"Herzzerreißend komisch"

Berlin, 8. April 2020. Der Dichter, Künstler und Musiker Tilmann Lehnert ist im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben, das melden unter anderem Der Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung in Nachrufen. Er starb demnach bereits am 2. April "nach langer Krankheit". Der 1941 in Darmstadt geborene Lehnert hatte 1965 mit dem Künstler Johannes Grützke in Berlin die Gruppe "Erlebnisgeiger und Klavier und Gesang" gegründet, die "sich angeblich nie zum Proben, sondern nur zu Konzerten traf", wie der Tagesspiegel schreibt. Mit Grützke führte er 1980 im Berliner Café Einstein auch die Oper "Im Fundbüro" auf. Die Süddeutsche Zeitung berichtet in ihrem Nachruf von einer "Combo der Extreme", deren Wirkung "herzzerreißend komisch" gewesen sei.

West-Berliner Original

Mit Altberliner Liedern, Konzerten und Lyrik-Rezitationen gastierte Lehnert als West-Berliner Original an der Bar jeder Vernunft, später am Varieté Chamäleon, aber auch am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg während der Intendanz von Peter Zadek und an zahlreichen Off-Theatern. Daneben spielte er in Filmen von Rosa von Praunheim und Werner Schroeter. Lehnerts Gedichte und Prosa erschienen in Büchern wie "Oben ist nur der Boden. Von Menschen und Tütenmietern" oder zuletzt "Fabelhafte Gespräche" (2014).

(Der Tagesspiegel / Süddeutsche Zeitung / jeb)

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Tilmann Lehnert: Lebenslange Bereicherung
Wenn man sich Anfang der 1990er Jahre in der Berliner Freien Szene herumtrieb, konnte man allerlei seltsame Blüten entdecken, die nur zum Teil dem Wiedervereinigungschaos entsprossen waren – zum Teil waren es auch (über-)reife Blüten, die sich irgendwo im Halbverborgenen gehalten hatten. Eine solche war das Zan Pollo Theater, das sich – nach diversen anderen Stationen – in Steglitz eingerichtet hatte. Von einem Freund aufmerksam gemacht, verschlug es mich eines Tages dorthin – und was wir dort sahen, hat seltsamerweise über viele Jahre unsere Kommunikation und unseren Wortschatz geprägt. Gespielt wurden, unter dem Titel "Das 7. Zimmer", Dialoge und Szenen von Tilmann Lehnert. Wir haben diese Dialoge sofort gefeiert, denn sie waren so skurril, so absurd, so witzig, wie man es sich nur wünschen konnte. Hochartifiziell und hochmusikalisch in sich drehend, feuerten sie mit abstrusen, sich aber ständig erweiternden Wiederholungsschleifen eine völlig verrückte Eskalationsdynamik an. Da die Schauspieler*innen für einzelne dieser immer wiederholten Sätze eine je charakteristische Satzmelodie entwickelt hatten, bekam man diese förmlich ins Hirn und eben auch ins eigene Sprechwerkzeug gemeißelt. Und so liefen wir denn nach diesem (dann noch einmal wiederholten) Besuch des Zan Pollo Theaters jahrelang mit Tilmann-Lehnert-Sätzen auf den Lippen herum: "Red doch keinen Unsinn" war eine solche, an sich harmlose Phrase, die durch Repetition und Diktion eine zwerchfellerschütternde Kraft entfalten konnte. Zumal Lehnert sie mit seinem Sinn für aus sich heraus komische Wörter paarte: So ein Dialog konnte auch einmal längere Zeit auf einem Ortsnamen wie "Haigerloch" herumreiten, sich am bloßen Klang dieses Wortes berauschen.
"Ich habe einmal einen Kasuar gegessen und ich habe sogar mal einen Emu gegessen." "Ach red doch keinen Unsinn. Du hast noch nie einen Emu gegessen." "Ich red keinen Unsinn. Ich habe selbstverständlich einen Kasuar gegessen, ich habe einen Emu gegessen, und ich habe sogar einmal angelegentlich einen Nandu gegessen." "Ach red doch keinen Unsinn. Du hast noch niemals einen Nandu gegessen. Ich weiß, was du ißt und was du gegessen hast. Red keinen Unsinn, ich kenn dich doch." "Ich red keinen Unsinn. Du kennst mich, aber du weißt nicht, was ich schon gegessen habe." usw. bis zum absurden Schluss, Prutt-Prutt!
Danke, Tilmann Lehnert, für ein kleines kurzes Theaterglück und für die lebenslange Bereicherung meines Vokabulars!
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