Lieder ohne Worte - Théâtre Vidy-Lausanne
Metaphysischer Autounfall
18. Februar 2022. Auf Burleske Momente folgt tiefste Innerlichkeit. Thom Luz weist mit seiner Arbeit "Lieder ohne Worte" den Weg ins Glück. Gestern feierte die Produktion ihre Premiere an der Kaserne Basel, wir sahen sie schon im April des letzten Jahres in Lausanne.
Von Andreas Klaeui
Metaphysischer Autounfall
von Andreas Klaeui
22. April 2021. Wie gern hätte ich einmal eine Rezension mit dem Kalauer überschrieben: "Lieder ohne Forte". Aber es geht wieder nicht. Denn das Fortissimo kommt ganz am Schluss doch noch – und dies dann überraschenderweise auf komplett abgedunkelter Bühne. Der Anfang des Abends jedoch ist licht und sanft und ganz im Piano. Das ist wörtlich zu nehmen: Mathias Weibel stellt sich an selbiges – ans Piano – und drückt die Tasten, nur kommt kein Laut heraus. Die Töne bleiben im Instrument gefangen. Erst durch einen unverkennbar Thom Luz'schen Bühnenzaubertrick befreien sie sich dann aus einem Lautsprecher am entgegengesetzten Ende der Bühne. Ein Suchscheinwerfer hat seinen blau gebündelten Strahl darauf gerichtet, das hat den Ausschlag gegeben.
Unfalltourist*innen im Scheinwerferlicht
Vom Fokussieren und seiner Behelfsmäßigkeit handelt dieser Abend. Von Rahmungen und ihrer Vergeblichkeit. Vom zufälligen Geworfensein im Unfalltal. Wenn eine sprachlose Beobachtergruppe vor einem Car Crash steht und versucht, ihm den beruhigenden Rahmen eines übersichtlichen Bildes zu geben, erweist sich dieser als nichts als Schein, ein Lichtschein im wörtlichen Sinn. Wenn ein Touristentrüpplein sich über die Bühne führen lässt und unbeholfen von Wundern was stammelt, "phantastisch", "eine Kathedrale" – dann überführt Tom Luz die melancholische Metapher (die sich in seinen letzten Arbeiten hartnäckig hält) ins größere Bild einer existentiellen Hinfälligkeit. Das Unbehagen, das sich womöglich unter dem Corona-Deckel angestaut hat, führt zur präzisen Beschreibung einer Condition humaine.
Das Unfallfahrzeug als Musikinstrument
Ins Stammeln mischt sich die Emphase der Musik, ins Staunen die Fermate, zum Klavier gesellen sich Theremin, E-Geige und E-Cello, bald auch Lieder mit Worten, "Wer hat dich, du schöner Wald" im schönsten A-cappella-Gesang. Mit zugleich musikalischer wie dramaturgischer Meisterschaft – und ganz so wie in Mendelssohns Kompositionen – wechseln sich scherzhafte und burleske Momente ab mit solchen von tiefster Innerlichkeit. Seine lyrischen Miniaturen, für den bürgerlichen Salon gedacht, zerfallen in Death and Disaster. Selbst das Unfallfahrzeug wird zum Instrument, und es ist schon erstaunlich, was so ein Auto alles an Klängen hergibt, an Klopfen, Kratzen, Hupen, Scheppern, Donnern. Bei Thom Luz schläft seit jeher ein Lied noch in den ungeahntesten Dingen.
Ganz zu schweigen vom Autoradio, das Wunschkonzert und Wetterbericht drauf hat – was ja ihrerseits vergebliche Ordnungs-Rubriken sind – und zuverlässig nur noch knistert, sobald der Name Mendelssohn fallen sollte oder sonst wie kategorisiert werden müsste. Denn so was wie Ordnung, oder gar Teleologie, ist nicht zu haben auf dieser Welt. Auf dieser Erde, die nur ein "Trümmerhaufen vergangener Zukunft" ist, wie es eine Figur mit Judith Schalansky sagt.
Ins Dunkel des Durcheinanders
Noch viel weiteres Schönes ereignet sich an diesem Abend, flatternde Lautsprechergespenster auf Teleskopstangen zum Beispiel oder ein Musikverzeichnis mit lauter Unfall-Kompositionen. Bis er zuletzt ganz in der Finsternis endet, im Dunkel eines aleatorischen Durcheinanders, aus dem Musikfetzen herausleuchten, oder ein überfahrenes Reh. Und im ohrenbetäubenden Gepolter des metaphysischen Crashs.
Selten war Thom Luz in seinen Arbeiten je so bitter. Und dennoch will man sich dem Urteil der von Samuel Streiff gespielten Figur anschließen: "Hier haben wir wieder mal alles, was es braucht, um glücklich zu sein".
Lieder ohne Worte / Chansons sans paroles
Von Thom Luz und Ensemble
Inszenierung, Raum: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Dramaturgie: Kathrin Veser, Kostüme: Tina Bleuler, Katharina Baldauf, Sounddesign: Martin Hofstetter.
Mit: Fhunyue Gao, Mara Miribung, Daniele Pintaudi, Samuel Streiff, Mathias Weibel.
Premiere am 22. April 2021 am Théâtre Vidy-Lausanne
Koproduktion: Kaserne Basel, Gessnerallee Zürich, Théâtre Vidy-Lausanne, Wiener Festwochen, Hellerau - Europäisches Zentrum der Künste Dresden
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten (keine Pause)
vidy.ch
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