Volksbühne Berlin: maximal 26 Nichtverlängerungen
"Behauptungen im Zusammenhang mit dem Intendantenwechsel"
5. Juli 2015. Etwa 20 bis 25 Mitarbeiter*innen werden die Volksbühne Berlin nach dem Ende der Intendanz von Frank Castorf verlassen müssen. Das teilte am 4. Juli 2016 die Berliner Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten mit. Sie reagierte damit auf einen Bericht der Berliner Zeitung vom gleichen Tag, es stünden etwas 50 Entlassungen bevor. Auch die Berliner Zeitung hat diese Angaben inzwischen korrigiert.
In einer Email an die Chefredaktion der Berliner Zeitung (die auch nachtkritik.de vorliegt), hatte der Berliner Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten Tim Renner die Darstellungen als unwahr bezeichnet und mitgeteilt: "bis Oktober 2016 wird nach heutiger Kenntnis insgesamt über max. 26 Nichtverlängerungen gemäß des Tarifvertrages NV-Bühne entschieden werden. Im Bereich der nach TV-L-Beschäftigten sind nach heutiger Kenntnis keine Kündigungen möglich oder geplant."
Die Unkündbaren
Der Normal-Vertrag Bühne regelt das Beschäftigungsverhältnis aller künstlerischen Mitarbeiter*innen eines Theaters, der Tarif-Vertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) die der übrigen Beschäftigten, u.a. in den Werkstätten, in der Verwaltung und im Besucherservice. NV-Bühnen-Verträge sind befristet und werden erst unkündbar, wenn das Beschäftigungsverhältnis länger als 15 Jahre besteht. Im aktuell insgesamt aus zehn Schauspieler*innen bestehenden festen Ensemble der Volksbühne trifft das auf die Schauspielerinnen Silvia Rieger und Sophie Rois zu, wie einem Bericht in der heutigen Ausgabe der Berliner Zeitung zu entnehmen ist. Die anderen acht werden ebenso nicht verlängert wie viele Beschäftigte in der Dramaturgie oder Assistent*innen für Regie, Bühne oder Kostüm.
Frühere Veröffentlichung vertraglich nicht möglich
Die von der Senatskanzlei als "Falschinformationen" bezeichnete Darstellung der Berliner Zeitung vom 4.7.2016, heißt es in der gestrigen Presserklärung weiter, reihe sich "in eine Vielzahl anderer, unzutreffender Behauptungen, die im Zusammenhang mit dem Intendantenwechsel in den Medien kursieren". Weder sei jemals geplant gewesen, "ohne Ensemble zu arbeiten, noch Abteilungen oder Werkstätten ganz oder teilweise zu schließen, dem Sprechtheater eine untergeordnete Rolle an der Volksbühne zu geben, für den Betrieb des Hauses Englisch als Arbeitssprache einzuführen oder das Repertoire zukünftig auf non-verbale, respektive englischsprachige Werke zu fokussieren".
Die genauen Pläne werden Chris Dercon und sein Team nach Auskunft der Senatskanzlei im Frühjahr 2017 vorstellen. Eine frühere Veröffentlichung sei weder vertraglich noch planerisch möglich.
Alles noch offen?
Einem Bericht der Berliner Morgenpost zufolge hat Sabine Bangert, kulturpolitische Sprecherin der Grünen, das Vorgehen in der "Causa Volksbühne" kritisiert: "Es ist normal für einen Wechsel, dass künstlerisches Personal geht. Nicht normal aber ist, dass ein Intendant schon im Vorfeld für eine solche Unruhe sorgt." Wie der Senat agiere, gehe es nicht. "Das beschädigt den Ruf der Volksbühne und auch die Reputation Dercons", wird Bangert zitiert.
Zudem kritisiert sie nach Angaben der Morgenpost, dass auch das Team um Dercon noch nicht stehe. "Kommt Regisseurin Susanne Kennedy und unter welchen Bedingungen? Offenbar laufen da noch Verhandlungen." Dass gerade bei diesem Traditionshaus alles noch 'offen' sei, betrachte Bangert als kulturpolitischen Ausverkauf.
(sle / aktualisiert 5.7.2016, 11:15 Uhr))
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(Lieber Sascha Krieger, wir danken für die Anregung und haben die missverständliche Formulierung geändert. Tendenzöse Berichterstattung liegt nicht in unserer Absicht. Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
ist neukaptialstische Semantik vs Klassenkampfjargon
Es ist also genau anders herum als Sie behaupten, werden diese Verträge nicht "nichtverlängert", laufen Sie unbefristet weiter.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich erst über die besonderen Gegebenheiten dieses Arbeitsvertrages informieren, bevor Sie nachtkritik tendenziöse Berichterstattung vorwerfen.
1. Die Volksbühne hat zur Zeit ein Ensemble, das aus ZEHN Schauspieler*innen besteht???? Sorry, aber das ist ein kleinerer Skandal, finde ich. Und das relativiert die Aufregung über den angeblich so neoliberalen Dercon erheblich.
2. Hier gibt es wieder einmal ein paar haarsträubende Behauptungen zum NV-Bühne. Also: Ein Arbeitsvertrag in der Tarifgruppe Solo ist ein befristeter Vertrag (Sachgrundbefristung bei der "die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt" (TzBfG §14 Satz 1 Nr. 4).
Das bedeutet dreierlei: Zum einen, eine Nichtverlängerung ist keine Kündigung (Das kann wichtig werden, wenn das Solomitglied erklärt seinen Vertrag nicht verlängern zu wollen – das ist keine "Kündigung durch Arbeitnehmer", die zu einer Sperre des ALG I führen würde). Zum anderen, eine "ordentliche Kündigung" ist ausgeschlossen (es gibt eine Hintertür, aber die muss arbeitsvertraglich vereinbart sein). Zum dritten, eine Befristung über mehr als zwei Jahre ist zulässig (Kettenbefristung).
Für einen/eine Befreoffene*n macht das keinen Unterschied. Sowohl die psychologischen, als auch die finanziellen Folgen sind identisch: der Job ist weg.
Um die Abfindungen wird die Volksbühne nicht herumkommen, sofern sich Castorf nicht zum Helfer/Komplizen seines Nachfolgers gemacht hat. Die Nichtverlängerungen müssen von Dercon im Juli und im Oktober mit der Begründung "Intendantenwechsel" ausgesprochen werden , somit erhalten alle Betroffenen, die zumindest vier Spielzeitn an der Volksbühne engagiert waren, eine Abfindung (falls sie bis zum 1.11.17 keinen neuen Job angenommen haben).
Das Tam Tam über ausgesprochenen Nichtverlängerung zeigt nur wieder, wie alles in die eine oder ander Richtung interpretiert werden kann.
Leider tragen viele Zeitungen mit schlecht recherchierten Artikeln (wie z.B. der besagte Artikel auf der Titelseite der Berliner Zeitung) zu einer Hysterisierung der Debatte bei. Z.B. auch die Behauptung in vielen Medien, dass ein Großteil der festen Volksbühnen Mitarbeiter den offenen Brief unterschrieben haben, ist scheinbar auch nicht korrekt. Von den 180 Unterzeichner waren auch wohl nur ca. 90 Unterschriften von den insgesamt 216 festen Mitarbeitern. Natürlich immer noch ein so hohe Zahl, um ihre Bedenken ernst zu nehmen. Trotzdem sollte sich sachlicher mit dem Thema Dercon auseinandergestzt werden. Das was er bisher gemacht hat muss man nicht mögen. Seine Besetzung war sicherlich aus künsterischer Sicht auch eine Fehlentscheidung, aber ihn öffentlich so zu diffamieren ist nicht in Ordnung.
10? Das ist superwenig. (Man schaue sich mal die Fest-Ensembles vergleichbarer Häusern an...das sind immer um die 30 festangestellte Schauspieler, oft mehr...und nein, ich rede nicht von der Burg...)
Ich danke hierbei Faktenschaffer (#13) für den Hinweis:
"Hinzugefügt werden muss wohl auch, dass die Schauspieler nach allem, was man hört, nicht allein aus künstlerischen Gründen das Festengagement verlassen haben, sondern weil die ständigen Budgetkürzungen an der Volksbühne keine höheren Honorare erlaubten."
Und möchte dazu nur sagen: Meine Verwunderung bleibt dennoch bestehen.
Denn auch wenn offenbar wirklich viele Volksbühnen-Schauspieler über die Jahre auch aus finanziellen Gründen das Festengagement verlassen haben (was ja jedermanns/fraus gutes Recht ist), hätte ja die Leitung, also die Leitung der Volksbühne, dennoch problemlos sehr gute neue Schauspieler fest anstellen können - wenn es Castorf & Co darum gegangen wäre, aus einem Festensemble heraus zu arbeiten.
Die Tatsache, dass das in letzter Zeit anders gehandhabt wurde, dass offenbar überwiegend mit gastierenden Vertrauten gearbeitet wurde, statt regelmäßig bisserl neuen Wind hereinzulassen durch neue Festengagements, gibt der Volksbühne in meinem Ohr grad einen miefig-statischen Unterton, der mich zugegebener Maßen bisserl traurig macht.
Bin aber zuversichtlich, morgen sieht es wieder anders aus...
Gott sei's getrommelt und gepfiffen!!!