Die Autorschaftsdebatte
Das Handy des Erwählten
von Nikolaus Merck und Petra Kohse
Berlin, 22. Juni 2007. Alles begann in Mülheim, wo das Regie-Kollektiv Rimini-Protokoll am 2. Juni für sein dokumentarisches Stück Karl Marx: Das Kapital, Erster Band den diesjährigen Dramatikerpreis gewann. Das sei aber gar kein Theaterstück, tönte es bald wütend aus dem Blätterwald. Doch, das sei wohl eins, schallte es nicht minder erregt zurück. Wir fassen die wesentlichen Positionen zusammen:
1. Akt
Die Siegesfeier in Zürich begann gleich nachdem Gerhard Jörder in Mülheim die Entscheidung der Jury verkündet hatte: Rimini Protokoll gewinnt den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis für das Stück "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band". Während sich das Regie-Kollektiv in der Schweiz, wo es an seiner Version von Friedrich Dürrenmatts Klassiker "Besuch der alten Dame" arbeitete, noch zuprostete, legten die Leute im Frankfurter Verlag der Autoren zornig die Stirnen in Falten. Zehn Tage trugen sie sich mit ihrem Widerwillen, dann schickten sie eine Pressemitteilung in die einschlägigen Journalistenbüros: Der Mülheimer Preis zeichne eine "herausragende Produktion, eine intelligente Regie, eine neue Theaterform" aus, "nur eines nicht: einen Dramatiker". Was das Verlagsteam unerhört fand, denn schließlich sei Mülheim das Festival für neue Stücke. Und genau darum, um ein Stück, scheint es sich für die VerlegerInnen der Autoren bei "Das Kapital, Erster Band" nicht zu handeln.
2. Akt
Diese Position inspirierte dessen alten Weggefährten Peter von Becker am 19.6.2007 zu einer Erwiderung im Berliner Tagesspiegel: Von Becker rekapituliert noch einmal die Arbeitsweise der Riministen. Casting, authentische Personen, Experten, Entwicklung eines Drehbuchs aus persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Damit aber ähnele "Karl Marx" einem "traditionellen Theaterscript wesentlich mehr als beispielsweise Elfriede Jelineks in Mülheim mehrfach ausgezeichnete 'Textflächen-Prosa' ohne festgelegte Rollen". Überhaupt: was sei denn ein Theaterstück? "Heute gibt's dafür kein Dogma mehr", alles sei erlaubt und Aufregung ganz fehl am Platze. Überdies genügten die Scripts von Rimini Protokoll einer wesentlichen Bedingung für Theaterstücke: sie seien "nachspielbar".
3. Akt
Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung, Christopher Schmidt, legt unter dem Titel "Die Zerstückten" am 22.6.2007 historisch grundsätzlich nach. Das ist schön. Er beginnt mit Thomas Mann und dessen Papst-Erzählung "Der Erwählte", der vom romantischen Topos des Künstlers handle, "der nur ein Instrument sei, Empfangenes weiterzugeben". Widersprochen worden sei dem unter anderen von Paul Valéry und Gottfried Benn, die Geschriebenes nicht als Offenbartes, sondern als Gemachtes begriffen haben wollten. Schmidt hält es für ein Kennzeichen der Postmoderne, dass der Glaube ans Wort erschüttert, an die Stelle des souveränen Autors "dekonstruktivistische Schreibweisen" getreten seien, "die mit den Mitteln von Zitat und Montage Demokratie herstellen sollen". Elfriede Jelinek. Rimini Protokoll.
Rimini Protokoll? "Casting und Compilation sind bei dieser Form von Dokumentartheater schon die halbe Dramaturgie und die inszenatorische Leistung die andere Hälfte." Wobei sich die "derzeitige Konjunktur dokumentarischer Formen" auf dem Theater auch dem "Wunsch nach Unmittelbarkeit und Authentizität" verdanke. Das Theater werde zum "Content-Merger", zum "Volksempfänger". Gleichzeitig hätte der Wettbewerbsdruck zugenommen – der Regisseur müsse zum Originalgenie werden, dafür schärfe er sein Markenprofil, die Arbeiten werden wiedererkennbar, sprich: verwechselbar, womit wiederum das Neuheitsgebot des Marktes verletzt wird.
Dieses Dilemma werde, so schließlich die historische Conclusio, von Poeten wie Dokumentaristen aufgelöst, indem sie sich wieder als Medien verstehen und alle Widersprüche in ihr Selbstbild eingemeinden würden. Das Geburtstrauma des Künstlers in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, sich nämlich als Sprachrohr einer Muse zu verstehen, sei damit jedoch nicht überwunden. Der Künstler habe "bloß den Arzt gewechselt. Kein Gott gibt ihm zu sagen, wie er leidet, sondern das Telefonbuch von Hamburg. Und statt Kirchenglocken läutet nur das Handy des 'Erwählten'".
Weitere Beiträge zu dieser Autorschaftsdebatte von Michael Börgerding und Oliver Bukowski. Außerdem zwei Presseschauen zum Thema: hier und hier.
Das Handy des Erwählten
von Nikolaus Merck und Petra Kohse
Berlin, 22. Juni 2007. Alles begann in Mülheim, wo das Regie-Kollektiv Rimini-Protokoll am 2. Juni für sein dokumentarisches Stück Karl Marx: Das Kapital, Erster Band den diesjährigen Dramatikerpreis gewann. Das sei aber gar kein Theaterstück, tönte es bald wütend aus dem Blätterwald. Doch, das sei wohl eins, schallte es nicht minder erregt zurück. Wir fassen die wesentlichen Positionen zusammen:
1. Akt
Die Siegesfeier in Zürich begann gleich nachdem Gerhard Jörder in Mülheim die Entscheidung der Jury verkündet hatte: Rimini Protokoll gewinnt den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis für das Stück "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band". Während sich das Regie-Kollektiv in der Schweiz, wo es an seiner Version von Friedrich Dürrenmatts Klassiker "Besuch der alten Dame" arbeitete, noch zuprostete, legten die Leute im Frankfurter Verlag der Autoren zornig die Stirnen in Falten. Zehn Tage trugen sie sich mit ihrem Widerwillen, dann schickten sie eine Pressemitteilung in die einschlägigen Journalistenbüros: Der Mülheimer Preis zeichne eine "herausragende Produktion, eine intelligente Regie, eine neue Theaterform" aus, "nur eines nicht: einen Dramatiker". Was das Verlagsteam unerhört fand, denn schließlich sei Mülheim das Festival für neue Stücke. Und genau darum, um ein Stück, scheint es sich für die VerlegerInnen der Autoren bei "Das Kapital, Erster Band" nicht zu handeln.
2. Akt
Diese Position inspirierte dessen alten Weggefährten Peter von Becker am 19.6.2007 zu einer Erwiderung im Berliner Tagesspiegel: Von Becker rekapituliert noch einmal die Arbeitsweise der Riministen. Casting, authentische Personen, Experten, Entwicklung eines Drehbuchs aus persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Damit aber ähnele "Karl Marx" einem "traditionellen Theaterscript wesentlich mehr als beispielsweise Elfriede Jelineks in Mülheim mehrfach ausgezeichnete 'Textflächen-Prosa' ohne festgelegte Rollen". Überhaupt: was sei denn ein Theaterstück? "Heute gibt's dafür kein Dogma mehr", alles sei erlaubt und Aufregung ganz fehl am Platze. Überdies genügten die Scripts von Rimini Protokoll einer wesentlichen Bedingung für Theaterstücke: sie seien "nachspielbar".
3. Akt
Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung, Christopher Schmidt, legt unter dem Titel "Die Zerstückten" am 22.6.2007 historisch grundsätzlich nach. Das ist schön. Er beginnt mit Thomas Mann und dessen Papst-Erzählung "Der Erwählte", der vom romantischen Topos des Künstlers handle, "der nur ein Instrument sei, Empfangenes weiterzugeben". Widersprochen worden sei dem unter anderen von Paul Valéry und Gottfried Benn, die Geschriebenes nicht als Offenbartes, sondern als Gemachtes begriffen haben wollten. Schmidt hält es für ein Kennzeichen der Postmoderne, dass der Glaube ans Wort erschüttert, an die Stelle des souveränen Autors "dekonstruktivistische Schreibweisen" getreten seien, "die mit den Mitteln von Zitat und Montage Demokratie herstellen sollen". Elfriede Jelinek. Rimini Protokoll.
Rimini Protokoll? "Casting und Compilation sind bei dieser Form von Dokumentartheater schon die halbe Dramaturgie und die inszenatorische Leistung die andere Hälfte." Wobei sich die "derzeitige Konjunktur dokumentarischer Formen" auf dem Theater auch dem "Wunsch nach Unmittelbarkeit und Authentizität" verdanke. Das Theater werde zum "Content-Merger", zum "Volksempfänger". Gleichzeitig hätte der Wettbewerbsdruck zugenommen – der Regisseur müsse zum Originalgenie werden, dafür schärfe er sein Markenprofil, die Arbeiten werden wiedererkennbar, sprich: verwechselbar, womit wiederum das Neuheitsgebot des Marktes verletzt wird.
Dieses Dilemma werde, so schließlich die historische Conclusio, von Poeten wie Dokumentaristen aufgelöst, indem sie sich wieder als Medien verstehen und alle Widersprüche in ihr Selbstbild eingemeinden würden. Das Geburtstrauma des Künstlers in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, sich nämlich als Sprachrohr einer Muse zu verstehen, sei damit jedoch nicht überwunden. Der Künstler habe "bloß den Arzt gewechselt. Kein Gott gibt ihm zu sagen, wie er leidet, sondern das Telefonbuch von Hamburg. Und statt Kirchenglocken läutet nur das Handy des 'Erwählten'".
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Auch beim Nachlesen im Original bin ich, muss ich zugeben, nicht schlauer geworden.
Authentizitätssucht ist eine Behauptung, das hab ich verstanden. Jelinek hm hm hm - authentizitätssüchtig? Also ich weeß et nich'.
Sehr merkwürdig der Herr Schmidt. Zurecht schreibt Oliver Bukowski: zuletzt sitzen sie doch alle da und schreiben was auf.
Ist eigentlich Herr Dennoch noch unter den Lesern?
Vielleicht kann der mir das erklären ...?
Herzlich
Daniel Buteiro
ja, ich bin noch unter den Lesern. Aber natürlich doch! Nur: im Stress, und deshalb war hier Schweigen. Habe aber Bukowski gelesen - und ich muss sagen: oh weh! Was ist denn das? Vertsteckspielschreiben.
E.D.
Lieber Herr Dennoch, Bühnentexte zu schreiben UND sich versteckt/ bedeckt zu halten ist nicht möglich. Ich glaube, Autoren veröffentlichen mit ihren durchschnittlich 40-60 Seiten Text (pro Manuskript) mehr von sich, als Sie mit Beitragsschnipseln zu einer Metadiskussion. Wieso sollten sie, die Autoren, also auch noch interpretieren? Sollten Sie nicht den STOFF für die Interpretation liefern, wie old Dürrenmatt schon sagte. Herzlich
Ihr Oliver Bukowski
das glaube ich auch. Dass Autoren mit ihren Texten mehr veröffentlichen als zum Beispiel ich mit einem Beitragsschnipsel. Aber das ist ja nun ein schönes Missverständnis. Denn ich meinte mit Versteckspielschreiben NICHT die Autoren (zum Beispiel nicht Sie als Autor), sondern Ihren Essay zur Frage, was ein Drama zum Drama macht - und da scheint es mir, als drückten Sie sich merkwürdig defensiv (und sehr elegant) vor der Frage, indem sie auf eine Autoren-Typologie ausweichen. Ist DAS die Antwort auf DIESE Frage? Des Geheimnis Rätsel liegt also nach wie vor beim Autor, frei nach: Frag den Dichter, er wird auch nicht wissen, was seine Dichtung bedeuten soll? Neinnein, die Autoren sollten - um Gottes Willen! - nicht interpretieren, vor allem nicht ihre eigenen Texte. Aber wieso deuten SIE die Autoren und nicht die Texte, das Theaterereignis meinethalben? Sind wir da nicht durch die Hintertür wieder bei dem schlimmen Dilemma mit der Werktreue - da gehts ja auch immer um: Was wollte Herr Schiller uns sagen statt was sagt der Text von Herrn Schiller?
Ebenfalls herzlich,
Dennoch.