Blutbuch - Theater Magdeburg
Ein Abend voller Glücksmomente
28. Januar 2024. Jan Friedrich zaubert Kim de l'Horizons Roman "Blutbuch" auf die Bühne. Diese Produktion muss man sehen und lieben: Intensiv wird die Suche nach Identität, nach einer Sprache für die eigene Geschichte, den eigenen Körper, die eigene Lust erlebbar.
Von Matthias Schmidt
28. Januar 2024. Die Großmutter steht wie eingefroren in der Bühnenmitte, leicht gebeugt, zwei Einkaufsbeutel in den Händen. Auf einem Podest hinter ihr erscheinen nacheinander ein, zwei, drei, vier Personen und beginnen Kim de l'Horizons Texte zu sprechen. Ruhig, die Worte abwägend. Die Großmutter vorne – wie eingefroren. Schon ist zu befürchten, sie könnte einen Krampf bekommen.
Mehr noch aber, das könnte die Inszenierungsidee sein. Die (inhaltlich wie stilistisch herausragenden) Texte Kim de l’Horizons, in Ermangelung einer Bühnenhandlung vorgetragen von mehreren, signalhaft (und identisch) genderfluid beziehungsweise non-binär gekleideten Schauspielerinnen und Schauspielern. Dazu ein bisschen Live-Video, das ausgewählte Buchszenen illustriert. Noch knapp zwei Stunden …
Emanzipatorischer Befreiungsschlag
Was dann geschieht, geschieht nicht oft im Theater. Mit der zweiten Szene wird die Inszenierung zu einem regelrechten Rausch. Wie Regisseur Jan Friedrich diesen bewegenden, wundersamen, vielschichtigen Text inszeniert, das ist umwerfend. Bilder und Worte verschmelzen kongenial zu einem Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Obwohl keine Bühnenhandlung stattfindet, obwohl im Grunde doch nur Prosatexte frontal ins Publikum und in die Kameras gerichtet werden, obwohl die Figuren nie miteinander sprechen, Kim und die Großmeer (Großmutter), sondern aneinander vorbei, wird Kims Suche nach Identität, nach einer Sprache für die eigene Geschichte, den eigenen Körper, die eigene Lust intensiv erlebbar.
Die Videos zeigen in Nahaufnahmen Momente aus der Kindheit, die Hände Kims, die Räume der Kindheit, die Küche der Großmutter, ihren Mund, so nah, dass es beinahe weh tut. Man wird so sehr in diese Welt hineingezogen, dass man nach den zwei Stunden kaum fassen kann, wieder in das Leben vor dem Theater zurückzukehren.
Vergessen die Frage, ob das Thema non-binäre Personen gesellschaftlich wirklich so relevant ist und der Roman wirklich so buchpreiswürdig. Vernachlässigbar die Wort-Purzelbäume, die, alles Männliche löschen wollend, von "verschwestern" sprechen oder gar "niemensch" statt "niemand" sagen. Überhörbar die rhetorische Zuspitzung, mit der Kim de l'Horizon diese Identität zum Standard erhebt und damit alles Binäre (ausdrücklich zum Beispiel schwule Männer) abwertet. Dieses Buch ist ein emanzipatorischer Befreiungsschlag, den man spätestens nach dieser Inszenierung genau so lieben muss, wie er ist.
Theater in Nahaufnahmen
An dieser Magdeburger Inszenierung stimmt einfach alles. Die Bühne, nach hinten begrenzt von einem riesigen Fadenvorhang, der sich öffnen lässt und Blicke freigibt in eine andere Welt. Der immer wieder als Leinwand für die Videos dient, die hinter dem Vorhang entstehen. Nahaufnahmen prägen das Bild und sorgen dafür, dass man den Figuren tatsächlich nahekommt. Das klingt zugegebenermaßen banal, ist aber ungeheuer wirkungsvoll.
Da ist der kleine Kim, der sich in der Welt der Großmutter mit all ihren Regeln, ihrer Duldsamkeit, mit ihren Tabus, den blinden Flecken der Familiengeschichte ebenso unwohl fühlt wie in seinem Körper. Die Bilder sind oft statisch, aber sie brennen sich ein – die Großmutter, die wegen beginnender Demenz in ein Heim ziehen muss und nun – immer noch mit den beiden Einkaufbeuteln – auf einem Pflegebett steht. Als Kim sie immer wieder nach dem schicksalhaften Verlust ihrer Schwester in der Kindheit fragt, die vom Urgroßvater missbraucht und in ein Frauengefängnis "entsorgt" wurde, bleibt sie eingefroren, vor allem ihr Gesicht ist versteinert. Wir wissen jetzt, warum. Ihre Maximen werden links und rechts auf Leinwände projiziert: Frauen weinen nicht. Frauen sind stark. Das ist formal und auch emotional schlicht atemberaubend.
Eine emotionale Achterbahnfahrt
Da ist die Mutter, das Bindeglied dreier Generationen, die sich entfremdet haben und doch im Grunde abgrundtief lieben. Grandios das Farbkonzept mit vielen grellen Tönen, darunter immer wieder dem Blutrot der Buche. Ebenso die Blutbuche selbst, thematisch und bildlich ein Zentrum der Inszenierung: ein Baum-Mensch, der die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen lässt. Nicht zuletzt der Soundtrack, der nicht nur, aber über lange Strecken Kavinskys "Nightcall" variiert, den Song aus dem Film "Drive", den Kim de l'Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises anstimmte.
Dieser Figur zu folgen, ist eine emotionale Achterbahnfahrt: zutiefst berührend, wenn es um die Hassliebe zur Mutter und zur Großmutter geht. Mit ziemlich expliziten Loopings, wenn Kims sexuelle Erlebnisse beschrieben werden. Sogar ein paar fröhliche Abfahrten sind eingebaut, wenn Kim mit der alten Welt und deren Werten und Sprache abrechnet. Über Goethe darf gelacht werden, während bei Heinrich Wiepking (den Kim bei Recherchen über Blutbuchen entdeckt) das Lachen im Halse stecken bleibt. Der Mann war bei den Nazis Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums und wurde nach dem Krieg unter anderem mit der landschaftlichen Gestaltung des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen beauftragt und mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Traurige Pointen treffen auf provokante Thesen, Politisches auf Privates. Sogar Selbstironie hat Platz in diesem Theatererlebnis: wenn Kim sich eingesteht, mit Wissen und Bildung letztlich ebenso zu protzen, wie es andere mit dicken Autos oder Muckis tun.
Nichts davon wirkt aufgesetzt, all das, sogar das Thesenhafte mancher Textpassagen, passt organisch in die Welt, zu der die Bühne für zwei Stunden wird. Die es schafft, alles andere für diese Zeit auszublenden. Ein Abend voller Glücksmomente. Zu denen auch zählt, dass Schauspielerin Julia Buchmann Schwyzerdütsch spricht und am Ende nacheinander jeder einzeln einen Absatz des englischen Schlusstextes. Dass ein noch so junger Roman, und ausgerechnet auch noch dieser, zu einem so fulminanten Theatererlebnis wird, wie gesagt, so etwas geschieht nicht oft.
Blutbuch
von Kim de l'Horizon
In einer Fassung von Jan Friedrich
Regie und Kostüm: Jan Friedrich, Bühne: Alexandre Corazzola, Musik: Friedrich Byusa Blam, Video: Nico Parisius. Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit: Iris Albrecht, Anton Andreew, Julia Buchmann, Marcel Jaqueline Gisdol, Oktay Önder, Michael Ruchter, Carmen Steinert.
Premiere am 27. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theater-magdeburg.de
Der Abend lasse einen elektrisiert zurück, eine wahre Wucht, schreibt Robert Gruhne in der Magdeburger Volksstimme (29.1.2024). "Die ist Autofiktion. Das Magdeburger Ensemble spiegelt das und trägt das gleiche Glitzer-Flausch-Outfit, das de l’Horizon zur Verleihung des Deutschen Buchpreises anhatte. Sie tanzen, sie singen, sie schreien, sie sezieren Schicht für Schicht Kims Identität." Einer der intensivsten Momente sei ein derbes Sexdate auf einem Rave im Wald. "Ein mutiges, elektrisierendes und lebensbejahendes Stück für alle, die mit der Frage hadern, warum sie so sind, wie sie sind."
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Auf eine berührende Art und Weise berührt und verstört dieses Stück die Zuschauenenden und lässt einen mit vielen Fragen zurück. An sich selbst, die Familie und die Gesellschaft.
Merci
Natürlich ersetzt nichts das Live-Erlebnis ;)
Der Saal stand, Fragen an mich von meiner Tochter auf der Rückfahrt nach Berlin. Leichte Überforderung, aber auch durch einen wirklich starken Text. Definitiv eine Überraschung.
P.S. ich fand die Stühle ein wenig hart...
Liebe Grüße
Der Text bietet ein Beispiel, wie man diesem begegnen kann und macht unmissverständlich klar, dass es eine Art der Verantwortung gibt, hinzusehen, so dass sich Dinge nicht immer wieder wiederholen..das muss uns in Zeiten wie diesen ganz besonders eine Mahnung sein.
Bravo, Standing Ovations und Herzklopfen, wenn ich an gestern zurückdenke. Danke!
Wie windet sich ein Kind, wenn es merkt, dass es nicht der Norm entspricht? Wie wichtig ist es, dass Familientraditionen über allem anderen stehen? Kann ich dem gerecht werden oder werfe ich alles über Bord?
Man sucht es sich ja nicht aus, aber wenn man als Kind merkt, dass man aneckt… versteckt man sich, arrangiert man sich oder versucht man zu leben, wie man ist?
Abgesehen vom sexuellen Kontext kann hier wirklich jedMensch über sich und seine/ihre Familie nachdenken…
Danke für diese wundervolle Inszenierung, die hoffentlich noch ganz viele Menschen ansehen werden - Danke für diesen wunderbaren Abend!
Das ist meine Erfahrung:
Ich gehe als Betrachter in und Teilnehmende,hinschauende Zuschauerin: getröstet, ein Stück weit geheilt, lebendiger, menschlich bestätigt,als weiblich gelesene und wahrgenommene Person gesehen -aus dem Abend heraus-zurück in mein Leben-und freue mich drauf.
Keine Sorge, das tut es natürlich nicht. Genauso wie de L´Horizon in der Vorlage mit den Sprachebenen und Motiven spielt, wird auch aus diesem raupenhaften Beginn ein schillernder Theater-Schmetterling, der mit den Stilmitteln spielt und stets nah an der Vorlage bleibt.
Regisseur Friedrich und sein Team haben die grobe Gliederung in fünf Teile beibehalten und als Zwischenüberschrift markiert. In den zwei Stunden folgen sie den Erzählsträngen, Sackgassen, Brüchen und ironischen Einschüben von Kim de L´Horizon Gedankenstrom. Märchenhafte Kindheitserinnerungen in Live-Videos folgen auf explizite Schilderungen anonymer Sexdates (für ein Publikum ab 16) in den Vororten, bei denen sich die Hauptfigur slutty benutzen lässt, bevor es mit den Archivrecherchen zu Botanik und Nationalismus weitergeht. Ein optischer Höhepunkt ist der Auftritt von Oktay Önder als rotschwarze Blutbuche in einem ausladenden Kostüm voller wuchernder Wurzeln, sprachlich bringt die Schweizerin Julia Buchmann, die seit 2022 im Magdeburger Ensemble engagiert ist, in der Rolle der Meer ihren heimatlichen Dialekt sehr authentisch in die Rolle ein.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/05/01/blutbuch-theater-magdeburg-kritik/