Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Nicht jedes Theater passt überall hin
Empfindliche Systeme
12. September 2023. Was ein Hit ist oder ein Flop im Theater, hängt nicht nur von der Klasse der Kunst ab, sondern auch – ganz entscheidend – davon, vor welchem Publikum gespielt wird. Das gilt sowohl für Stücke als auch für designierte Intendant:innen.
Von Wolfgang Behrens
12. September 2023. Ein unglaubliches Vierteljahrhundert ist es nun her, und es war einer jener Abende, an denen man bald ahnte – nein: wusste, dass man etwas Epochalem beiwohnte. Es handelte sich zwar nur um eine öffentliche Generalprobe, aber immerhin: Christoph Marthaler führte Regie, erstmals zudem bei einer Operette von Jacques Offenbach, und erstmals würde er sich mit diesem "Pariser Leben" dem Wiener Publikum vorstellen, also dem besten Theaterpublikum der Welt. Die bewusste öffentliche Generalprobe fand allerdings noch an Marthalers damaligem Stammhaus statt, der mit den Wiener Festwochen koproduzierenden Berliner Volksbühne.
Schöner Schein und schäbiges Sein
Marthaler entschied Offenbachs Spiel zwischen schönem Schein und schäbigem Sein ziemlich schnell zugunsten des Letzteren, was die Aufführung ins herrlich Randständige abdriften ließ. Das Publikum feixte und feierte, Matthias Matschke und Graham F. Valentine jaulten um die Wette, Sophie Rois sang rau und zerbrechlich wie nie, und das alles war musikalisch eingehüllt in eine widerborstig-witzige Instrumentation, die der Dirigent Sylvain Cambreling eigens für das Klangforum Wien angefertigt hatte. Schon zur Pause hatten Marthaler und sein Ensemble das Publikum völlig auf ihrer Seite: Der (diesmal nur zuschauende) Schauspieler Bruno Cathomas etwa applaudierte so ausdauernd und aufgekratzt, dass sich seine Sitznachbarn irgendwann zu dem an ihn gerichteten Hinweis genötigt sahen, dass es noch einen zweiten Teil geben werde. An dessen Ende dann: grenzenloser Jubel. Und das Team konnte mit dieser Generalprobe im Rücken in der fröhlichen Gewissheit nach Wien reisen, einen sicheren Erfolg in der Tasche zu haben.
Wen freilich wundert's? Natürlich kam alles ganz anders. Schon in die ersten musikalischen Nummern der Premiere ertönten böse Zwischenrufe, ein paar fürwitzige Zuschauer imitierten hämisch den von einigen Darstellern im Grunde doch so hinreißend zelebrierten Nicht- bzw. Halb-Gesang, im Parkett schüttelte Großregiefaktotum Otto Schenk traurig den Kopf, und das Ganze endete schließlich im Debakel: Das Wiener Publikum buhte Marthaler gnadenlos aus. Und in den auf die Premiere folgenden Vorstellungen wurde es nicht besser – Abend für Abend kämpfte das Ensemble gegen ein missgelauntes und missgünstiges Auditorium an, das zu allem Überfluss eine deutliche Tendenz zur Abwanderung an den Tag legte. Um eine ernüchternde Erfahrung reicher kehrte die Truppe nach Berlin zurück, wo man den offensichtlich doch etwas verunglückten Abend nun auch noch einige Male zeigen musste. Aber hey, wem sage ich das?, mit der Berliner Premiere kehrte der Erfolg zurück. Nach jeder einzelnen Aufführung tanzte das Berliner Publikum vor Freude auf den Sitzen – und zu guter Letzt bekam Marthaler für "Pariser Leben" auch noch den Friedrich-Luft-Preis verliehen.
Operette oder Marthaler?
Diese kleine Geschichte veranschaulicht eine Binse: Theater (bzw. verallgemeinert: Kunst) ist nicht losgelöst vom Ort zu denken. Natürlich wäre es ein Leichtes zu sagen: Das Publikum wenigstens einer der beiden Städte muss verblödet gewesen sein. Entweder waren die Wiener zu vernagelt, sich der Großartigkeit von Marthalers Inszenierung zu öffnen, oder die Berliner waren zu verblendet, ihre Mediokrität zu bemerken. Tatsächlich aber war die Produktion schlicht auf unterschiedliche Rezeptionsvoraussetzungen getroffen, welche die jeweiligen Reaktionen durchaus als legitim erscheinen lassen. Schon der Erfahrungsgegenstand Operette dürfte in Berlin und Wien durchaus nicht auf dieselbe Weise konstituiert sein. Hinzu kommt, dass man damals an der Berliner Volksbühne in der Ästhetik Marthalers bereits geschult war; die Operette kam nur als neue Facette in Marthalers Œuvre hinzu. Und die Facette gefiel. In Wien hingegen beurteilte man nicht die Operette als neuen Marthaler, sondern den Marthaler als eine neue Operetten-Inszenierung. Und die fiel – möglicherweise sogar begründet – durch.
Warum mir diese alte Geschichte dieser Tage wieder einfällt? Weil ich manchmal erstaunt bin, wie sehr in manchen Köpfen, seien sie aus der Politik, der Kritik oder sonstwoher, die Vorstellung herrscht, dass Erfolg grundsätzlich verpflanzbar ist. Wenn dabei jedoch lokale Besonderheiten beherzt ignoriert werden, kann das mitunter verheerende Folgen haben.
(Miss)erfolg ist nicht absolut
Kürzlich etwa las ich im Kommentar des Users "Colt" auf nachtkritik.de zur Causa Kay Voges, der als Intendant vom Wiener Volkstheater nach Köln wechseln wird, Folgendes: "Welchen Sinn macht es, einem Mann, der kein großes Haus füllen kann, ein großes Haus zu geben?" Das zielt darauf ab, dass Voges' Theater ähnlich wie vor 25 Jahren Marthalers Offenbach am Wiener Publikum gewissermaßen abprallt. Man könnte indes die Frage auch umkehren: Wieso glaubte man, dass ein Mann, der in Dortmund innovatives Theater und neue Publikumsstrukturen zu schaffen in der Lage war, ausgerechnet am Wiener Volkstheater der richtige Mann sei? Wenn man auf die Bedürfnisse der jeweiligen Städte schaut, dann kann einen schon der Verdacht beschleichen, dass Voges eher in Köln als in Wien ein großes Haus füllen wird.
Theater und ihre Publika sind halt empfindliche Systeme – das hat Marthaler 1998 bereits nachdrücklich gezeigt. Wenn jemand in Berlin erfolgreich ein Theater leitet, kann sie oder er trotzdem in München oder Wien grundfalsch sein. Und die Umkehrung gilt auch: Der Misserfolg beim Publikum der einen Stadt zieht keinesfalls zwangsläufig den in einer anderen Stadt nach sich. Dass Theater in verschiedenen Städten verschieden funktioniert, ist beileibe keine große Erkenntnis. Behielte man sie jedoch im Hinterkopf, könnte es wohl manchem Theater besser gehen.
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