht nur das Anliegen an sich, sondern auch der Umstand, dass der Theaterkritiker damit indirekt daran erinnert, dass solide Textkenntnis und wohl begründete literaturkritische Kompetenzen zu den Fundamenten der Theaterkritik zählen.

Dieser Zusammenhang war lange Zeit elementar. Bei Alfred Kerr etwa nehmen die Hinweise konkret zur Inszenierung im Vergleich zur literaturkritischen Auseinandersetzung mit dem Stück selbst häufig keinen all zu großen Raum ein. So fragt seine Besprechung von Gerhart Hauptmanns "Florian Geyer" 1904: "Was ist der Kern dieses Werks; nicht wie es jetzt gespielt, sondern wie es geschrieben worden ist?" Kerr sah es offenkundig als seine Aufgabe an, Stücktext wie Aufführung mindestens gleichwertig beurteilen zu können. Und noch Andrea Breth ereiferte sich während ihrer Zeit als Intendantin an der Schaubühne am Lehniner Platz wiederholt, wenn sie einmal den Eindruck hatte, dass der Kritik grundlegende Textkenntnis abging.

Wieviel Textkenntnis braucht Theater?

Wie sehr die Theaterkritik im Unterschied dazu inzwischen ihre literaturkritische Kompetenz eingebüßt hat, zeigte sich jüngst, als am Deutschen Theater Berlin Moritz Rinkes Drama Westend uraufgeführt wurde. Die Inszenierung hat, was bei Rinke keine Seltenheit ist, die Kritik polarisiert. Ulrich Seidler verweist in der Berliner Zeitung direkt auf Rinkes "literarische Inspiration", nämlich Goethes "Wahlverwandtschaften". Doch just die sorgt im Neuen Deutschland für Irritation: "Man raunt auch etwas von Goethes Wahlverwandtschaften", erklärt dort Gunnar Decker. Er vermittelt mit seiner Wortwahl den Eindruck, als sei Goethes Roman etwas im Hintergrund, was für das Verständnis des Stücks gänzlich belanglos sei. Er unterschlägt damit, dass in "Westend" explizit sowohl auf das hinter Goethes Romantitel stehende chemische Bindungs- und Anziehungsdenken als auch auf den Weimarer Klassiker selbst verwiesen wird.

Simon Strauß wiederum hat Rinke in der FAZ attestiert, er lasse Goethes Roman "bescheiden im Hintergrund aufleuchten". Literarische Inspiration – Geraune – Aufleuchten: Mit offenkundig gänzlich unterschiedlichen Metaphern umschreiben die drei Kritiker ein Verfahren, das zumindest literarisch interessierte Menschen neugierig macht: Wie – oder gar warum – wählt Rinke die "Wahlverwandtschaften" zur Vorlage?

Westend 2 560 ArnoDeclair uAus der Uraufführung am Deutschen Theater: Paul Grill (Michael), Linn Reusse (Lilly) Birgit Unterweger (Eleonora) © Arno Declair

Bei Goethe denken die drei älteren Protagonisten über das Wort "Wahlverwandtschaften" und chemische Affinitäten nach. Bei Rinke macht das hingegen die deutlich jüngere Medizinstudentin Lilly, das Pendant zu Goethes Ottilie. Bei Rinke brennt sie später selbst das Feuerwerk anlässlich ihres Geburtstags ab und eben nicht Eduard. Schließlich stirbt sie in "Westend" auch nicht. In der Folge der Premiere haben diese Differenzen keine einzige Kritik beschäftigt. Wenn Decker etwa im Anschluss an seinen Verriss des Dramas der Lilly-Darstellerin, Linn Reusse, anerkennend und gänzlich zurecht "eine eigene Form" attestiert, fragt man sich, ob sie die ohne die Eigenständigkeit, die Rinke in Lilly im Vergleich zu Ottilie angelegt hat, hätte finden können.

Ein tragischer Mensch

Die "Wahlverwandtschaften" wurden vor dem Hintergrund der konkreten Bedrohung durch den Krieg gegen Napoleon verfasst. Allerdings bleibt dieser Umstand im Roman eigentümlich unkonkret, er wird an keiner Stelle weitergehend reflektiert. Auch diesen Sachverhalt ändert Rinke entschieden. Michael, der Wiedergänger von Goethes Hauptmann Otto, war in Afghanistan im Einsatz. Jenseits dokumentarischer Auseinandersetzungen ist Michael damit eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Gegenwartstheater wie -drama. Immer wieder beginnt er unvermittelt von seinen traumatischen Erinnerungen zu erzählen ("Ich habe vorwiegend Kinderbeine amputiert, Splitter in Kinderköpfen gesucht …").

In den Kritiken wird Michaels psychische Versehrtheit zwar regelmäßig genannt. Eine literaturgeschichtliche Einordnung aber fällt aus. So spricht Georg Kasch hier auf nachtkritik zwar Michaels "posttraumatisches Stresssyndrom" an, doch woher der Arzt es hat, thematisiert er nicht. Dass Rinke mit der Figur die Frage aufwirft, wie ein solch tragischer Mensch in der bürgerlichen Mitte der Berliner Republik klar kommen kann, wird nicht weiter beachtet. Dass er damit einen gänzlich anderen Akzent als Goethe setzt, findet ebenso keine Erwähnung.

Barbara Behrendt hat im Deutschlandfunk erklärt, Rinke entfache ein "Beziehungsgewirbel, das auf Goethes Wahlverwandtschaften" gründe. Der Hinweis auf den Roman gibt damit jedoch nicht mehr ab als den Eindruck, hier handle es sich je lediglich um ein amouröses Durcheinander. Dass Michael aus Afghanistan Opium nach Deutschland geschmuggelt hat, um sein psychisches Elend damit ein stückweit erträglicher zu machen, wird – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt. Stattdessen versuchen die Verrisse, das Stück Richtung Boulevard zu drängen. Dass das weit schwerer gefallen wäre, wenn auch nur mit einem Satz erwähnt worden wäre, wie Rinke Goethes Hauptmann in die Gegenwart überführt, liegt auf der Hand.

Die "Qualverwandtschaften"

Der Riss, der sich hier in der theaterkritischen Auseinandersetzung mit Rinkes Stück auftut, lässt sich offenkundig an der Gretchen-Frage des Theaters seit der postdramatischen Wende festmachen: Wie hältst Du's mit der Literatur?

Goethe Ottilie KaulbachPostkarte zu Goethes "Die Wahlverwandschaften"
Ottilie mit dem Sohn Charlottes
Diese Frage ist im Falle von "Westend" deswegen so entscheidend, weil das Stück dazu dezidiert Position bezieht. Es ist ein Drama, das sich der Literaturgeschichte stellt und dementsprechend zur literaturkritischen Beurteilung herausfordert. Schon Goethes Roman kennzeichnet der kreative Umgang mit literarischen Vorlagen und Motiven sowie ihre Weiterentwicklung und Umdeutung. Sein Roman stellte für die Zeitgenossen vielfach eine Herausforderung dar und polarisierte beim Erscheinen. Einerseits wurde er zum Bestseller, andererseits kursierten rasch erste polemische Bonmots. Tiecks Rede von den "Qualverwandtschaften" dürfte wohl das bekannteste sein.

Aber eben dieser Umstand zeigt auch, wie eigentümlich die Rezeptionsgeschichte manchmal verläuft: Ein an sich komplexer, anspielungsreicher und zugleich letztlich ungemein handlungsarmer Roman, der eigentlich alles mitbringt, um beim Publikum durchzufallen, findet eine breite Leserschaft und stößt auf viel Neugier. Zugleich aber wird er von Teilen des professionellen Publikums als blanke Provokation begriffen, obwohl er eben das macht, was Literatur immer schon getan hat und was sie nicht zuletzt ausweist: die anspielungsreiche Auseinandersetzungen mit literarischen Vorlagen, Figuren und Themen.

Zu einer besonders eigentümlichen Beurteilung führt die theaterkritische Verweigerung, die literarischen Anspielungen in Rinkes Stück zu sehen, im "Neuen Deutschland". Decker hält hier fest, das Drama sei "ein Feuilleton über grassierenden Moralismus und grenzenlose Eitelkeit". Nun hat der Feuilleton-Vorwurf in anti-bürgerlichen Medien eine lange Tradition. Ihn im Feuilleton-Teil einer Zeitung selbst zu formulieren, ist jedoch nicht nur unfreiwillig komisch.

Verlorenes Vertrauen

Letztlich sagt Decker damit: Rinke, der nicht zuletzt auch Feuilleton-Autor ist, dieser Rinke hat ein Stück in dem Stil geschrieben, den er regelmäßig pflegt. Angesichts einer solch paradoxen Logik fragt man sich als Leser der Kritik, ob Decker tatsächlich ein Manko darin sieht, wenn ein Schriftsteller einen eigenen Stil ausbildet. So kommt bei seiner Kritik eigentlich nur zum Ausdruck, wie wenig er Rinkes Schreiben mag, dass dessen neues Stück daran nichts ändert und dass der Kritiker sich einen anderen Ort für die Uraufführung gewünscht hätte. Offenbar hat sich – mit Brecht gesprochen – das gesamte Deutsche Theater Berlin das Vertrauen des "Neuen Deutschland" verscherzt. Glücklicherweise sind die Zeiten nicht mehr so, dass das beunruhigen muss.

Wer sich auf diese Weise ein Stück und damit erst recht seinen Umgang mit der literarischen Tradition vom Leib hält, kann zum Gesehenen auf der Bühne freilich kaum mehr als Meinungen und zuvor gefasste Erwartungen äußern. Differenzierte Beurteilungen, die etwa durch Vergleiche mit dem Vorbild Goethes eigene Kategorien entwickeln und so versuchen, zu einer Bewertung von Rinkes Stück zu gelangen, sind das nicht.

Westend6 560 Arno Declair xMichael gespielt von Paul Grill, in der Mitte, woher stammt sein posttraumatisches Belastungssyndrom? © Arno Declair

Doch selbst dort, wo die Kritik offenkundig präzise gelesen hat, kann sie zu überraschenden Ergebnissen kommen. Peter Laudenbach, der für die Süddeutsche Zeitung die Premiere besucht hat, eröffnet seine Kritik nicht nur mit einer hübschen Anspielung auf Goethes Roman ("Eduard, so nennt Moritz Rinke einen Berliner Schönheitschirurgen in den besten Midlife-Crisis-Jahren, ..."). Nachdem er den Inhalt zusammengefasst hat, bleibt der Roman erste Bezugsgröße – derart grundlegend gar, dass er auf Stephan Kimmigs Regie und die Schauspieler*innen nur in einem abschließenden Absatz eingeht. Eine Literaturkritik in Gestalt einer Theaterkritik also? Gemessen am Umfang des Vergleichs zwischen Goethes Roman und Rinkes Drama gewiss.

An der Zuverlässigkeit seiner Deutung darf hingegen gezweifelt werden. Nicht nur, dass er verwechselt, mit wem Eduard nach Weimar fährt (laut Laudenbach die Nachbarstochter Lilly, bei Rinke die Lebensgefährtin von Lillys Vater, Eleonora). Zu Eduards und Eleonoras Tête-à-Tête in Weimar und Buchenwald erklärt er sodann: "Wie Rinke mit einem kurzen, unverbindlichen Schlenker ein Konzentrationslager in seinen Plot einbaut, um sein Klischeepersonal irgendwie interessant zu machen, ist obszön." Wie Laudenbach zu diesem Ergebnis kommt, bleibt freilich sein Geheimnis.

Rinke Moritz c Joscha Jenneen uMoritz Rinke © Joscha Jenneßen

Zwar erzählen die beiden Figuren von einem amourösen Kurztrip nach Weimar. Offenbar sind sie dabei auch mehr mit sich selbst beschäftigt als mit den Orten, die sie besuchen. Das sagt gewiss auch etwas über Eduard aus, über seinen geschmacklosen Egoismus, der in dieser Szene mit gutem Grund als obszön begriffen werden kann. Aber sagt eine solche Figuren-Charakteristik tatsächlich etwas über den Dramatiker des Stücks aus?

Die Frage zu stellen, heißt natürlich, sie zu verneinen. Goethes wie Rinkes Eduard artikulieren mehr als unmissverständlich, was sie von denen halten, die zu Goethes Zeit "Pöbel" genannt werden. Gleichwohl erlauben sich Goethe wie Rinke ihre männliche Hauptfigur nicht als emotional unterentwickelte Kotzbrocken, sondern als durchaus empathische, aber letztlich eben immer egozentrische Schöngeister zu zeichnen. Dass Rinke Eduard gerade in seiner Ambivalenz unverändert in die Gegenwart überführt, den Hauptmann hingegen entschieden aktualisiert, ist ein Umstand, der in keiner Kritik reflektiert wurde.

Thema verfehlt

Selbstverständlich muss eine Theaterkritik mehr Themen und Sachverhalte gleichzeitig berücksichtigen als zum Beispiel ein literaturwissenschaftliches Referat. Aber metaphorische Bewertungen ohne nachvollziehbares literaturkritisches Fundament machen sie beliebig und scheinen zudem sich entschieden widersprechende Urteile zu befördern. Diese These legt zumindest die Beschäftigung mit den Kritiken zu "Westend" nahe. Wie unterschiedlich die Leistungen der Regie und der Schauspieler*innen der Berliner Uraufführung bewertet werden, frappiert auf jeden Fall sehr.

Mein Sohn sollte einmal als Klassenarbeit eine Geschichte weitererzählen, die auf einem Weihnachtsmarkt begann. Er war damals elf oder zwölf Jahre alt. Sein Alter Ego in der Erzählung streckte nach einigen Kollateralschäden mit einer zufällig verfügbaren Waffe den Amokläufer auf dem Weihnachtsmarkt erfolgreich nieder. Es gab formal und erzähllogisch zahlreiche Gründe, meinem Sohn nicht mehr als ein 'ausreichend' für diese Arbeit zu geben. Der einzige Kommentar, den die Deutschlehrerin unter den Aufsatz meines Sohnes schrieb, war: "Ich hätte mir eine besinnlichere Weihnachtsgeschichte gewünscht." Als ich die Lehrerin darauf ansprach, dass in der Aufgabenstellung nicht nach einem besinnlichen Aufsatz gefragt worden sei, sah sie mich verständnislos an.

 

Kai Bremer, geboren 1971, ist Professor am Institut für Germanistik der Universität Osnabrück. Er schreibt seit 2010 für nachtkritik und forscht unter anderem zu Gegenwartsdramatik und -theater.

 

mehr debatten

Kommentare  
Westend-Goethe-Rezeption: Sehnsucht nach objektivem Blick
Lieber Kai,
ich bin in der etwas ungemütlichen Lage, "Westend" weder gesehen noch gelesen zu haben, weswegen ich hier gewissermaßen ohne "Literaturkenntnis" schreibe. Aber die Lektüre Deiner Ausführungen reizt mich gleichwohl zum Widerspruch.
Die literarische Anspielung ist ein legitimes Mittel, das ist keine Frage. Sie riskiert aber immer, dass sie nicht entziffert wird. Das muss sie sozusagen einkalkulieren. Und selbst Texte des unfassbar anspielungsreichen Arno Schmidt können mit Vergnügen gelesen werden, ohne die Anspielungen zu enträtseln.
Wenn die Entzifferung indes zur Grundlage der Rezeption eines ästhetischen Gegenstandes wird, beginnt m.E. ein in den Künsten heikler Bereich. Der ästhetische Gegenstand muss doch, um Adorno im Munde zu führen, auch "zwingend im Phänomen" sein. Es gibt viele Texte, die ältere Texte überschreiben, und im schlimmsten Fall ist das ihr einziger Pluspunkt. Wenn die Kritiker nun mit der mühsamen Entzifferung der Differenzen und Übereinstimmungen beginnen würden, gingen sie vielleicht auch nur dem Autor auf dem Leim, der sich mit der Wahl des Vorbilds selbst zu nobilitieren versucht.
Ein frischer Blick auf das eigentliche Phänomen, also auf den Text oder den Theaterabend, ist mir da mitunter lieber als eine intertextuelle Textanalyse (die ich allerdings auch nicht ablehne, denn sie gehört ja zu hermeneutischen Potential des ästhetischen Gegenstandes). Und dass Kritiken einander "entschieden widersprechende Urteile" enthalten, das ist einfach so. Das hat mit Literaturkenntnis nicht viel zu tun, denn auch nach einer intertextuellen Würdigung können zwei Kritiker*innen noch zu gänzlich verschiedenen Wertungen kommen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ein allzu heftiges Pochen auf Literaturkenntnis letztlich auf die Sehnsucht zurückzuführen ist, Kritik könne vielleicht doch objektiv sein. Ich glaube aber, dass eine Kritik nur mehr oder weniger gut argumentiert sein kann, in sich konsistent oder nicht. Objektiver wird ihr Werturteil durch gute Argumente und innere Konsistenz nicht, nur diskursfähiger.

Herzlich Grüße sendet
Wolfgang
Westend-Goethe-Rezeption: Sehnsucht provozierender Literatur
Was Kai Bremer hier beschreibt an aufgebautem theaterkritischen Manko ist zweifelsohne eine sehr berechtigte Kritik an der Kritik.
Freuen wir uns also aufrichtig! über Rinkes Arbeit(en), die als dramatisierte Literatur mit Goethes Wahlverwandtschaften die Theaterkritik provozieren.
Jetzt brauchen wir nur noch Dramatik, die als Literatur Theater und Schauspiel provoziert und dann ist auch wieder was los in der Bude.

PS:
Und haben wir bitte etwas Verständnis für jene vielleicht traurigen FeuilletonistInnen, die Moritz Rinke lediglich als allzeit umgänglichen und netten Kollegen begreifen und die einfach nicht verstehen können oder wollen, dass der - anders als sie selbst - auch noch wirklich Literatur fabrizieren kann und nicht ausschließlich Journalismus. Etwas Neid sollten sie doch haben dürfen - man gönnt sich ja sonst nichts...
Westend-Goethe-Rezeption: Anspielung? Dass ich nicht lache!
Zu #1 "Die literarische Anspielung ist ein legitimes Mittel, das ist keine Frage. Sie riskiert aber immer, dass sie nicht entziffert wird." Mit Verlaub, Herr Behrens, Westend ist mehr als lediglich eine "literarische Anspielung". Die Wahlverwandtschaften sind die Vorlage, auf die mit der Holzhammermethode ständig verwiesen wird. Neben kleineren Verweisen (das Haus wurde vom Goethe von Charlottes Vater gekauft), wird die Figurenkonstellation eins zu eins übernommen, ja sogar teilweise die Namen und Eigenschaften der Figuren, einige Handlungsstränge sowie der Hauptkonflikt. Und wenn es dann jemand noch immer nicht verstanden hat, gibt es noch einen Dialog, den es so ähnlich auch in den Wahlverwandtschaften gibt - nämlich den über Wahlverwandtschaften. Um diese "literatische Anspielung" zu "entziffern", muss man die Wahlverwandtschaften nicht einmal gelesen haben. Vielleicht sehen Sie sich die Inszenierung doch einmal an?
Westend-Goethe-Rezeption: Intertextualität
Ja, ja, von mir aus, liebe Anna Winkler, vielleicht wird in "Westend" auch nicht angespielt, sondern mit dem Holzhammer verwiesen. Aber was besagt das für oder gegen meine Argumentation? Ein Theatertext muss doch in actu überzeugen und nicht in differentia zu einem anderen Text. Wenn ein Text es notwendig hat, sich hinter einem anderen zu verstecken, um lesbar zu werden, dann ist es meiner Ansicht nach kein guter Text.
Ein Gegenbeispiel aus der Theaterpraxis: Christoph Marthalers "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter" war eine Feier des Selbstzitats. Der Abend blieb aber - so entnahm ich es Gesprächen mit Marthaler-Neulingen - auch lesbar, wenn kein einziges Zitat erkannt wurde.
Ohne "Westend" zu kennen, frage ich daher: Was bleibt von dem Text übrig, wenn die "Wahlverwandtschaften" als Folie nicht wahrgenommen werden? Wenn nichts übrig bleiben sollte (was ich weder hoffe noch glaube), dann rettet ihn auch die Intertextualität nicht mehr.
Westend-Goethe-Rezeption: Kanon verteidigt
das thema ist wahrlich prinzipiell interessant.
dass und wie kai bremer hier einen autor aus seinem eigenen offensichtlichen kanon verteidigt, das schwächt seine argumentation schon ganz erheblich. und soll natürlich NICHT sein geheimnis bleiben, sein buch zu m. rinke ist ja auch schon etwas länger auf dem markt:
https://www.tagesspiegel.de/kultur/keiner-wie-heiner/4477368.html

(leicht abgewandelt): "Leider sind die Zeiten nicht mehr so, dass das nicht beunruhigen muss."
Westend-Goethe-Rezeption: Einspruch
Na ja, lieber Wolfgang Behrens, das klingt sehr apodiktisch. Es gilt nicht für die Parodie, die Travestie und die Kontrafaktur, es gilt nicht für Nestroys "Judith und Holofernes", es gilt nicht für Hanns Eislers "Johann Faustus", es gilt nicht für Elfriede Jelineks "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften" und "Faustin and out", es gilt nicht, um über das Theater hinaus zu schauen, für Carl Reiners "Dead Men Don't Wear Plaid" ("Tote tragen keine Karos") und es gilt nicht für György Pálfis sträflich unbekannten Film "Final Cut: Hölgyeim és uraim". Die Intertextualität hat schon ihren Anteil am Vergnügen, das Kunst bereitet. Billiger ist es nicht zu haben. Um meinerseits zu vereinfachen: Ohne Kenntnis der Bibel bleibt ein großer Teil der europäischen und nordamerikanischen Literatur vielleicht unrettbar, aber auch unverständlich.
Westend-Goethe-Rezeption: kulturelle DNA
Sie haben recht, lieber Thomas Rothschild, ich formuliere es zu apodiktisch. Aber Parodien, Travestien etc. wissen darum, dass sie ihre Vorbilder brauchen, dass sie gewissermaßen sekundäre Genres sind. "Judith und Holofernes" ist von Hebbels "Judith" abhängig, und wenn "Judith" ins Nirwana des Vergessens entwschwinden sollte, dann entschwindet der Nestroy gleich mit. Und übrigens: dass die Intertextualität das Vergnügen erhöht, bestreite ich überhaupt nicht. Ich glaube nur, dass man sich nicht auf Intertextualität als hauptsächliches Qualitätsmerkmal oder als Gradmesser für Qualität zurückziehen sollte.
Wobei Sie mich mit der Bibel natürlich kriegen ... Aber vielleicht kann man hier sagen, dass Texte sich in (recht allgemeinen) kulturellen Kontexten bewegen, und wenn diese Kontexte verloren gehen oder unbekannt sind, wird das Verständnis schwieriger. Die jüdisch-christliche Prägung ist wohl ein solcher Kontext. Ich würde die Bibel als Bezugspunkt somit auf eine andere Ebene heben als die "Wahlverwandtschaften". Die Bibel ist "kulturelle DNA", die "Wahlverwandtschaften" - so sehr ich das Werk schätze - sind es nicht. (Aber die Übergänge sind sicherlich fließend.)
Westend-Goethe-Rezeption: dünner Text
#4 Lieber Wolfgang Behrens, es ist auch kein guter Text, v.a. wenn man die Wahlverwandtschaften kennt (und schätzt). Der Text ist m.E. sogar besser, wenn man ihn von den Wahlverwandtschaften loslöst. Das geht aber nicht, da Holzhammer... Die Inszenierung ist dennoch tatsächlich sehr gut, geradezu unfassbar, was Stephan Kimmig und die Darsteller aus dem dünnen Text rausgeholt haben.
Westend-Goethe-Rezeption: melting pot or super bowl 1
Martha: "... But ... it was wartime, and Daddy got the idea all the men should learn how to box ... selfdefense.I suppose the idea was if the
Germans landed on the coast, or something, the whole faculty `d go out
and punch `em to death. ..." (Zitat aus der roten Reclamreihe (Originalsprachtexte) von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" (1.Akt
"Gesellschaftsspiele", Seite 47)

Warum möchte ich mit diesem Zitat beginnen ? Nun ja, einerseits lag das nahe, weil ich mich gerade mit diesem Stück wieder ein wenig beschäftigt habe (stellt sich die Frage, warum Herr Bremer das im Falle Moritz Rinkes nicht ähnlich halten sollte, lieber maxim gorki;
Ihr Hinweis auf das Buch von Herrn Bremer (als Herausgeber) zu Moritz Rinke hat ja fast unfreiwillig etwas von einem Werbeeinspieler), andererseits tauchten ja auch zu "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" und "Maria" (Simon Stephens) in einigen Kritiken Sätze von der Art auf "Das Spiel war besser als das Stück". Natürlich begibt man sich damit auf recht dünnes Eis, wenn man -zumal öffentlich- daran zweifelt, daß jede Kritikerin/jeder Kritiker, die/der einen solchen Ausspruch tut, an dieser Stelle wirklich ganz redlich handelt, will sagen, das Stück hinreichend gründlich gelesen hat, um das es geht; ich spitze das hier bewußt ein wenig zu, wenn ich an dieser Stelle wohlgemerkt vom Primärtext spreche, jenem Text, der dann einer etwaigen Strichfassung also zugrunde liegt, aber es passiert garnicht so selten, daß ich diesen Eindruck habe. Ist denn, um das obige Beispiel ins Spiel zu bringen, in irgendeiner Kritik, irgendeinem Kommentar zur Beier-Inszenierung bislang zur Erwähnung gekommen, daß in den meisten Inszenierungen zu "Wer hat Angst vor Virginia Woolf"
dieser Text zur Wehrhaftigkeit Neu-Englands gegenüber den Deutschen
dem Strich der Strichfassung zum Opfer wohl fällt, bei Karin Beier
aber nicht, wenngleich (ich mußte ein wenig an den Film "Die Spielwütigen" denken, wo eine der beiden Frauen einer New Yorker Schauspielagentur dem verdutzten Prodomos Antoniadis auseinandersetzt: "The Germans are `nt mean anymore." -oder ähnlich-)
bei Karin Beier dann "Die Deutschen" ersetzt wurde durch "Die Chinesen" ? Vermutlich kann eine Kritik darauf eingehen, muß es aber nicht, zumal in der Zeilenbegrenzung, in welcher sie stattzuhaben hat
in praxi; und so geht es - ebenso vermutlich- auch mit den anderen vergleichbaren Eingriffen in den Text durch die Regie, bei denen ich von "Infusionen" gesprochen habe (im "VW"-Thread); geht man aber auf keinen davon ein, denke ich, verscherzt man sich durchaus einen Zugang zu einer Art Inszenierungsstrategie, die mit Aktualisierungs-
einschüben (die auch Anspielungen sind: der Amerikanisch-Chinesische "Handelskrieg") und dezidiert anti-naturalistischen Verfremdungen (das geht vom Baum über die quasi-beckettsche Fahrradfahrt Nicks um diesen Baum herum, über die ziemlich kahle Bühne, via Besetzung -sollte es zu einen Boxkampf zwischen George und Nick kommen, würde ich, nicht nur eingedenk "Napola" (2004) mit Striesow am Boxringrand, auf George wetten, und auch die Hüften von Martha und Honey muß ich nicht lange zu vermessen suchen-, eben bishin zu Wortersetzungen, die zunächst ein absurdes Moment zeitigen, dann aber auch die Interpretation herausfordern) arbeitet. Und ich finde den Gedanken, um in der Sprache des Superbowls zu sprechen, daß die Chinesen einen Überraschungsangriff an den Gestaden der NEW ENGLAND PATRIOTS anbringen könnten, würde heute noch so angegriffen (und nicht eher geflüchtet), und nicht an der Westküste der USA , zB. dem Revier der
LOS ANGELES RAMS, geographisch allemal leichter zu bewältigen, was natürlich auch Karin Beier weiß !, doch irgendwie so schräg und durchaus auch witzig, daß er allemal eine Würdigung verdient, oder, erst recht, wenn diese Stelle ansonsten gerne gestrichen wird.
Westend-Goethe-Rezeption: melting pot or super bowl 2
(Fortsetzung)

Gewiß, ich denke, daß Stefan Kimmigs "Wer hat Angst vor Virginia Woolf"
(aus dem Jahr 2015, Frankfurt, Nachtkritik war dabei) diese Passage und auch jene über die Interims-Leitung des HISTORISCHEN SEMINARS durch George zu Zeiten des 2. Weltkrieges (letztere spielt bei Karin Beier
keine Rolle) enthalten hat (der Tenor der Kritiken bemängelte dann ja auch, daß keine Striche gemacht worden seien und das Spiel unter die Räder geraten sei in direkter Konsequenz; bei Karin Beier liegt der Fall gänzlich anders); aber, bei der Beier-Inszenierung fällt das natürlich auf, weil diese sich stärker an der Strichfassung des Filmes orientiert (mit gewissen Einschränkungen auch an dessen Dramaturgie). Nun ja, ich will an dieser Stelle nicht zu sehr in die Gefilde NEU KARTHAGOS oder NEW HAMBURGS abdriften, der andere Grund für mich, mit dem vorangestellten Zitat zu beginnen, liegt darin, daß
ich bezüglich der "Virginia Woolf" sehr wohl auch auf die großen "Bewertungsdiskrepanzen" , die quasi schon zur Tradition geworden sind bei dem Stück, zu sprechen gekommen bin. Hier begegne ich jetzt jenem ersten Einwand von Wolfgang Behrens bezüglich des (mithin verfehlten) Strebens nach Objektivität, tatsächlich beinahe so, als beträfe er mich und mein Staunen im Falle von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?" gleichsam mit (was nicht zulässig erscheinen muß),
zu frisch ist diesbezüglich dazu allerdings für mich noch meine "Tinte" in einem Nachbarthread zu einem (wohl) verwandten Tatbestand.
Ich für meinen Fall würde diesen Objektivitätsanwurf nicht gelten lassen wollen, mag "Objektivität" als regulative Idee eines "Dem-Gegenstand-versuchen-gerecht-zu-werden" auch für die dann letztlich nur möglichen "Diskurserweiterer/bzw. - vertiefer" unter allen anderen "Illusionen" dann plötzlich wieder die wirkungsmächtigste,
die am meisten befeuernde sein, seinen relativen Standpunkt überhaupt zu erreichen; was mich bei den großen Bewertungsdiskrepanzen ja zumeist wundert, ist ihre Behauptungsform, ist späterhin immer wieder die Nichtbereitschaft, das gänzlich anders gelagerte Argument zum vermutlich "selben" Gegenstand beim Nachbarn überhaupt aufzugreifen bzw. zu durchdenken; Fragen, die bei mir aufkommen, sind also wesentlich Verständnisfragen, und die versuche ich zu klären, was ua. ja auch zu einem phänomenologisch gesehen besseren Verständnis der besagten Diversität hin beziehungsweise sogar dahinterstehenden unterschiedlichen Ansätzen, überhaupt ins Theater zu gehen und es zu rezipieren (zu sehen, zu spüren ...), dienlich sein kann, schlicht nutzbar für: einem Lern- und Kennenlernprozeß meinerseits. Und mal ganz ehrlich, kennen wir das nicht wirklich fast alle, dieses "Wie kann man an dieser Stelle noch so schenkelklopferisch lachen ?" oder jenes "Wie kann man das soooo sehen ??" Ich meine sogar, daß Herr Behrens in seiner Kolumne hierzu auch schon etwas geschrieben hat (vor Zeiten) und daß es dann auch irgendwie auf "Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?" und Erfahrungen damit kam. Und viel weniger muß es ja auch nicht wundern, wenn die verschiedenen KritikerInnen, die Herr Bremer zitiert hat, so recht wäßrige Metaphern finden, um den Zusammenhang von "Westend" und "Wahlverwandtschaften" anzudeuten; ich kann die Frage, die er in seinem Artikel stellt, ganz gut nachvollziehen, denke ich, allerdings wäre es im Sinne einer wie oben umrissenen Verständnisfrage vielleicht zweckdienlicher gewesen, zB.
diese im Thread zur Inszenierung als Kommentatorenfrage anzubringen
(auch wenn ein ganzer Artikel zur Causa natürlich eher Beachtung findet), denn es ist tatsächlich auch für meine Begriffe ein etwas kühnes Unterfangen, einen Artikel mit dem Zungenschlag, das KritikerInnen ihre Hausaufgaben ein wenig schleifen lassen mögen,
auf gerade einmal ein Beispiel zu stützen.
Westend-Goethe-Rezeption: melting pot or super bowl 3
Daß ein Kritiker einmal unter einem Gesichtspunkt die Tätigkeit seiner Kolleginnen und Kollegen öffentlich nachvollziehbar kritisch würdigt, das heißt, so einen Pressespiegel einfach mal mutig befragt, entgegen jeder "Die eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus"-Routine -die super salad bowl nicht einfach gemäß anything goes schluckt-, kann für meine Begriffe allerdings garnicht hoch genug eingeschätzt werden; was könnten wir dabei verlieren ?? Wie gesagt, zu dem "Objektivitäts-
anwurf" -melting pot-, denke ich, ist es vor allem gekommen, weil der Rahmen dafür, diese Kritikenschau zu tun (anhand eines Beispieles, das nicht zwingend sein muß), recht kühn gewählt erscheint. Was ich mit der vorangegangenen Klammer andeuten wollte, ist etwa dieses: In der Praxis, natürlich bin ich kein Kritiker, aber auch für mich ist die Diskrepanz dessen, was an Hintergrund , ja Bedeutung, ja Aktualität, gar Begründung immer wieder in den diversen Inszenierungs-Stück-Heften von der Dramaturgie eines Hauses herangeschafft und manchmal virtuos zusammengestellt, bebildert und ihrerseits dazu teilweise selbst noch einmal kommentierend motiviert wird und dem, was ich dann an einem Abend spüre, erlebe, höre und also aus dem Spiel und schließlich dem Abend heraus erfahren und durch die Sinne gegangen mitnehmen kann (auch hierzu erinnere ich mich an einen Artikel von Wolfgang Behrens, und in dieser Stoßrichtung deute ich auch seine jetzigen Kommentare), so groß, daß, wäre ich ein Kritiker, ich für meinen Verriß vermutlich auch nicht mehr sonderlich motiviert wäre, noch einmal durch all die schönen Quellen zu waten, um dann mich "minutiös" daran abzuarbeiten, was der Abend von dem "Versprochenen" bzw. "Etikettierten" dann nicht einlöste (zumal so ein Text schwerlich noch die Kritiklängenkürze haben dürfte) und mich auf das Karge beschränken, was ich sah, hörte, spürte. Natürlich ist ein Stückbegleitheft nicht 1:1 jener Bezugsrahmen, den Herr Bremer anspricht, und bei dem es bei "Westend" in seinem Verhältnis zu "Wahlverwandtschaften" geht; aber, in der Praxis stelle ich mir das tatsächlich eher so vor, daß der eine oder andere Verriß-Kritiker gleichsam die "Schnauze voll hat" vom Stück und dann eben nicht mehr zur Auffrischung seiner Lektüre der "Wahlverwandtschaften" voranschreitet und dann -leider !- einige Verlegenheitssätze zu dem schwer völlig zu ignorierenden Zusammenhang in seiner Kritik absondert (und schon befinde ich mich erneut auf dünnem Eis). Begriffe wie "Routine" , "Enttäuschung" , "Festgefahrenheit", "Trott und Trotz", "Entleertheit" schwingen da mit; und manchmal hat man die Hoffnung, die Bereitschaft auch der Professionellen, den einen oder anderen zB. Nachtkritik-Thread, gemein und nützlich, wirklich dahingehend zu nutzen, auf Kolleginnen bzw. Kollegen einzugehen, um des besseren Salates, nicht des SUPERBOWLS oder EINHEITSBREIS willen, wäre zu aller Gewinn größer, dann ließen sich auch die Konturen und Qualitäten von bleibenden Diskrepanzen erkennen, spüren, schätzen, denke ich (irgendwie immernoch). Auf "Die neuen Leiden des JUngen W,", "Falsche Bewegung"
oder "Jules und Jim" (siehe "Wahlverwandtschaften") komme ich jetzt, müde !, nicht mehr und schließe mit dem nachgestellten Motto aus der "Die linkshändige Frau" von Peter Handke, welches auch den "Wahlverwandtschaften" entlehnt ist: "So setzten alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken, alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede wäre."
Westend-Goethe-Rezeption: in die Bresche
@9: ja, unfreiwillig - auf jeden fall! danke für den hinweis!
ansonsten: ich habe einfach etwas gegen solche generalabrechnungen (auch wenn sie sich nett & unterhaltsam lesen), wenn man ihnen mit leichter hand (damit meine ich mich selbst) unterstellen kann, hier verteidigt ein experte "seinen" autor. das wirkt tendenziös UND von einem WISSENSCHAFTLER sowie einer professionellen plattform wie dieser erwarte ich dann - vor allem in zeiten wie diesen, wenn es um öffentliche und veröffentlichte meinungen geht - ein klein wenig mehr!

ich selbst halte m.r. für einen intelligenten, klug & wahnsinnig konventionellen theaterautor. bzgl. kai bremer würde mich interessieren, wie groß seine bereitschaft bzw. interesse ist, für weniger bekannte, aber mindestens ebenso talentierte autorInnen so breit in "die bresche zu springen". DIESE hätten es m.e. desöfteren ganz bestimmt nötiger.
Westend-Goethe-Rezeption: Antworten auf (un)gestellte Fragen
Hier sind jetzt einige Fragen aufgeworfen worden, auf die ich gerne antworten möchte. Auch auf die Gefahr hin, dass ich nicht allen Punkten und Positionen gerecht werde.
Zu #10, Arkadij Zarthäuser: ja, klar, das ist jetzt sehr exemplarisch argumentiert. Wollte dadurch möglichst konkret werden, meine These wäre aber zu generalisieren. Zustimmung, ganz klar.
Damit bin ich bei #4 und #7 und Deinen Fragen, Wolfgang. Ich habe Rinkes Goethe-Rezeption beschrieben, um Diskrepanzen deutlich zu machen: Lilly ist eben keine Ottilie. Sie ist zwar wie diese durch ihre Kindheit latent instabil, aber sie löst ihre Probleme viel selbstbewusster und spontaner, nicht devot. Zum Verständnis der Figur und zur Bewertung des Spiels der Darstellerin kann der Vergleich zwischen Roman und Drama damit eine Möglichkeit bieten, um sich der Frage anzunähern, ob das Spiel auf der Bühne allein durch die Schauspielerin trägt oder nicht. Es geht mir beim Hinweis auf die Literatur also weniger um intertextuelle Andeutungen, die die Kritik versteht oder nicht, sondern um die Frage, inwieweit die Kenntnis des Romans dazu beitragen kann, Kriterien für die Kritik zu gewinnen. Ich will damit gar nicht die leidige Objektivitätsdebatte wiederbeleben. Aber ein wenig mehr Intersubjektivität hätte zahlreichen Kritiken gut zu Gesicht gestanden. Zugegeben, das Kriterium muss dann nicht notwendig Literatur sein. Aber wenn die beiden großen Berliner Tageszeitungen "Westend" begeistert aufnehmen und wenn zahlreiche andere Kritiken zu völlig anderen, untereinander aber wiederum gänzlich widersprüchlichen Ergebnissen kommen, dann gibt das zu denken, finde ich. Das wirft schon die Frage nach Kriterien auf. Die literarische Rezeption wäre eins gewesen - hier durch den Goethe-Bezug eins, das besonders naheliegt, näher zumindest als das Vertrauen auf den 'frischen Blick', der m.E. eher ein frommer Wunsch als eine realistische Möglichkeit ist. Auch andere naheliegende Kriterien wurden übrigens nicht gewählt. So wurde bspw. nicht einmal überlegt, wie sich Kimmigs Regie zu anderen seiner letzten Arbeiten fügt oder gar zu anderen seiner Rinke-Inszenierungen.
Dann noch kurz zu 'meinem' Kanon, maxim gorki #5. Ja, habe ein Buch über Rinke gemacht und auch sonst schon wiederholt zu ihm gearbeitet, ist ja auch kein Geheimnis, wie Sie richtig schreiben. Aber es ist nicht so, dass Rinke nur mein Steckenpferd ist: Noch bevor mein Buch 2010 erschien, gab es zB von Vineta schon eine Schulbuchausgabe, neben den ganzen Rowohlt-Ausgaben, und eine ganze Reihe von Fachbeiträgen in Literaturwissenschaft und -didaktik, die alle nicht von mir waren, u.a. in Text und Kritik u.ä. einschlägigen Zeitschriften zu Gegenwartsliteratur. Inzwischen ist Rinke auch Gegenstand z.B. von Lehrbüchern und Literaturgeschichten. Und diese breite Wertschätzung in der Literaturwissenschaft korrespondiert bekanntlich auch mit einer gewaltigen Publikumsresonanz im Theater. Ist also nicht nur mein 'Kanon', wie Sie meinten. Das hat jetzt zwar weniger mit der eigentlichen Frage zu tun, aber es war mir - m.E. aus nachvollziehbaren Gründen – schon wichtig, darauf hier noch kurz hinzuweisen.
Kommentar schreiben