Faust - Frank Castorf exorziert zum Abschied von seiner Volksbühnen-Intendanz Goethes Gelehrtendrama in einer siebenstündigen Großinszenierung
Keine Erlösung, keine Erschöpfung
von Wolfgang Behrens
Berlin, 3. März 2017. Frank Castorf ist wohl wirklich das, was man eine coole Sau nennt. Als es bei den Bayreuther Festspielen vor vier Jahren galt, dem geballten Unmut des Publikums zu trotzen, verharrte er volle 10 Minuten im Buh-Orkan. Allein. Nun aber, da das Publikum ihn am Ende seiner letzten großen Inszenierung nach einem Vierteljahrhundert Intendanz an der Berliner Volksbühne feiern will, betritt er, weit nach Mitternacht, um 1:09 Uhr im Schutze seines Ausnahme-Ensembles die Bühne. Und um 1:10 Uhr verlässt er sie wieder – nach einigen linkischen Verbeugungen –, um nicht wiederzukommen. I am a poor lonesome cowboy ... Die freudig erschöpften Zuschauer*innen müssen sich so in ihrem Jubelbedürfnis an den Schauspieler*innen schadlos halten. Was sie ausgiebig tun. Denn immerhin liegen sieben Stunden Spieldauer hinter ihnen, und da ist der Schlussapplaus auch immer eine Erlösung.
Mit Algerien-Fähnchen dem Ende entgegen
Man hat den "Faust" gegeben, und auf der Bühne ist uns die große Erlösung gerade vorenthalten worden. Zwar hat Valery Tscheplanowa, die als "heilige Hure" Margarete an diesem Abend von bezwingender, ja, von leuchtender Klarheit ist, eben noch die berühmten Worte gesprochen: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Doch Faust fährt nur dümmlich auf einem Kinder-Dreirad im Kreis, um vom Kasperle-Mephisto Marc Hosemanns ab und an einen mit einem Algerien-Fähnchen übergebraten zu bekommen. Erlösung sieht gemeinhin anders aus.
Aber für den Faust, wie Martin Wuttke ihn spielt, stimmt eben auch der bedingende Vorsatz nicht: "Wer immer strebend sich bemüht ..." Wuttkes Faust ist in Frank Castorfs Inszenierung vieles, jedoch bestimmt keiner, der strebsam einer großen Vision folgt. Mal ist er – mit hinreißender Gummiknautsch-Maske bewehrt – ein böser Lustgreis, der die Worte wie weiland Bernhard Minetti mümmelt, mal ist er ein latent mafiöser Checker-Typ, mal auch ein Intellektueller mit schneidend-herrischer Diktion. Mit diesem Faust geht es in keinen bildungsbürgerlichen Himmel, sondern schnurstracks ins Gruselkabinett der humanistischen Seele. Frantz Fanon, der in Castorfs Inszenierung ausgiebig zitiert wird, hat einmal gesagt: "Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt." Es ist der metzelnde, der koloniale europäische Mensch, den Castorf aus Goethes "Faust" hervorwachsen lässt.
Ein Faust-Fiebertraum
Aleksandar Denić hat für diesen Castorf'schen Abgesang wieder eine seiner tollen, architektonisch verschachtelten Drehbühnen gebaut. Zu Beginn zeigt die Vorderseite den Eingang zu einer Art Geisterbahn, die rote Lettern als "L'Enfer", die Hölle, ausweisen. Die Geisterbahn auf der Rückseite dieser Front ist dann ein Zitatenmosaik, das vor allem auf die Kolonialmacht Frankreich anspielt. Es gibt mit Horrorfilmplakaten aus den 1940er- und 1950er-Jahren gepflasterte Innenräume, die französische Militärstationen in Algerien vorstellen können oder Bordelle in Indochina. Und es gibt die Pariser Métro-Station namens Stalingrad.
Was sich in diesem Setting entspinnt, mutet wie ein psychedelischer "Faust"-Fiebertraum an. Die Castorf'schen Assoziationen wuchern wild, und oft scheint die Verknüpfung der Szenen – die meist in der mittlerweile vertrauten Live-Film-Manier auf ins Bühnenbild integrierten Videowänden zu sehen sind – nur lose. Castorf hat im "Faust" verschiedene Herrschaftsdiskurse entdeckt, die nun mit Fremdtexten beschossen werden. Das Motiv der Landnahme, von dem Faust sich im zweiten Teil der Tragödie berauschen lässt, spannt Castorf kurzerhand mit dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts zusammen, konkret mit Frankreichs Algerien-Annexion und dem 100 Jahre später daraus resultierenden Algerien-Krieg (weswegen, wie erwähnt, Frantz Fanons "Aspekte der algerischen Revolution" von 1959 eine wichtige Rolle spielen). Und weil Fausts Beziehung zum Gretchen auch nicht gerade auf Gleichberechtigung fußt, zoomt Castorf gefühlt mehrere Stunden ins Prostituiertenmilieu aus Émile Zolas "Nana" (es sind dies die mühsamsten und kürzungsbereitesten Szenen des Abends).
So wenig das alles inhaltlich zwingend ist, so sehr tun dem "Faust" diese neuen Kontexte gut: Es findet hier ein regelrechter Exorzismus des deutschen Gelehrtendramas statt, anstelle dessen welthistorische Perspektiven treten. Der faustisch-europäische Tatmensch hat ausgedient, so sagen es Martin Wuttke und Castorf einmal mit Sartre: "Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir ihre Objekte." Ein heute nur noch schwer von der Hand zu weisender Befund. Und auch das "Faust"-Drama selbst wird so gewissermaßen zum Objekt in einem noch größeren Spiel degradiert. Allerdings zu einem mitunter rasend komischen.
Glanzlichter noch und nöcher
Denn wenn Frankreich, Algerien und Zola mal in den Hintergrund rücken, dann wird Castorfs "Faust" zur tollen Komödie. Wie Lars Rudolph als irrer Wagner an seinem Homunculus forscht, wie Sophie Rois mit ironischer Grandezza die Hexe der Hexenküche gibt, wie sie danach mit heiserer Verve in die Rollen des Erdgeists und des Famulus schlüpft, wie Martin Wuttke als Folge des Hexenküchentranks nicht etwa Helenen in jedem Weibe sieht, sondern seinen Eingangsmonolog mit ständig wegbrechenden Beinen durchtaumelt (mehr Objekt als Subjekt) – das sind schauspielerische Glanzlichter, für die auch sieben Stunden nicht zu lang sind. Und da sind so tolle Spieler*innen wie Lilith Stangenberg, Thelma Buabeng, Alexander Scheer (der – warum auch immer – u.a. einen großartigen, an seinen "Großinquisitor"-Auftritt in den "Karamasows" anknüpfenden Monolog als Lord Byrons lebensmüder Manfred hinlegt), Abdoul Kader Traoré oder Daniel Zillmann noch gar nicht genannt.
Castorfs Theater erschöpft. Das ist altbekannt. Doch wie sich in der Erschöpfung neue Kräfte sammeln – ob bei den Darsteller*innen oder im Publikum –, das ist derzeit wohl nirgendwo so grandios zu erleben wie hier. Die in den letzten Jahren aus aktuellem Anlass häufiger gestellte Frage, ob sich Castorfs Theater selbst erschöpft hat, ist mit diesem "Faust" jedenfalls beantwortet: Auch in ihrem letzten Jahr strotzt die Castorf'sche Volksbühne nur so vor Energie.
Faust
nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga, Licht: Lothar Baumgarte, Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer, Musik/Ton: Tobias Gringel, Christopher von Nathusius, Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, William Minke, Cemile Sahin, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Martin Wuttke, Marc Hosemann, Valery Tscheplanowa, Alexander Scheer, Sophie Rois, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg, Hanna Hilsdorf, Daniel Zillmann, Thelma Buabeng, Frank Büttner, Angela Guerreiro, Abdoul Kader Traré, Sir Henry.
Dauer: 7 Stunden, eine Pause
www.volksbuehne-berlin.de
An der Stuttgarter Staatsoper inszenierte Frank Castorf im Oktober 2016 bereits Charles Gounods Adaption des Faust-Stoffs mit diversen Motiven und Bühnenbild-Elementen, die im Berliner "Faust" aufgenommen werden.
Wie die Atmosphäre war bei dieser letzten großen Castorf-Premiere in der Volksbühne beschreibt Matthias Dell im Freitag (10.03.2017): "Das Premierenpublikum ist gewohnt unterglamourös. Zu den Verdiensten von Castorfs Volksbühne gehört, dass man hier ins Theater geht wie an den Tresen einer Stammkneipe. Beim superduper Faust-Projekt zur Expo 2000 von Peter Stein (er hatte den Längeren: 22 Stunden) war bestimmt mehr von dem Personal anwesend, das als, wie man in den 1950er Jahren noch gesagt hätte, bessere Gesellschaft gilt. Die Prominenz bleibt überschaubar: 1 Ex-Kulturstaatsministerin (Christina Weiss), 1 Ex-Kultursenator (Thomas Flierl), kein amtierender Kultursenator (Klaus Lederer), Tom Tykwer und Henry Hübchen, wobei Letzterer nicht zählt, weil für den der Volksbühnen-Besuch wie ein Klassentreffen ist (bis kurz nach der Jahrtausendwende Ensemble-Mitglied als best Castorf-Alter-Ego ever)."
Für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (Online-Zugriff 5.3.2016) war dieser "Faust" ein "rauschhafter, reinigender, hirnerhellender und weltverdunkelnder Gedankenritt, bei dem das Faustische als männliches, strebendes, egomanisches, zerstörerisches und hybrisches Prinzip entlarvt wird und so tragisch wie lächerlich scheitert." In "Licht- und Nebelführung, beim Soundtrack sowie bei der Video- und Tontechnik" mache "der Volksbühne keiner was vor", und für die Spieler müssten – und zwar für jede*n einzelne*n – "Ausrufezeichen her! (...) Was für ein Ensemble! Wie sie dieses Haus anbeten, anschreien, es durchjagen, sich ihm hingeben. Und wie dieses Haus sie gewähren, zappeln und glänzen lässt. Zerstörung und Liebe, hier löst sich dieser Widerspruch auf. Für ein Weilchen."
"Überwältigend, überbordend, überfordernd, imposant" sei es zugegangen, meint Christine Dössel in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung (Zugriff 5.3.2017). "So anstrengend wie faszinierend. Die Inszenierung kommt ungeheuer frei und sexy daher, aber auch politisch-nachdenklich, poetisch und ernst. Es gibt glänzende Bravour- und Kabinettstückchen, wahnsinnige Extempores, wunderschöne Liednummern und kreischende Frauen mit wenig an. Es gibt aber auch etliche Längen und quälenden Leerlauf." Martin Wuttke sei "einfach nur großartig: zum Niederknien. Die Rolle gibt ihm noch einmal die Gelegenheit zum ganz großen Schauspieler-Parcours. (...) Wuttke, die coole Socke, macht aus dem berühmten 'Habe nun, ach'-Monolog des Studierzimmer-Fausts eine Riesen-Epileptiker-Nummer: krümmt sich, wälzt sich, taumelt, lallt – er erbricht förmlich den Faust." Der beste Auftritt aber sei Sophie Rois vorbehalten: Wenn sie den Schubert'schen "Leiermann" singe, sei das "ein Wahnsinns-Moment".
Für die Süddeutsche Zeitung (20.3.2017) hat Rudolf Neumaier eine der Vorstellungen gesehen, die um 23 Uhr beginnt. Im Wachbleib-Wettkampf mit seiner 80-jährigen Sitznachbarin unterliegt er. "Die wachsten Momente hat das Publikum bei den Szenen, in denen Frank Castorf Originalpassagen aus Goethes Faust spielen lässt", etwa ab 1.50 Uhr. Tscheplanowa trete mit dicker Kniemanschette auf "– sie hatte sich in der vorletzten Vorstellung das Kreuzband gerissen. Sie "spielt mit Schmerzen, aber sie spielt. Und wie! Am gesunden Bein trägt sie High Heel, mit dem verletzten humpelt sie barfuß. Sieben Stunden, eine ganze Theaternacht lang. Auch eine Grenzerfahrung." Um 5.57 Uhr ist die Vorstellung vorbei. Es brande ein Getöse auf, wie wenn Schulklassen das erste Mal ein Theater besuchen bejubeln. "In die Kantine kommen die Künstler danach frisch wie aus dem Ei gepellt. Sie trinken keinen Kaffee, sondern Bier. Verrückt. Draußen ist es hell. Sir Henry klimpert Ragtimes."
Der Abend sei "ein starker Abgang", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (5.3.2017). "Kein Selbstmitleid, keine billigen Witze. Noch einmal packt Castorf die große Form aus. Genialisch, schluffig, aggressiv, assoziationswütig, so wie man ihn kennt und liebt und oft nicht aushalten kann." Dieser "Faust" gehöre jetzt zu Castorfs besten Inszenierungen. Wenn Abdoul Kader Traoré auf französisch "im knallroten Voodoo-Kostüm des Baron Samedi Paul Celans 'Todesfuge'" spreche, sei das "ein großer Moment. Einmal bleibt bei Castorf ein Text stehen, wird nicht sogleich durch den nächsten Einfall dementiert." Es sei, "so oder so, kein leichter Abend. Wir sind 25 Jahre älter. Einige tranken dann ab halb zwei auf der Premierenfeier gegen das Vergängliche, das angeblich nur ein Gleichnis ist. Andere erhoben still daheim ein Glas auf das Schauspiel der Zeit."
"Neben den üblichen Brüll-Duellen, die man als sportliche Übungen würdigen muss, denn auch die körperliche Verausgabung der Schauspieler gehört zwingend zur Volksbühnen-Ästhetik, neben viel Gebrüll also gibt es auch stille, anrührende Momente", schreibt Eckhard Fuhr in der Welt (Online-Zugriff 5.3.2017). Sophie Rois beschere uns "einen solchen Moment zusammen mit Sir Henry, dem Akkordeonspieler". Obwohl sie "nur wenige Auftritte hat, ist sie neben Wuttke der Star des Abends. Das muss auch so sein, denn diese beiden gehören zum Markenprofil der castorfschen Volksbühne. (...) Wie also sollten sie nicht im Zentrum des Beifallsturmes am Ende einer Premiere stehen, mit der eine Theaterära sich selbst feierte?" Fuhr wünscht "Chris Dercon alles Gute. Aber er soll nicht meinen, er müsste uns in der Volksbühne endlich etwas über Europa und die große weite Welt erzählen. Darüber haben wir dort schon viel gelernt."
"Es war ein monumentaler Assoziationsschrotthaufen, eine Bildermüllhalde und ein Wunschkonzert, und es war gut so", meint Wolfgang Höbel auf Spiegel online (Zugriff 5.3.2017), "einerseits blühender Klamauk, andererseits aber eine penibel durchdachte Machtdemonstration und ein Abschiedsgruß des Intendanten Frank Castorf". Immer wieder dürfe "man hier über Glanzauftritte staunen, die manchmal wie eine Best-of-Show jenes Bilderrauschs und jener Spaß- und Diskurskunst wirken, die hier ein Vierteljahrhundert betrieben wurden". Jedenfalls sei es "in mindestens einer von sieben Stunden wirklich herzzerreißend toll" gewesen.
Auf Deutschlandradio Kultur (4.3.2017) stellt Peter Claus grundsätzliche Fragen: "Möchte ich ein Theater haben, das mir konkrete Fragen stellt und mich dadurch zum Nachdenken über die Welt anregen kann? Oder reicht es mir, doch mehr oder weniger l'art pour l'art zu sehen? Wunderbare Kabinettsstückchen von tollen Schauspielerinnen und Schauspielern, großartiges Bühnenbild, toller Musikeinsatz, herrliche Videoeinspielungen." Claus empfindet Castorfs Inszenierung jedenfalls als "zu unkonkret", sie wirke "manchmal so, als sei ihm hier etwas eingefallen und dort etwas eingefallen. Man könnte auch sagen: Er übertüncht es, und er scheut die wirkliche Auseinandersetzung mit Goethe."
"So freiheitsliebend, vielschichtig, assoziativ und über alle Grenzen hinweg der eine denkt, liebt, träumt, handelt, so versucht's der andere im Theater, wo seine oft mehrstündigen Inszenierungen gern Schauspieler wie Publikum an den Rand des Zusammenbruchs bringen, Säle leeren, Preise einheimsen, bei Gastspielen gefeiert werden", vergleicht Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.3.2017) Goethes Faust und Frank Castorf. Der "tolle, gefährliche, autonome 'Panzerkreuzer Volksbühne'" zeige noch einmal alles, was in ihm steckt, so Bazinger: "Die Stücke dienen vorwiegend als inspirierendes Material für freie Gedankenexperimente, visuelle Extravaganzen und eindrucksvolle darstellerische Einlagen. Sequenzen aus den zwei 'Faust'-Dramen werden locker und klug ineinander verschachtelt, die Schauspieler schlüpfen elegant in mehrere Rollen und glänzen dabei in raffiniertem Manierismus."
"Nirgends passte Michel Foucault so hervorragend an die Berliner Currywurstbude, fügte sich der letzte Philosophen-Schrei so organisch-unorganisch in den Berliner Eckkneipen-Absturzjargon ein und waren Diskurs und Diskursanalyse so sexy wie in der Berliner Volksbühne (und sahen im Übrigen auch immer so aus)", schreibt Christine Wahl in der Neuen Zürcher Zeitung (6.3.2017). "Wer das alles noch einmal sehen will, bevor im Juni, zum Spielzeitende, Schluss ist mit der Volksbühne Castorfscher Prägung, schaue sich jetzt dieses finale Meisterwerk an, das tatsächlich noch einmal sämtliche Castorf-typischen Ingredienzien versammelt." Castorf erzähle das deutsche Intellektuellendrama als europäische Kolonialismus-Tragödie, so Wahl. Aber "nicht nur um breite, epochenübergreifend in die Gegenwart hinüber wuchernde Historie" gehe es ihm, sondern auch um "einen Punkt, mit dem die Volksbühne ihren 'Faust' höchstselbst untertitelt hat: 'Das Männliche ist das Vergängliche' (...). Ja; dieser 'Faust' ist auch ein Abend über den Untergang des (heterosexuellen weissen) Mannes, dem frau – sei es noch als mehr oder weniger Dienstfertige oder schon als Freiheitskämpferin – ziemlich ungerührt zusieht."
"Castorf als Anwalt der Frauen? Dass er auch auf den letzten grandiosen Metern seiner Ära in dieser Rolle nicht ganz glaubwürdig ist, weiß er natürlich genau", schreibt Eva Behrendt in der taz (6.3.2017). Und so sei Martin Wuttkes Charakterisierung des Faust "wenig schmeichelhaft": "Meist trägt er eine Greisengummimaske, unter der jeder Vers zahnlos gemümmelt klingt. Und wenn er sie doch mal abzieht, kommt schneidende white supremacy oder weinerliches Selbstmitleid zum Vorschein." "Die ganze Welt zu erzählen, wer traut sich das noch?", fragt Behrendt außerdem: "Die konstruktive Seite von Fausts Projekteschmiederei oder auch des Kapitalismus westlicher Prägung, an dessen Ende Goethe die Realo-Utopie vom 'freien Grund mit freiem Volke' sieht, das sich seine Freiheit täglich verdienen muss – sie kommt bei Castorf kaum vor." Und doch realisierten der "furchtlose Ideen-Regisseur und sein nicht minder geistesgegenwärtiges Ensemble" genau diese Utopie "im Spiel, in der Kunst, mit allen Reichtümern, Widersprüchen, Verschuldungen." Und so vergingen die sieben Stunden "diesmal erstaunlich schnell".
Der "Großmeister der szenischen Assoziationskunst" Castorf habe "alles ausgespart, was auch nur von ferne an faustisches Ringen erinnern könnte", schreibt Ronald Pohl in Der Standard (6.3.2017). In seiner "famosen Abarbeitung aller Besonderheiten, die die Volksbühne (bis heute) ausmachen" schleiche sich häufig genug der "gar nicht verneinende Geist der Nummernrevue" ein. Und insgesamt gelte das "Prinzip Castorf: Der verstockten Menge hilft er mit zärtlichen Kopfnüssen beim Denken. Das ist grandios."
"Castorfs letzte Premiere an der Volksbühne ist in keinem Moment tränenselig oder larmoyant. Im Gegenteil: Mit Blick auf künftige Arbeiten lässt der Regisseur, der über ein Vierteljahrhundert lang stilprägend war wie keiner sonst im deutschen Theater, noch einmal als Hausherr die Muskeln spielen", gibt Michael Laages im Deutschlandfunk (4.3.2017) zu Protokoll. "Und als das Haus nach ein Uhr in der Nacht noch eine Weile Beifall lärmt, stellt ein sonderbares Gefühl sich ein: vom Glück, 25 Volksbühnenjahre mitgegangen zu sein, auf verschiedenste Weise. Das ist dann doch zum Melancholischwerden ... denn das gab's – bis auf weiteres – nur einmal, das kommt so schnell und so nicht wieder."
In der Zeit (9.3.2017) verabschiedet sich Peter Kümmel von Frank Castorfs Volksbühne mit gemischten Beobachtungen und Reflexionen: Während einer Castorf-Inszenierung, schreibt Kümmel, erleide der Körper ähnliche Krisen wie auf einem Langstreckenflug. "Die Füße quillen im engen Schuh, man darf nicht im Mittelgang auf und ab gehen. Turbulenzen packen das Flugzeug und lassen es nicht mehr los. Man lässt alle Hoffnung fahren. ... bis zum Frühstück und den heißen Gesichtstüchern dauert’s Stunden – denn man ist erst über Grönland. Und nun schlagen auch noch Blitze in den Tragflächen ein." Er, Kümmel, habe in Castorfs Flugmaschine "viele Landschaften überflogen": "giftige Privatsümpfe, oasenlose Wüsten, Städte, die schon als Ruinen erbaut wurden, Industrieareale, deren Raffinerien sich beim Tieferfliegen als malmende Drehbühnen herausstellten." Diese Landschaften hätten "vor Hässlichkeit" gebebt, und überall herrschte "das drohende Assoziationsgewitterwetter des Regisseurs". Wunderbarerweise ende jede Castorf-Inszenierung bevor man vor Verzweiflung sterbe, dann entsteige man "erstaunlich glücklich dem Höllenflugzeug". Weil man etwas "Seltenes" erlebt habe: "dauerhafte »Öffentlichkeit unter Anwesenden« (Alexander Kluge), beharrlichen Zusammenhang." Welche "spielerische Brillanz", welch "unfassbare Körperbeherrschung" besäßen die Leute auf der Bühne, "welchen Überblick im Chaos! Und wie genau ist das Zusammenspiel mit der Technik: Kaum ein Effekt geht daneben, jedes Benzinfass wirft den Schatten, den es werfen muss!" Ansonsten gelte für diesen Faust, wie stets in Castorfs Welt: "Es ist von Beginn an weit nach Mitternacht, und es ist nicht genug Liebe da für alle." Und noch viel mehr, was wir hier nicht wiedergeben können.
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Also, wenn man das so liest... eigentlich total unverständlich, warum man ein solches Sch...stück wie das von diesem Goethe überhaupt noch spielt. So viel Aufwand, um einen verstaubten Mottenfifi-Text bißchen aufzumöbeln? Ey, wieso tut das dem Stück "gut"? Was bringt das denn, dem Stück gut zu tun? Warum will einer so ne verschlissene Stück-Scharteke denn noch besser machen als sie ist? Wo die Geschichte ja längst bewiesen hat, dass das eh alles ideologischer Quatsch ist, was da drinsteht - eben Kolonialismus und so, lies Frantz Fanon, der ganze europäische Dreck. Ist über das Stück doch alles hinweggegangen. Hat heute doch alles ganz andere welthistorische Perspektiven, da ist so n Text doch längst weggeschrumpft. Weiß man doch längst alles, ist doch alles klar - warum dann noch den alten Käse aufführen? Und diese spießige ideologische Goethe-Position noch extra mit Gummimaske und Kinder-Dreirad verarschen? Warum würde einer noch den Raub der Sabinierinnen aufführen? Eher nicht, oder, also warum dann den Faust?... Lohnt das denn? Wenn ein Stück nur noch geht, wenn man's im Puff spielen läßt, kann man doch gleich ein Puff-Stück aufführen. Gut, war vielleicht n großer Berliner Provinz-Jokus, so n Knaller-Potpourri aus lauter fremden Texten und Kontexten, von denen immer der eine dem andern das Bein stellt, und alles sich gegenseitig verarscht, cool, ja, kann ja geil abgehn, so'n "Goethe is doof"-Abend, da fällt einem viel ein, einfach frei von der Leber weg wild assoziieren, klar, da jubelt die Schickeria aus den Kaschemmen, gib ihm, dem Goethe - aber braucht's dafür als Vorwand noch das blöde Stück???
Ich glaube im Gegensatz zu Wolfgang Höbel nicht, dass Goethe irgendwen verehrt oder bewundert hat. Es ist doch eher so, wie Eckerman es kolportiert:
»So auch«, fuhr ich fort, »zeigt selbst Lord Byron sich nicht klüger, wenn er Ihren ›Faust‹ zerstückelt und der Meinung ist, als hätten Sie dieses hier her und jenes dort her.«
»Ich habe«, sagte Goethe, »alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten größtenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ›Faust‹ machte. Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weiß er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Szene meines ›Egmonts‹, und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebensoviel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons Verwandelter Teufel ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht! Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.«
Quelle: Johann Peter Eckerman: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens - Kapitel 53
Und so ähnlich ist es dann sicher auch mit Castorf und Goethe. Ein bisschen auch wie Kinderkram. Nur eben auf etwas höherem Niveau als Herr Baucks es verortet.
(Sehr geehrter Heinz B., uns scheint, dass dafür die Mitarbeiter*innen beim SPIEGEL die richtigen Adressaten wären. Mit besten Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
(Mit dieser Einlassung würden wir den Exkurs gern beenden und uns von der performativen Qualität eines einzelnen Users ab- und der Inszenierung wieder zuwenden. Einige Kommentare, die ihren Unmut über den Versuch, das Nachtkritik-Forum im Alleingang zu bespielen, in teils kräftigen Worten bekundeten, blieben entsprechend unveröffentlicht. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Und wo kann man eigentlich bestaunen, was Baucks unter Theater versteht? Wo läuft was, wo inszeniert, spielt oder findet was statt? Finde online nur was über Telenovela-Pfarrer...
Was macht der Mann außer hauptamtlich auf Nachtkritik zu kommentieren?
Zum eigentlichen Thema: Ich finde es schade, daß die Castorf-Zeit zu Ende geht, habe viel zu wenig davon gesehen bzw. hoffe mir den Faust noch ansehen zu können.
Nur nochmal zur Verdeutlichung hier die Linie, die sich vom Beginn der französischen Invasion in Algerien 1830, Goethes Vollendung des Faust 1831 und Goethes Tod 1832, dem Deutsch-Französischen-Krieg 1870-71 (Kurz davor spielt Zolas „Nana“. „Nach Berlin! Nach Berlin!“ rufen die von ihren Männern geschlagenen Pariser Kokotten an der Volksbühne und schmähen Bismarck, den späteren ersten deutschen Reichskanzler und Initiator der sogenannten Kongokonferenz 1883 in Berlin, bei der die europäischen Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten.), dem Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Algerienkrieg von 1954 bis 1962 zieht. Über 130 Jahre Kapitalismus und Kolonisation Afrikas und Sie erkennen keine Zusammenhänge. Wenn man den zweiten Teil einer Inszenierung bewusst schwänzt, ist das natürlich kein Wunder.
(So, liebe Kommentator*innen, und damit ist die "Diskussion" über die Eignung des Mannes als Sexobjekt an dieser Stelle abgeschlossen, ja? Mit freundlichem, wenn auch leicht entnervten Gruß – sd/Redaktion)
(Liebe Kommentator*innen, jetzt wirklich: Kommen Sie bitte weg von diesem Thema, das Ihnen ja auch vor allem dazu dient, einander anzuschuldigen. Freundlich, sd/Redaktion)
Lieber Martin Waßmann, das auch junge Männer sexuell ausgenutzt werden, ist mir bewusst. Darum geht es aber nicht in Frank Castorfs Faust. Insgesamt ist die Frau nach wie vor das Sexualobjekt Nummer eins, da wir in einer überwiegend männlich und heterosexuell bestimmten Welt leben und sich Waren auch immer noch besser mit schönen halbnackten Frauen verkaufen lassen. Das Bild wandelt sicher immer mehr, aber wir sind noch lange nicht soweit, dass allein Frauen bestimmen, wie über ihre Sexualität in der Gesellschaft und den Medien geurteilt wird.
Valery Tscheplanowa hat tatsächlich auch Schubert gesungen, aber erst im zweiten Teil und eben nicht den "Leiermann". Die drei Schubert/Tscheplanowa-Lieder waren: "Der Wanderer", "Die Nebensonnen" und "Der Tod und das Mädchen".
Zusammen mit dem Leierkastenmann und dem Tod/Mädchen spannt das eine assoziative Ebene zu den Nana-Erzählungen, zum Frau-Mann-Topos, zur Kolonisierten-Kolonisierer-Geschichte.
Das ganze gesungen in einer "Hölle" (die bekanntlich immer "die anderen" sind!), die aber eben doch von dieser (materialistischen) Welt ist: das deutet an, wie die Dichte, der Gehalt dieses Abends lesbar wird.
"Es kann nicht Sinn eines Theater Abends sein, dass sich der Bildungsbürger im Nachhinein hinstellt und versucht tagelang zu entschlüsseln, was er denn nun gesehen haben will."
Lieber Herr Baucks,
was sollte denn ihrer Meinung nach der Sinn eines Theater Abends sein ?
Alleiniges Castorf/Volksbühnen bashing ist ja auch nicht der Sinn der Kommentarmöglichkeithier auf NK.
Obwohl ???
ob Baucks klar argumentiert, keine ahnung !
meine frage ist dadurch nicht beantwortet.
was darf ich, als nicht dem bildungsbürgertum eingeweihter,denn seiner meinung nach aus einem theaterabend mitnehmen.
nur meine sucht ;
die stones nochmal "live" gesehen zu haben?
reicht es schon mir die texte in der orginalzeit zu verdeutlichen, wow! waren die mutig.
oder geht es darum dicke eier zu bekommen, weil es meine, mit mir gewachsenen und alternden helden/feinde sind?
ich bin zu jung für die stones,finde die musik langweilig und verbeuge mich auch nicht vor deren alter.
also:
was sollte denn ihrer Meinung nach der Sinn eines Theater Abends sein.
und wenn sie keine lust haben zu antworten ,kann ich das leider sehr gut verstehen und fühle mich dadurch bestätigt.
Insofern unterscheidet sich das Ende grundsätzlich zu Castorfs grossartiger Operninszenierung von Gounods Faustoper in Stuttgart, wo ich herkomme. Diese Opernregie war so grossartig konzipiert, dass ich unbedingt die Fortsetzung der Castorfschen Faustgeschichte an der Volksbühne erleben wollte. In Stuttgart war der Schluss der Oper durch die vollzogene Rettung der Margarete und durch die Fessel der wunderbaren Partitur noch mystisch-katholisch verklärt. Da gab es für die Interpretation nichts zu rütteln.
Späte Rettung wird ja auch dem Faust der Dichtung vergönnt, weil Faust am Ende bereut, was Castorf allerdings unterschlägt. In der Analogie einer unsäglichen, geschichtlichen Retrospektive gibt es offensichtlich keine Absolution mehr. Faust endet schmählich in der Regredierung und Infantilisierung. Das Männliche ist eben doch nur das Vergängliche. Dafür ziehen das ewig Weibliche und die schönen Frauen mächtig an.
Insgesamt ein reines Schauspielerfest!
Sie können ja hier gern gegen Frank Castorf und die Volksbühne argumentieren, sollten aber vielleicht ab und an mal daran denken, dass eine Theaterinszenierung kein literaturwissenschaftiches Pamphlet ist. (...)
Das „Streben“, das dieser Abend zeigt, ist das nach Macht. Persönlicher und kollektiver. Die äußert sich in der Instrumentalisierung anderer – nicht zuletzt wird Gretchen hier ins Bordell verschlagen und ihre Handlung mit Émile Zolas Prostituierten-Roman Nana verquickt – und der Unterwerfung und Ausbeutung anderer Länder, Völker zur Befriedigung hier als recht niedrig eingestufter Triebe und Wünsche. Frantz Fanon wird reichlich zitiert, es geht um die Dialektik des Terrorismus – von einem sehr luziden Nicht-Faust-Wuttke bei einer U-Bahn-Fahrt dargelegt – und den Befreiungskampf, auch die Rolle der Frau in einer doppelten Befreiungsbewegung – die „entschleierte Frau“ als Vorkämpferin nicht nur nationaler Selbstbestimmung – wird thematisiert und ihrer Instrumentalisierung als verfügbares Sex-Objekt (etwa in den Nana-Theaterszenen mit Daniel Zillmann als despotischem Direktor) kontrastiert. Castorfs Gretchen, Valery Tscheplanowa, ist in ihrer selbstbewussten Durchdringung der Zustände der Gegenpol zum getriebenen Faust. Die Umkehrung der Verhältnisse hat schon begonnen. Das faustische „Streben“ wird am besten deutlich zu Beginn: Da jagt ein manisch obsessiver Wagner, dargestellt von einem furiosen Lars Rudolph, mit seinem gerade geschaffenen Homunculus über die Bühne, ein wahrhaft wahnwitziges Symbol menschlicher Überhebung.
Die Befriedigung niedrigster, elementarster Triebe ist die einzige Erlösung, die diese faustische – westliche, männliche – Gesellschaft zulässt. Und so sind die sieben Stunden auch – wie oft zuletzt bei Castorf – ein langer, düster schäbiger, in künstlich fahles getauchter Licht und mit der gefühlten kompletten Pop-Geschichte angereicherter Fiebertraum. weniger dicht und kohärent und um einiges faseriger als in manchen seiner Münchner Inszenierungen, nicht ohne Längen und vor allem vor der Pause oft eine kaum zusammenhängende Abfolge wild assoziierter Gruselkabinettnummern, bei denen auch ein netter und eher nichtiger Seitenhieb auf die Nachfolgedebatte – Alexander Scheer parodiert Chris Dercon mit flämischem Akzent – nicht fehlen darf. Dieser Teil dient vor allem der Faust-Dekonstruktion – so richtig Substanz erhält der Abend erst nach der Pause, wenn er das Dekonstruktierte neu zusammensetzt zu einem flirrend fiebrig rauschhaften Puzzle menschlicher – männlicher – Unterdrückungslust. Das hat reichlich Leerlauf, streckenweise kippt die Balance stark in Richtung Fremdtext – dass hier Faust gegeben wird, lässt sich teilweise leicht vergessen – gefällt sich zuweilen zu sehr in seinen Albernheiten und der Lust an der Zerstörung des „Faustischen“. Und doch ist hier ein Theater zu sehen, dass in seiner radikalen Ausschweifung, deinem gewollten Kontrollverlust, dem Willen zur Überforderung, dem Drang nach geistiger, körperlicher und sonstiger Erschöpfung nochmal exemplarisch vorführt, was fehlen wird, wenn Castorf bald „nur“ noch Regisseur sein wird. Doch „vorbei“ – ist das nicht ein „dummes Wort“?
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/13/vorbei-nicht-solange-das-dreirad-quietscht/#more-6644
Sie schreiben: "Wenn Castorf sich im Faust selbst parodiert hätte, als einer von Angelesenem Überfrachteter, der nach Leben giert, und es nur in Varieté Bildern finden kann, dann ..."
Wenn er sich selbst thematisiert, ruft der Chor der Empörten, dass es doch nur eitle Selbstbespiegelung sei. Wenn er "nur die anderen" thematisiert fehlt Ihnen die Selbstkritik. Also da scheint doch eher in der Erwartungshaltung schon der Hase im Pfeffer als in der Arbeit Castorfs.
By the way: Aber natürlich thematisiert Castorf die eigenen (persönlichen, biografischen, institutionellen, ...) Unzulänglichkeiten mit. Ich kann dies jedenfalls oft genug im "Arschloch" Faust, das man/frau notgedrungen immer ist, den er hier auf die (Wuttke-grandios rausch-wackligen) Beine gestellt hat, voll erkennen. Einfaches Beispiel gefällig: Sophie Rois (=Frau=Famulus=Erdgeist=Hexe=Faust) "... wenn man so in sein Museum gebannt ist", mit großer Geste an das Haus verbunden.
Mir erzählt das immernoch und immer wieder ungleich mehr als die ewig gleiche Aktualitätssülze in 80% der Inszenierungen andernorts.
PS (nicht explizit an Sie): Und wer sich über (weibliche) Nackedeis echauffiert, kratzt an der Oberfläche, behaupte ich. Das ist ein geschickter Filter, damit man im Anschluss eben keine Diskussionen à la "Aber warum immer auf hohen Schuhen?" führen muss. Die Diskutanten sind dann nämlich schon weg und man kann sich der etwas komplexeren Materie widmen.
Und darüber hinaus habe ich keine Erwartungshaltung an Frank Castorf, er ist nicht einmal mein Feind. Ich zitiere einmal aus „der Freitag“:
„Droge.Volksbühnengängerinnen warten auf diese kostbaren, seltenen Momente, in denen sich ihre Sinneskoordinaten für einen Augenblick verschieben und sie etwas Elementares, etwas zutiefst Menschliches über sich selbst oder das Wesen des Menschen erfassen (zumindest bilden sie sich das ein). Diesen Kick suchen sie, wie Süchtige, jedes Mal von Neuem.“
Für mich ist das Castorf Theater eine Einbildung, eine Chimäre. Weiter heißt es dort im „Freitag“:
„Häh. Ich habe nichts verstanden, aber ich fand es toll.“ Ein Satz, den Volksbühnengänger oft sagen, denn sie verstehen längst nicht alles, was sie hier zu sehen bekommen. Sie haben mittlerweile kapiert, dass sich Frank Castorf in einer anderen geistigen Galaxie bewegt als sie selbst, und dass er in seinen Inszenierungen assoziative Bezüge und Verbindungen aufwirft, die sie niemals werden nachvollziehen können. Noch nicht einmal, wenn sie tot sind.“
Für mich lebt Castorf nicht in einer anderen Galaxie. Ich kann seine Inszenierungen lesen. Allein, ich finde sie öde. Was ihm fehlt ist elementar. Er hat überhaupt keinen Sinn für die offene Seite des Lebens. Für all jenes, für das es sich zu leben lohnt. Er kennt nur Dekonstruktivität und keine Konstruktivität. Daran leidet er, wenn er inszeniert, und er will seine Zuschauer mitleiden lassen. Diese Exerzitien sind sein Lebenselixier. Dafür muss man süchtig sein. Ich bin es nicht. Und ich fühle mich bei Castorf unterfordert.
Sie schreiben "[...] die offene Seite des Lebens. Für all jenes, für das es sich zu leben lohnt."
Was wäre das denn?
Und vor allem: Wer - auf deutschen Bühnen - ist denn offen dafür, Ihrer Meinung nach?
Meine These ist ja genau: Hinter der Dekonstruktion, hinter den Nackedeis keine Utopie erkennen zu können, greift zu kurz. Dass Eindimensionalität anödet, kann ich verstehen, mich ödet sie auch an. Dass Herrliche an den Arbeiten Castorfs ist ja gerade, dass sie eine solche gnadenlos exorzieren.
Noch einmal: Was meinen Sie mit der "offenen Seite"?
Und: Warum verlangen Sie von F. C., dass er die auch berücksichtigt? Bekunden nicht tausende Zuschauer/innen, dass ihnen seine (aus Ihrer Sicht: beschränkte) Herangehensweise bereichert? Oder (falls ich Sie missverstand): Wo kommt Ihr Furor her? Sie müssen doch nicht reingehen. Jedem Tierchen sein Plaisierchen.
Wenn ich es richtig sehe, beginnt Castorfs „Faust“ in der Hölle als Menschen-Laboratorium und Kerker. Margarete (Valery Tscheplanowa) tränkt (4443) und ertränkt (4508) als heilige Hure ihr Kind, auf dass der „Menschenstoff“ (6851) als Homunculus neu „komponiert“ werde. Der greise Faust trifft auf Mephistopheles, der zum „Her zum mir !“ (4613) die Seife fallen lässt, auf dass der sich Bückende … An dieser Stelle möchte ich energisch gegen die Darstellung des sexuellen Missbrauchs alter Männer protestieren, ein in unserer Gesellschaft dramatisch verleugnetes Problem! Andererseits reimt sich Einiges zusammen: „Wie man ein Arschloch wird“, ist der Titel des Programmheftes und nach 10 Tagen intensiven Nachdenkens ist auch Wolfgang Behrens zu dem Schluss gekommen, dass bei Castorf tüchtig „verarscht“ wird.
Irgendwann ist mir aufgefallen, dass Valery Tscheplanowa – ungewollt (Kniebandage ?) oder nächste „Verarsche“ – anfängt, wie der Teufel zu hinken, womit auch das Weibliche wieder nur Hinab in die Hölle zeigt, die aber als Sex-And-Drugs-And-RocknRoll-Schuppen ihre Lebendigkeit und ihren Reiz hat. Dazu passt, dass sie Mephisto den Schwanz (Es gibt Männer und Teufel mit Schwanz und ohne Schwanz in der Hose, haha!) zurückgibt, den der in der Hexenküche an Faust abtrat. Die Bändigung des unverhofft erhaltenen Schwanzes bot Martin Wuttke Gelegenheit zu einem grandiosen Slapstick.
Ich hatte in mein „Faust“-Reclamheftchen, eine Erinnerung an die Schulzeit, erst kürzlich neu eingetragen:
„Der Teufel ist Teil der Hölle, er unterliegt ihren Gesetzen, wie alle Geschöpfe, die er fängt. Er will und weiß zu obsiegen, aber er darf nie triumphieren, der Sieg darf ihm nichts bedeuten, er darf nicht verweilen. Er beschwört alle erdenklichen Sünden herauf, zugleich muss er sich ihnen gegenüber gleichgültig zeigen. In der Überfülle der Ereignisse muss er emotionslos leer bleiben. Ihm darf alles nur ein Nichts sein. So sind die Treiber des menschlichen Betriebs!“
In diesem Sinne wünsche ich Frank Castorf weiterhin viel Spaß!
Das war kein Unfall, sondern Vorsatz. Diese Volksbühne wurde wissentlich in die Tonne getreten. Das ergibt sich nicht nur aus dem Ob, sondern aus dem Wie des Handelns der Beteiligten. Daher ist die Zerschlagung keine historische Notwendigkeit, sondern eine historische Schandtat. (Daran wird auch eine im besten Fall ultimativ gloriose Intendanz Dercon nichts ändern. Die hätte auch anders ihre Nische finden können.)
Für mich lohnt sich das Leben insbesondere wegen dieses castorfschen Hauses. Insofern noch einmal zurück zur Inszenierung: Was meinten Sie also mit der "offenen Seite"? Ich vermisse die nicht.
Das Pflaster neben Wuttkes linkem Auge hingegen war in beiden Vorstellungen.
Das ist bei vielen Narzisten so ( das könnt ihr gern rausstreichen)auch negative Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit.Und da hat offenbar jemand erhöhten Bedarf.
Der Gegenstand scheint relativ austauschbar zu sein.
Liebe Redaktion das beschäftigt sich mit etwas persönlichem weil hier jemand sich selbst ununterbrochen zum Gegenstand des Forums macht.Hier werden noch Baucksismen abgearbeitet.Ich empfinde das als destruktiv und dem Gegenstand unangemessen.
ich weiß sie hören es ungern, aber wenn ein Intendant nachweislich nur noch gesellschaftskritischen Kitsch produziert, sollte er freiwillig seinen Stuhl räumen und Platz machen für diejenigen, die ernsthaft und konstruktiv Gesellschaftskritik ausüben wollen, ganz unabhängig davon, wer die Nachfolge antritt. Dieser Punkt ist bei Castorf schon lange erreicht, der die Seile zum Zuschauerraum schon vor Jahren einseitig von sich aus kappte, weshalb er auch keine Zuschauer mehr im eigentlichen Sinne hat, sondern Jünger und eine Gemeinde.
(Im Folgenden werden nurmehr Kommentare veröffentlicht, die sich zur Inszenierung oder dem unmittelbaren Zusammenhang äußern. Die Pro- Castorf-an-der-Volksbühne und Contra-Castorf-Argumente sind ausgetauscht, um nicht zu sagen "aufgebraucht". Vielen Dank dafür.
jnm)
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich habe die vollen 7 Stunden am 12.03.17 ohne Hänger genossen und reibe mich gern an den überdrehten Produktionen von Frank Castorf. Seine Ästhetik ist unterhaltsam, eigentlich sollte der Saal toben und die Bühne in ständiger Gefahr stehen, geentert zu werden. Stattdessen starrt das Publikum wie das Kaninchen auf die Schlange, einzelne lachen hysterisch an eher unangebrachten Stellen, alle aber finden es „cool“.
Ich fand schade, dass Frank Castorf gleich in den ersten Minuten mit seiner Interpretation des für das Stück konstitutiven Faust-Mephisto-Verhältnisses so disqualifizierend weit übers Ziel hinausgeschossen ist, dass mir ein Ernstnehmen jegliches Folgenden schwer fiel.
Goethe lässt die Parze Atropos warnen:
„Viel zu denken, viel zu sinnen, (5307)
Gibt’s beim zarten Lebensfaden. …
Denkt an dieses Fadens Grenzen, (5315)
Hütet euch! Er möchte reißen!“
Bei Frank Castorf sehe ich vordergründig eher, dass er sich zuviel abspult, was verfilzt und verknotet, wodurch ein durchgehender Faden verloren geht. Da wird dann mal hier, mal da ein Fadenstück frei präpariert, mal eine ulkige Sequenz abgelesen und mal eine bitterernste.
Über die leichten Sequenzen lässt sich natürlich leichter schreiben. Wie ist das nun mit dem „Ewig-Weiblichen“ (12110)? Ich glaube, zweimal hat Frank Castorf einen Stern meiner Jugend anspielen lassen: „Lucretia Mac Evil“ von Blood, Sweat & Tears. Wie damals allgemein üblich, hat das Textverständnis, anders als in den heutigen komfortablen Google-Zeiten, bei der Titelzeile aufgehört. Aha, „Lucretia Mac Evil, little girl what's your game?“, sang David Clayton-Thomas. Und später:
“Tail-shakin', heart-breakin' truckin' through town
Each and every country-mother's son, hangin' 'round
Drive a young man insane
Evil that's your name.”
Und ganz deutlich: “Devil got you lucy
Under lock and key…”
Aber halt mal: “Big Daddy Joe's, payin' your monthly rent
Tells his wife he can't imagine where the money went
Dressin' you up in style, evil woman-child."
(...)
Denn: "Es ist völlig legitim, eine Vorstellung bis zum Ende zu erleben und ich war bei weitem nicht der Einzige. Meine ältere Begleitung, die sich strikt weigerte nach der Pause den Saal zu verlassen, kommentierte den Abend mit dem Satz: Mich habt ihr wieder einmal in andere Sphären geführt. Ich umarmte sie zur Beruhigung noch am selben Abend und so ließ sie sich allmählich beruhigen. Am folgenden Morgen war sie noch immer elektrisiert. [...] Erst gestern traf ich auf einen Kollegen, der die Inszenierung schon zweimal sah. Es gibt sehr viele Berliner, die Castorf schon sehr lange immer wieder bereichert und die die Provinzialität der Art und Weise des Intendanzwechsels nur noch belächeln. Jedoch nach der Form, wie Castorf meint, sich selbst verhöhnen zu müssen, ist es nur recht hier deutlich aufzuzeigen, dass er bei weitem mehr Haltung und Esprit hat, als es der Momentaufnahme nach den Anschein hat. Ich finde, seine Kritiker zeigen ziemlich viel Ausdauer, dafür, dass sie vorgeben, vollkommen von ihm gelangweilt zu sein. Vielleicht ist der Furor seiner Hater ja eine tiefsitzende Unsicherheit."
... und bin so klug als wie zuvor.
Wuttke guckt in der Hexenküche in den Spiegel. Sieht bei Castorf aber nur sich (Hand Lüderlich) selbst. Nicht Gretel.
PS: Liebes nk-Team (unter #50), lässt sich das denn so voneinander trennen? #54 jedenfalls ist ja offenkundig wieder voll am Sujet (so oder so). Insofern hoffe ich auf Veröffentlichung.
Womit wir endlich in der Debatte, um ihrem Bedürfnis nach Grundsätzlichem nachzukommen, bei der wirklich wesentlichen Frage angekommen sind: Warum Castorf nicht mehr geeignet ist, die Volksbühne weiter als Intendant zu leiten?
Die Antwort fällt leicht und der „Faust“ gibt dafür das beste Beispiel ab. Seine Konzeption der Figuren, seien sie nun von Darstellern ohne oder mit Rolle, im Sinne von Frau Rois performt, sind zeitlich überholt und gestrig. Die Frau als leicht bekleidetes Interaktionsobjekt des Mannes und der Mann, als ihr geiles, sabberndes Gegenüber passen nicht mehr in die neue Genderdebatte. Sie sind überkommene, kleinbürgerliche Fälle aus der Vergangenheit, die zwar noch präsent sind, aber schon in der populären Kultur hinreichend kritisch betrachtet werden. Sie sollten nicht mehr Gegenstand der Hochkultur sein.
Darüber hinaus entspricht das damit verbundenen Menschenbild neoliberalen Konzeptionen, die einer kapitalistischen Kultur und Wirtschaft zuarbeiten.
Die in den neueren Kulturauffassungen vertretenen Menschenbildern wenden sich aber der offenen Seite des Lebens zu und entwickeln Rollen- und Menschenbilder, die sich an ihren Möglichkeiten und Gestaltungsräumen orientieren und nicht an traditionellen und arg überholten Rollenschemata bürgerlicher Neurosen und Zwangsvorstellungen. Der weibliche Körper als Fetisch, wie ihn Castorf präsentiert, hat in der Hochkultur ausgedient. Und auch die männliche Körperpolitik befindet sich mittlerweile auf völlig anderen Wegen und denkt Entwicklungschancen, die das castorf´sche Faustbild weit hinter sich lassen.
Naiv ist es nur, Jünger zu sein von etwas, was noch nicht begonnen hat.
Aber wahrscheinlich wurde sie von Castorf gebrainwashed, bevor sie im Intendantenzimmer vor Stalinbild dem Journalisten Rede und Antwort geben durfte. (...)
Wenn man den Text liest, ihre Biografie kennt und sie als Schauspielerin öfter mal gesehen hat, dann scheint doch eher die Kritik von Herrn Baucks kleinkariert und gestrig zu sein, als das Theater von Castorf und Tscheplanowa.
Es ist diese kantinenhafte Erotik, die sich in fast jeder Castorf-Inszenierung ausbreitet, die nach so häufiger Wiederholung seit Jahren einfach nur noch anödet.
„Castorf achte aber darauf, dass eine Frau gut aussieht auf der Bühne, das mache etwas mit ihr.“
sagt Valery Tscheplanowa. Ja und!? Hugo Egon Balder und mit ihm fast alle im Showbusiness achten auch darauf, dass Frauen auf Bühnen gut aussehen und es macht ebenso etwas mit ihnen.
Das ist kein Kriterium, beziehungsweise es ist ein falsches Kriterium für die Hochkultur und ein Indiz für das Triviale. Schönheit und Gutes Aussehen, Attraktivität sind Grundvoraussetzungen für das Kommerzielle und nicht für die Kunst der Hochkultur.
(An die Kommentator*innen: Wenn Sie nicht möchten, dass Martin Baucks antwortet, wenn er angesprochen wird, dann sprechen Sie ihn nicht an. Solange Sie ihn ansprechen, kann Baucks auch antworten.
Mit freundlichem Gruß
nikolaus merck)
In der Ankündigung der VOLKSBÜHNE (Sebastian Kaiser / Carl Hegemann) war von einem „differenzierten interpretativen Befreiungsschlag“ die Rede, Frank Castorf „sucht ästhetische Auswege aus der verhängnisvollen Konstruktion der Tragödie“. Der seinerseits suchende Zuschauer darf Baucis („Mütterchen, sehr alt“) als Keimzelle des Widerstandes gegen die Kolonialisierung ausmachen, die ihren wohl ebenso greisen Gatten Philemon ermahnt: „Halt auf deiner Höhe stand!“ (11137) Als jener darauf vertraute, Führer Faust baue Philemon und Baucis eine Stadt: „Hat er uns doch angeboten (11135) / Schönes Gut im neuen Land!“
Bei Goethe haben Philemon, Baucis und der fremde Wanderer in „tiefer Nacht“ Fausts Kapo Mephisto und seinen drei „gewaltigen Gesellen“ wenig entgegenzusetzen: „Verzeiht! Es ging nicht gütlich ab.“ (11351)
„Und wie's in solchem Fall geschicht, (11358)/ Sie hörten nicht, sie wollten nicht; / Wir aber haben nicht gesäumt, / Behende dir sie weggeräumt.
Das Paar hat sich nicht viel gequält, / Vor Schrecken fielen sie entseelt. / Ein Fremder, der sich dort versteckt / Und fechten wollte, ward gestreckt.
In wilden Kampfes kurzer Zeit / Von Kohlen, ringsumher gestreut, /Entflammte Stroh. Nun lodert's frei, / Als Scheiterhaufen dieser drei."
Wenn Paul Celans „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, dann hier, hätte ich gedacht, aber nein, bei Frank Castorf spult sich ein Melodram des algerischen Befreiungskampfes ab. Da wird die entschleierte, die westlich gekleidete Algerierin zur Pandora, zur Lehmgeschaffenen (Homunculus !), die wegen des Übels in ihrer Büchse/Tasche selbst ein „schönes Übel“ (Mac Evil !) ist.
Wobei man sich fragen kann, ob ein gewiss länger dauernden Marsch durch die Institutionen hin zur Emanzipation, der den Algeriern ihren Status als französische Staats- und damit auch EU-Bürger erhalten hätte, heute nicht mehrheitlich als großer Vorteil wahrgenommen würde, da zig Tausende auf gefährlichen Mittelmeer-Überfahrten mit geringer Erfolgschance ihr Leben eben dafür riskieren.
Hat sich die Rezensentin von Le Monde gefragt, warum Frank Castorf im Schmutz der französischen Geschichte puhlt, wo wir Deutschen doch genug Dreck am eigenen Stecken haben? Außer, dass Frank Castorf das viele, bisher ungenutzte „Bonusmaterial“ aus seiner Gounod-Inszenierung verwenden wollte, fällt mir dazu nichts ein.
Ausführlicher als gewohnt arbeitet sich Castorf an Fragen männlicher Identität ab. Seine Lesart, über die Sebastian Kaiser und Carl Hegemann, seine beiden Dramaturgen, unter dem Titel „Das Männliche ist das Vergängliche“ auf der Webseite der Volksbühne berichten, ist auf den ersten Blick interessant, auf den zweiten aber doch ziemlich unterkomplex.
Der bedauernswerte Martin Wuttke muss als triebgesteuerter, vor Lust sabbernder Greis chargieren und zugleich auch noch als Projektionsfläche für die Kritik am Kolonialismus, Neoliberalismus und Kapitalismus herhalten.
Die Spielerinnen haben wesentlich dankbarere Rollen, vor allem Sophie Rois und Valery Tscheplanowa tragen den Abend.
Der „Faust“ reicht dennoch nicht an seine beiden Arbeiten aus der vergangenen Spielzeit („Karamasow“ und „Die Kabale der Scheinheiligen“) heran, die seinem Star-Aufgebot noch wesentlich mehr Gelegenheit gaben, in Kabinettstückchen zu glänzen, weit weniger Längen hatten und auch konzeptionell schlüssiger waren.
Wie bei den meisten Volksbühnen-Inszenierungen dieser Spielzeit von Marthaler bis Pollesch durften auch hier Gags über den Nachfolger Chris Dercon nicht fehlen. Statt subtiler Pointen blieb es aber bei recht faden Witzen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/03/13/castorfs-faust-monumentaler-abschied-von-der-volksbuehne/
Die Faust von Frank Castorf
Es ist ein Abgesang. Der Wiener Bühnenverein hat ihm letztes Jahr den Nestroy-Preis für sein Lebenswerk verpasst. Jetzt, da der fünfundsechzigjährige Castorf im Abgang noch einmal jungenhaft die Faust gegen die Politik und den künftigen Eventbetrieb reckt, die ihn von seinem gekaperten Stammsitz nach noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahren vertreiben, kann ihn der eine oder andere ihn bedenkenlos mit Lob überschütten.
weiter auf http://theater-film-kritik.de/