Amboss oder Hammer sein

von Jens Fischer

Hannover, 8. Dezember 2017. Spielplatzfidel toben die Darsteller wie Kinder und Hundebabys um Klettergerüste herum. Bühne und Zuschauerraum sind gleichermaßen hell erleuchtet: Noch funktioniert die Zivilisation. Vereint Kultur und Natur – den seinen tierischen Wurzeln entfremdeten Menschen und das vermenschte Haustier. In der Jack London-Adaption am Staatsschauspiel Hannover changiert das Schauspieler-Quintett zwischen Hunde- und Menschengesten; die Grenzen zwischen den Spezies sind fließend. Unheilschrille Klangakzente bringen allerdings eine Unwucht ins ausbalancierte Spiel. Kalkulierte Zerreißungen des friedensstiftenden Firnis. Mit der Sehnsucht nach einem ursprünglicheren Dasein. Die Jack London getrieben hat ins Unbehauste. Er vernahm, erhörte, verfiel dem Ruf der Wildnis. Seinen Bestseller fröstelt Clara Weyde mit Wind-, Schnee- und Sturmlärmmaschinen nun in den Hannoveraner Ballhof.

Brecht fürs Kindertheater

Mit hitzig empathischem Leidensgestus und unzensierter Quälerei serviert Weyde Hundefreunden und Tierschützern reichlich szenisches Futter, um sich gruselnd zu empören über die brutale Ausbeutung der unterwürfig nach menschlicher Anerkennung buhlenden Vierbeiner. Jack London erzählt seinen Roman aus der Perspektive des Hundes Buck, der in einem kalifornischen Villen-Anwesen die Seele baumeln lässt. "Buck hielt dies alles, Herr und Haus und Sonne, für die legitime Ordnung der Natur." Was sich schnell als Täuschung herausstellt.

RufderWildnis2 560 Isabel Machado Rios uWollen nur spielen: Philippe Goos, Mareike Sedl, Mathias Max Herrmann, Antonia Eleonore Hölzel, Sebastian Weiss © Isabel Machado Rios

Entführt, wird Buck als Schlittenhund an einen Goldgräber nach Alaska verkauft. Der neue Besitzer richtet ihn ab, genauer: versklavt ihn. "Buck ist bekehrt. Die Offenbarung war ein Knüppel. Recht ist Gewalt. Gesetz ein Mann mit Waffe. Das war lebenslänglich ihm nun eingebläut." Die Logik des Existierens funktioniert als Herrenmoral. "Die Ordnung der Natur, Befehl der Gene, du musst steigen oder sinken, musst Amboss oder Hammer sein." Das klingt wie Brecht fürs Kindertheater. Die Produktion ist auch extra annonciert als Produktion für Menschen ab 12 Jahren.

Inzwischen ist die Lichtstimmung eisig finster. Auf kreisförmig um die Spielmanege verlegten Schienen rotiert die Spielplatzinstallation und dient nun als Gefangenentransport, Arbeitsort oder Folterkammer. Das Hundeproletariat kann mit noch so großer Antriebsenergie die Flucht versuchen, es gibt kein Vor, kein Zurück, nur die ewige Wiederkehr des gleichen Elends. Malochen bis zum Umfallen. "Sie fressen, schlafen und ziehen weiter, die Ration ist knapp, ein Kilo Fisch, Buck quälen Hungerkämpfe, friss was du finden kannst, Ekel ist Luxus." Kraft ist das Kapital zum Überleben. Auf ihr Dahinschwinden folgt der Gandenschuss. Oder die Verarbeitung zu Fleischkonserven. Wer durchhält, steigert seinen Marktwert, wird weiterverkauft.

Sozialkritische Goldgräberfabel

Die Darsteller sind so gar nicht Disney-putzig in ihren tierischen Rollen. Zerren kläffend an Leinen, sinken mit heulendem Jaulen oder wimmerndem Röcheln darnieder, krümmen sich vor Schmerz, zittern vor Kälte, stolpern vor Schwäche. Wahrlich erbarmungswürdig gut gespielt, wie unter der Peitsche die Underdogs vollends vertieren. Was die Menschen im Rausch güldener Reichtumsversprechen bereits getan haben. Survival of the fittest in seiner knallharten Konsequenz.

RufderWildnis 560 Isabel Machado Rios uKampf der Hunde: Philippe Goos, Sebastian Weiss © Isabel Machado Rios

Jack Londons lakonisch karger Sprachgestus kommt in einem prima verknappten, ohne Rollenzuweisungen dahinpoetisierten und mit reichlich bildungsbürgerlichen Anspielungen auf Shakespeare, Goethe & Co. geschmückten Erzähltext daher. Verfasst von Soeren Voima. Hinter dem Pseudonym, so das Theater, verberge sich weiterhin Christian Tschirner, einst in Hannover, derzeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als Dramaturg tätig. Er rückt ins Zentrum seiner Version, dass Jack London den Goldrausch zu einer sozialkritischen Fabel verarbeitete. Die Schürfer des Edelmetalls sind ihrer Gier erlegen, für sie zählt nur der Gewinn maximierende Sieg im gegenseitigen Wettbewerb. Jeder gegen jeden. Kapitalismus ist ein Raubtier.

Wildes Wolfsleben als amerikanischer Traum

Regisseurin Clara Weyde sucht hingegen eher eine Form, ohne inhaltlich Akzente zu setzen. Sie inszeniert ein Sprachkonzert – lässt monologisch kläffen, im Duett bellen, mit wechselnden Sprechern den Rhythmus des Textes orchestrieren oder ihn chorisch intonieren – jeweils mit präziser Rezitationskunst. Und setzt dagegen das körperintensiv kreatürliche Spiel der mächtigen Menschenhunde und ohnmächtigen Hundemenschen. Ein Widerspruch, der die Aufführung unter Spannung setzt.

Final wird ein entspannender Ausweg offeriert. Als sich der Kapitalismus, also die raffgieregoistische Goldgräbergsesellschaft, wie in Brechts "Mahagonny" selbst massakriert, reaktiviert Buck den Rest ungezähmter Natur in sich und verlässt die mitleidlose Zivilisationsfarce der Menschen. Mit seinem neuen Freund, dem Wolf, folgt er dem Ruf der Wildnis. Recht verheißungsvoll wird davon gekündet und das Licht wieder hochgedimmt. Sozusagen der amerikanische Traum angeknipst, dass Menschen alles hinter sich lassen und in den Zustand der Unschuld einkehren können. Obwohl vielleicht gerade jugendliche Zuschauer über den "Into the wild"-Versuch des Christopher McCandless gelesen oder Sean Penns Verfilmung gesehen haben und ahnen: Es gibt keine Versöhnung mit der Natur. Ihr ist der Mensch vollkommen gleichgültig.

 

Ruf der Wildnis
von Soeren Voima nach Jack London
Regie: Clara Weyde, Bühne: Katharina Philipp, Kostüme: Clemens Leander, Musikalische Leitung / Live-Musik: Thomas Leboeg, Dramaturgie: Rania Mleihi
Mit: Antonia Eleonore Hölzel, Mathias Max Herrmann, Philippe Goos, Mareike Sedl, Sebastian Weiss
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

In ihrer "durchaus radikalen Inszenierung" arbeite Clara Weyde die kapitalismuskritischen Elemente der Vorlage "und vor allem der Bearbeitung durch Soeren Voima" heraus, schreibt Stefan Gohlisch in der Freien Presse (12. Dezember 2017). Die Inszenierung sei "anstrengend, einerseits in ihrer rabiaten Körperlichkeit, andererseits in ihrer intellektuellen Weigerung, den Prosastoff in gewohnten Bahnen zu dramatisieren", so Gohlisch. Manchmal schieße sie auch übers Ziel hinaus, gehöre aber doch "zum Eindringlichsten, was in den vergangenen Jahren auf Hannovers Bühnen zu sehen war".

"Die Inszenierung nimmt sich für ein zeitgenössisches Jugendstück nur wenige Freiheiten", befindet dagegen Thomas Kaestle in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (11. Dezember 2017). Vielmehr verharre sie "in der altmodischen Nacherzählung einer über 100 Jahre alten Geschichte". Die Schauspieler*innen agierten "als Darstellerkollektiv zwar kraftvoll und präzise als Menschen und Hunde zugleich, zwischen getragenen Prosapassagen verdammt sie die Regie jedoch allzuoft zu illustrativem Leerlauf."

 

Kommentare  
Ruf der Wildnis, Hannover: Gottfried Keller
sehr aktuell - jedoch auf keinen fall "neu" ...

mir fiel ganz spontan tucholsky dazu ein:

"Öffentlichen Verleumder". Gottfried Kellers Gedicht dieses Titels von 1878 wird als Vorahnung dessen gesehen, was im 20. Jh. an Unheil folgen sollte. Die wirksamsten Verleumder der Freiheitsliebenden waren stets solche im linken Gewand. Sie sind die Glaubwürdigsten und zugleich ist ihr Hass auf die Mutigen am größten. Das beschreibt Kurt Tucholsky in seiner "Fabel" vom Hund und den Wölfen. Bei Witterung der Wölfe gerät der Hund in "rasende Tobsucht" und "Wut". "Da lag der, der sich vor achttausend Jahren von den Wölfen losgemacht hatte: für Fressen, Sicherheit und einen warmen Platz in der Hütte. …  Der Kampf [gegen die Wölfe] ging um die Seele. Anklage und Urteil war ihr Erscheinen (…) Er wand sich: denn sie hatten recht! sie hatten recht! sie hatten recht! Er war abgefallen, zum Feind übergegangen: aus Feigheit, aus Verfressenheit, aus Faulheit; aus hündischem Stolz, sich in der Gunst seines Herrn sonnen zu dürfen, (…) Er hasste sie um ihrer Freiheit willen – er war zu schwach, die noch zu wollen. Er ließ sie entgelten, was er nicht hatte werden können.  (…) Er hasste sie, weil sie nicht in der Wärme fressen wollten wie er, und er hasste sie, weil es ihm alles, alles nichts genutzt hatte: der Verrat nicht, die Wachsamkeit nicht, die gebratenen Fleischstücke nicht. (…) was war ihm geblieben! Eine Hundehütte war ihm geblieben."
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