Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Über die leidgeprüfte Figur des Kritikers
Das Leuchten unter dem Schrott
21. März 2023. Die Figur des Theaterkritikers ist stets gefährdet. Von den Zeiten der Majestätsbeleidigung bis in die Gegenwart. Denn Kritik ist antiautoritär. Sie gibt dem Leiden wie dem Lieben im Parkett eine Stimme – und praktiziert so liberale, bürgerliche Freiheit.
Von Esther Slevogt
21. März 2023. Jetzt muss ich doch noch mal auf die Figur des Kritikers zurückkommen, respektive der Kritiker*in, beziehungsweise auf die Rolle dieser Figur im Parkett, im Dunkel des Zuschauerraums. Und in dem Raum, den man einmal Öffentlichkeit nannte und wo eben diese Kritikerfigur – lange tatsächlich ausschließlich männlichen Geschlechts – ihre Stimme erhob: quasi als Vertreter all jener anderen, die unerkannt aus dem Dunkel des Zuschauerraums nach Hause gingen, um dann bald aus dem Medium ihres Vertrauens mit der Kritik Material für die eigene Urteilsfindung zu erhalten. Vielleicht hatte ja der Kritiker tatsächlich Worte gefunden, die das eigene Empfinden über den Abend auf den Punkt bringen konnten, ja, Worte und Gedanken dafür anzubieten hatte. Oder eben mit den vorgebrachten Haltungen einer Aufführung gegenüber eine Fläche bereitete, die auch Platz für gegensätzliche Meinungen bot, eine Reibungsfläche vielleicht sogar. Und im besten Fall Menschen dazu empowerte, sich selbst eine Meinung zu bilden.
Errungene Kunstliebe
Denn es ist keinesfalls so (wie zuletzt so gern behauptet), dass es sich bei den Mitgliedern dieser Zunft um besonders gemeine Exemplare der Spezies Mensch handelt, die von morgens bis abends (und besonders nachts!) von nichts anderem getrieben werden, als dem Verlangen, Künstlerinnen oder Künstler zu beleidigen und ihre Arbeit niederzumachen. Vielmehr handelt es sich in der Regel schon immer um besonders kunstliebende und dabei auch ungemein leidensfähige Menschen, die tausend Stunden Schrott erdulden für eine einzige Sekunde Theaterglück oder einen winzigen, erkenntnisstiftenden Moment. Ich zum Beispiel könnte meinen Beruf nicht ausüben, wenn ich die Hoffnung darauf nicht jedes Mal mit ins Theater brächte. Und die mir dort so oft um die Ohren gehauen wird, mit Schlampigkeit, Gedankenarmut oder Desinteresse am verhandelten Thema, Kunstbeamtentum und einfältigen Abarbeitungen an aktuellen Fördermode-Themen.
Dabei ist es nicht so, dass mich niemals Zweifel befielen, wenn etwa das Premierenpublikum jubelt, während ich mir verwundert die Augen reibe, über das Treiben auf der Bühne, das dem Schlussapplaus vorangegangen ist. Wenn ich gerade noch einer geschätzten Künstlerin gegenübersaß und dann die neue Arbeit so hinter allen Erwartungen zurückgeblieben ist. Trotzdem braucht es die Behauptung und öffentliche Verhandlung von Kriterien für die Kunst. Es halten außerdem nicht nur die Künstler*innen, sondern auch die Kritiker*innen öffentlich Namen und Gesicht dafür hin – die in dieser Konstellation auf eine lange gemeinsame Geschichte blicken können, die auch die Geschichte des Aufstiegs der Theaterkunst zum Selbstverständigungsmedium des Bürgertums wurde – woraus diese Kunstform stets ihre Relevanz bezog.
Straftat: Majestätsbeleidung
Der Kritiker, und eines späten Tages in der Geschichte dieser Zunft dann schließlich auch die Kritiker*in, ein role model für das Bürgertum in der sich ausbildenden bürgerlichen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Als auch die Zeitungen entstanden, in denen bürgerliche Kritiker Produktionen der Hoftheater öffentlicher Begutachtung unterzogen – die sogenannte Theaterfreiheit, also dass jeder Mensch ein Theater gründen und dort auch anspruchsvolle Stücke spielen durfte (solange die Finanzierung gesichert war, die natürlich aus eigener Tasche zu erfolgen hatte, während die Hoftheater weiterhin aus der Staatskasse finanziert wurden), gab es ja erst seit 1870. Vorher war das ein Fürstenprivileg und Kritik daran, Theaterkritik eben, konnte da schon mal in den Bereich der Majestätsbeleidigung fallen – weshalb die Zensurgesetze jener Jahre auch genau festlegten, was wann kritisiert werden durfte – nämlich erst die dritte oder noch eine spätere Vorstellung gar, öffentlicher Begutachtung unterzogen werden durfte.
Das goldene und das braune Zeitalter der Kritik
All das ist lange her. Dazwischen ereignete sich das, was wir immer noch als das Goldene Zeitalter der Kritik glorifizieren: als sich, befördert auch vom Boom der Zeitung als Massenmedium und des Anzeigenwesens, das diese Entwicklung wesentlich mitbeförderte und vor allem mitfinanzierte, der Kritiker (er war im wesentlichen noch immer männlich), sich zum gefeierten Player im Spiel zwischen Theater und Öffentlichkeit erhob, Theaterschlachten zuallererst Schlachten des Feuilletons waren – deren Generäle Namen wie Alfred Kerr, Herbert Ihering, Otto Brahm oder Siegfried Jacobsohn trugen. Bis dann im November 1936 die Anordnung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda über Kunstkritik erschien und Kunstkritik gesetzlich verboten wurde: unter anderem, weil sie als zersetzend und Ausdruck jüdischer Kunstüberfremdung angesehen wurde. Statt Kritik war jetzt nur noch öffentliche Kunstbetrachtung gestattet.
"Der deutsche Kritiker von heute und morgen hat eine höchst produktive und positive, nicht nur eine analytische Aufgabe zu lösen", hatte schon 1933 der Kritiker Hans Severus Ziegler geschrieben (der 1938 dann die Ausstellung "Entartete Musik" organisierte) und das Ende der "geistige(n) Freizügigkeit und individualistische(n) Willkür" des liberalistischen Zeitalters gefordert, in der die Kritik die Meinung über Kunstwerke und Künstler machte, statt "Mittler, Anreger und Propagandist und endlich pädagogischer Führer in das Kunstwerk hinein oder doch wenigstens an das Kunstwerk heran" zu sein (zitiert nach Wulf, Joseph, "Theater und Film im Dritten Reich", Gütersloh 1964, S. 79.).
Das nur einmal zur Erinnerung (und vielleicht auch Mahnung) an alle Kritikverächter, Häufchenwerfer und jene, die solchem Reden und Tun mit klammheimlicher Freude innerlich Beifall klatschen, in welcher Gesellschaft sie sich damit befinden.
Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben
Esther Slevogt
Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
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Man könnte sich Mühe geben und sachlich, analytisch und nachvollziehbar darlegen, warum eine Inszenierung den eigenem Anspruch an Theater nicht entspricht - denn Theater ist ja stets eine kollektiv Erfahrung, und eventuell sehen es diverse Menschen im Publikum anders. Und auch deren Seherfahrung ist "richtig" - es gibt keine Wahrheit in der Rezeption von Theater sondern nur Individualerfahrungen. Aber Frau Slevogt reibt sich ja lieber die Augen vor Verwunderung, was der Pöbel, das Publikum so beklatscht. Welch Hybris!
Es gibt zwei Arten Publika: Das reale und das mögliche. Beide erhalten keine Material für ihre Urteilsfindung über ein von ihnen geschautes Theater. Das erste erhält - möglicherweise - Material zur eventuellen, vergleichsweisen Prüfung seiner eigenen Urteilsfindung. Und das zweite erhält Material zur eventuellen Prüfung seiner bisherigen Entscheidung, lediglich ein mögliches Publikum zu sein. -
In der Tat: Kritiker-Hybris, anderes anzunehmen. Trotzdem halte ich sie- anders als martin baucks (der wieder einmal einen wunderbaren Kommentar geschrieben hat, wie ich finde!) - die Kritiker, für ebenso nötig wie Publika. Ich meine, für eine wirkliche Demokratie...
Vielleicht sollten die KritikerInnen darüber nachdenken, ob es eventuell auch bei ihne zwei Arten gibt: Die, die mit und die, die ohne Hybris an ihre Arbeit gehen?
Bleibt die Frage: Kann man das alles SEHEN und WAHRNEHMEN an einem Theaterabend, selbst als ungeübter realer oder gar lediglich möglicher also fiktiver Zuschauer? Oder nur als KritikerIn?
Ich würde behaupten: Jein.
Schlampigkeit kann man: Schlechte Verständlichkeit von Gesungenem oder gesprochenem, nachlässige Bühnenausleuchtung, Sachen, die ganz offenbar nicht so funktionieren, wie das eigentlich geprobt funktionieren sollte, unabsichtlich uneindeutige Dramaturgie u.a. -
Gedankenarmut kann man nicht sehen, aber während der Vorstellung des Inszenierten spüren. Spürt man sie, langweilt man sich. Nicht nur Kritiker tun das, sondern jeder Mensch. Schlampigkeit kann man noch interessant finden und seine Wahrnehmung daran spazierenführen, bei Gedankenarmut geht das nicht.
Desinteresse am verhandelten Thema kann man als KritikerIn vielleicht sehen oder spüren, als Publikum nicht, weil man einem Theater, das meint, es "verhandele" spezifische Themen, schon beim zweiten Mal, wo es einem unterkommt, fernbleibt. Das vermeintliche "Verhandeln"müssenwollenkönnen von spezifischen Themen ist sehr eng verwoben mit ebenfalls schrott-reifem Kunstbeamtentum und auch der Einfältigkeit (das ist dann nicht mehr Gedankenarmut, sondern Gedankenlosigkeit), Theater kannsolltemuss sich an Fördermode-Themen abarbeiten und gleichzeitig die Hütte mit mannigfaltigem Volk voll kriegen.
Die Schrott-Kriterien von Frau Slevogt sind also nur bedingt herrührend aus einer Theater-Beurteilung: Schlampigkeit und Gedankenarmut. Das dritte Schrottkriterium entstammt eventuell nur einem Irrtum über die vermeintlichen Aufgaben von Theater. Die beiden letzten Schrottkriterien gehören jedoch eher in die Kategorie Gesellschaftskritik, die sie schlau der Theaterkritik nur unterjubelt und nur sie selbst wird wissen, warum sie dazu kolumnistisch veranlasst ist. ?.
Eine gute Übung in der Befreiung von oktroyierten Bezugssystemen - sowohl für beide Arten von Publikum als auch für alle Arten von Theatermenschen und KritikerInnen, ist das Lesen von Lyrik allgemein und die dramaturgisch begründete Anwendung von Lyrik in Dramen.
Möglicherweise würde hier ein neuer Übungsfleiß zunächst das Verhältnis zwischen (Theater)Kunst und (Theater)Kritik noch weiter verschärfen als bisher im Moment, aber das Verhältnis zwischen Publika und Theater könnte sich dadurch eventuell sehr entspannen und zu einer neuen Hochzeit der Liebe zueinander führen!
Die Behauptung, „[…] daß das Publikum seit Jahre schwindet.“ bedarf einer Grundlage. Die Zahlen jedenfalls sagen etwas anderes. Das ist eine populistische Behauptung und sollte laut der Kriterien die Nachtkritik sich selbst gibt, nicht veröffentlicht werden.
https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=22076:buehnenverein-auslastungszahlen-sind-gestiegen&catid=126&Itemid=100890
(Anm. Redaktion: Es kommt auf den Zeitraum der Betrachtung an. Seit den glorreichen 60ern und 70ern sind die Zahlen in BRD und DDR kontinuierlich gesunken. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9072:debatte-um-die-zukunft-des-stadttheaters-viii-ulf-schmidts-vortrag-zum-agilen-theater&catid=101&Itemid=84)
"Ich kam aus dem Theater. Es regnete. Ich dachte, auch das noch."
"In der Ecke stand ein eiserner Ofen, der vorgab, der Herzog von Alba zu sein."
"Als ich um halb Elf auf die Uhr sah, war es immer noch halb Neun."
Nur drei Zitate des unvergleichlichen Alfred Kerr. Was würde ihm wohl heute blühen, wo offenbar noch Samthandschuhe als zu grob für künstlerische Seelen empfunden werden. Aber wundern muss es einen nicht. Wenn, wie an den Münchner Kammerspielen, Fragen nach der Auslastung (zum Zeitpunkt des Interviews gerade einmal mehr als 50%) mit der Bemerkung der Intendantin abgebügelt werden, man habe schließlich anderes zu tun, als sich um die Auslastung zu kümmern, dann kommt nämlich noch eines zur Verachtung der Kritik hinzu. Die Verachtung des Publikums, so es denn die eigene Weltsicht nicht teilt. Vielleicht ist dem Theaterbetrieb eben doch zuzumuten, die Nase mal aus der eigenen Blase zu stecken, gern auch in eine (zumeist ja noch) kenntnisreiche Kritik.
Ich glaube nicht, dass es im Wesentlichen um Empfindsamkeit geht, sondern darum, dass die Theaterkritik immer noch die selbe Position einnimmt, wie früher der Regisseur zur Zeiten des männlichen Regietheaters. Genauer gesagt, hat sich die Theaterkritik nie von sich selbst emanzipiert.
Mag sein. Aber stellen Sie sich einmal vor, die KritikerInnen würden als diverses Kollektiv eine Veranstaltung besuchen und, wie in einem Theaterensemble, gemeinsam eine Kritik mit sich widersprechenden Urteilen verfassen! Was für ein Wahnsinn! Was für ein geiler Scheiss!
Sie schreiben: "Die Abwesenheit der herkömmlichen Kritik ist das Ziel. Sie kann komplett ersetzt werden, durch einen digitalen Austausch der ZuschauerInnen in verschiedenen Foren und auf Plattformen, welche die Theater zur Verfügung stellen sollten." In Stuttgart gibt es das schon:
https://www.schauspiel-stuttgart.de/dialog/zuschauerkritiken/
Wollen Sie durch so was wirklich die professionelle Kritik ersetzen? Horror!
„Herkömmliche Kritik“! Ich schrieb „herkömmliche Kritik“. Haben Sie denn überhaupt keine Phantasie, wie sich Kritik noch gestalten und an die neuen Auffassungen anpassen könnte?