Unauthorized und Unverschämt - Sophiensaele Berlin
Schnappt euch ein Sitzkissen!
10. Februar 2024. Simone Dede Ayivi beleuchtet mit ihren Kompliz*innen ein wenig beachtetes Stück bundesrepublikanischer Historie: die Geschichte derer, die als Kinder schwarzer US-Soldaten und weißer deutscher Mütter nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Dazu lädt sie in einen außergewöhnlichen Lern-Raum.
Von Janis El-Bira
10. Februar 2024. Es gibt einen kleinen Teilbereich innerhalb des theatralen Aktivismus, da verwandelt sich dessen Pranke in ein samtenes Tätzchen. Dort wählt man entspanntes Niederlassen zum Hören, Lernen und Nachvollziehen anstelle hammerharter Verplättungen oder freiwilligen Nachmittagsunterricht für besonders Interessierte statt Strafarbeit. "Schnappt euch ein Sitzkissen" wird dann zum neuen "Ich hau euch, bis ihr's kapiert habt".
Lehrraum mit Sitzkissen
Die Theatermacherin Simone Dede Ayivi und ihre Kompliz*innen haben in den Sophiensaelen einen solch betont einladenden Lern- und Lehrraum eingerichtet. Sitzkissen gibt’s auch, ein paar Klappstühle sogar, vor allem aber: Kopfhörer, um den Stimmen jener zu lauschen, deren Geschichten hier erzählt werden sollen. Den so genannten "Besatzungskindern" nämlich ist dieser kurze Abend gewidmet. Genauer jenen unter ihnen, die als Kinder schwarzer US-Soldaten und weißer deutscher Mütter nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Ein vergleichsweise wenig beachtetes Stück bundesrepublikanischer Geschichte also, deren spezieller Moder in Mirjam Pleines begeh- und besetzbarer Bühneninstallation aus angegilbtem 50er-Jahre-Interieur und einer Musiktruhe quillt, die dann und wann die Fetzen zeitgenössischer Tunes ausspuckt.
Rassistische Kontexte
Von der deutschen Nachkriegsgesellschaft mehr oder weniger ausgespuckt wurden auch die irgendwann als "brown babies" gelabelten Kinder. Da ihre Mütter in den meisten Fällen nicht mit den Vätern verheiratet, die Väter zudem durch Rückkehr in die USA oder Verlegung ihrer Einheiten oft schnell wieder weg waren, stand den ledigen Müttern nach damaliger Gesetzgebung kein Sorgerecht zu. Der deutsche Staat sah sich in der Verantwortung – und "erfüllte" sie nach seinem Verständnis durch die Unterbringung in Heimen, Pflegefamilien oder den Versuch, die Kinder direkt an Adoptiveltern in den USA zu vermitteln. Wenn an diesem Abend KI-Stimmen aus den damaligen Dokumenten eines städtischen Wohlfahrtsamts lesen, verdeutlicht sich auf bedrückende Weise die Fortschreibung der NS-Rassenideologie in nachkriegsdeutschen Kontexten: Wohin mit den "Mischlingen", die zwar eigentlich Deutsche sind, aber eben doch nicht so richtige?
Von dieser jahrzehntelangen Stigmatisierung und Identitätssuche berichten die von Simone Dede Ayivi und ihrem Team befragten Zeitzeug*innen in fortlaufend im Raum projizierten, kunstvoll vom Einzelschicksal abstrahierenden Videos. Ein Mann erzählt, wie er Schuttpartikel der abgerissenen Soldatenhäuser aus dem Mannheimer Benjamin-Franklin-Village an amerikanische Touristen weitergibt. Eine Frau von der verwickelten Suche nach ihrem Vater in den USA. Zwischendrin nebelt es ordentlich, fast den ganzen Raum verhüllend, um schließlich den Blick aufs Heute und die schwarzen Bewegungen und Communities in der deutschen Gegenwart freizugeben.
Ausgestreckte Hand
"Unauthorized und Unverschämt" versteht sich auch als multimedialer Erinnerungsraum für deren stille Vorkämpfer*innen, als Brückenschlag zwischen den Aktivisten-Generationen. Unverschämt ist daran freilich so gar nichts, eher freundlich bei der Hand nehmend. Am Ende tritt Simone Dede Ayivi vors Publikum, verweist auf die Abendzettel und die Möglichkeit, auf deren Rückseite Feedback zu notieren. Vielleicht hätte man sich darauf wundern können, warum die Zeug*innen wohl so selten wirklich ins Bild rücken und stattdessen zu Schattenrissen und sprechenden Collagen verweht werden. Oder aber sich bedanken, dass man in diesen kaum 50 Minuten doch immerhin eher unterrichtet als beschult wurde. Davon unabhängig ist das Fortleben dieses Projekts jetzt eh schon gesichert: Am Mannheimer Nationaltheater soll das Thema mit dem dortigen Stadtensemble weiter erforscht werden, auch eine Rückkehr an die Sophiensaele mit neuem Wissensstand ist geplant. Die Hand bleibt ausgestreckt.
Unauthorized und Unverschämt
Von Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen
Konzept, Text: Simone Dede Ayivi, Bühne: Mirjam Pleines, Video: Jones Seitz, Komposition, Sound: Johannes Birlinger, Licht: Frieder Miller, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sarah Rosenau, Projektmitarbeit: Charlotte Rosengarth, Ausstattungsassistenz: Luca Plaumann, Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, Technische Leitung: Gefährliche Arbeit.
Premiere am 9. Februar 2024
Dauer: 50 Minuten, keine Pause
https://sophiensaele.com/
Kritikenrundschau
Die Inhalte seien beklemmend, die Atmosphäre einladend, schreibt Elena Philipp in der Berliner Morgenpost (12.2.2024) in den Sophiensaelen. "Jede Besucherin wird persönlich begrüßt, der Kopfhörer eigenhändig überreicht. Und dann darf man sich in der theatralen Installation im großen Saal frei bewegen." "In diesem Austausch rücken bislang randständige Perspektiven ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wohin sie gehören," so die Kritikerin
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