Medienschau: Republik – Analyse zeitgenössischer Ästhetiken
Provokation ist out
Provokation ist out
10. Mai 2023. Zuletzt standen mehrere Theaterleitungen in der Kritik, weil sie – so der Vorwurf – mit ihren politisch grundierten Programmen das Publikum verschreckten. Der Kritiker Tobi Müller widerspricht dieser Darstellung. Tatsächlich halte sich das Theater politisch heute sehr zurück.
"Weder lässt sich eine neue Biederkeit beobachten, noch wird man ständig belehrt, wie man politisch korrekt zu denken habe. Der Kulturkampf im Theater ist eine Phantomdebatte", schreibt Müller im Schweizer Magazin Republik.
Das aktuelle Theater lasse sich grob in zwei Ästhetiken einteilen. "Die einen halten an der scharfen Provokation und an der Kritik von der Bühne herab fest: Kunst muss wehtun, provozieren, herausfordern! Die andern wollen niemanden vor den Kopf stossen, richten das Augenmerk auf das Miteinander und geben dabei die Hoheit der Interpretation ab. Das sind die zwei Schulen: die harten Kritikerinnen und die weichen Vernetzerinnen. Das Spiel ist aber schon so gut wie gelaufen zugunsten Letzterer."
Im Vergleich zu den Neunziger- und Nullerjahren gehe das Schauspiel heute deutlich vorsichtiger auf sein Publikum zu. "Die Welt wurde laut in diesem Theater, sie blieb ungerecht, und die Besten der Neunzigerjahre knallten das dem Publikum auf schmerzhafte (und manchmal sehr lustige) Art und Weise vor den Latz. Heute würde ihr Ton an jenen der Schreihälse erinnern, die jedes soziale Medium zur Hölle machen."
Das Theater der harten Provokation und der politischen Parteinahme finde inzwischen keinen Zuspruch mehr. "Es wurde von der Realität überholt."
(Republik / miwo)
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"Die einen halten an der scharfen Provokation und an der Kritik von der Bühne herab fest: Kunst muss wehtun, provozieren, herausfordern! Die andern wollen niemanden vor den Kopf stossen, richten das Augenmerk auf das Miteinander und geben dabei die Hoheit der Interpretation ab."
Man möcht sagen: Die einen also kritisch bis zur Wokeness. Die anderen "neoklassisch brav", neubiederlich - oder nicht? "Sog statt Message, Eintauchen statt Reflektieren" schreibt Tobi Müller über die Arbeit des nicht mit Matthias zu verwechselnden Sebastian Hartmann. Ein "Theater der Versammlung, nicht der Verstörung" sei dieses Vernetzerinnen-Theater, das "das das Publikum in seine Mitte nehmen will." Denn welche fünfzigjährige Stimme hat schon "Lust, im Theater abends noch mal das Gleiche zu sehen, das tagsüber im Telefon lärmt?"
Tobi Müller sieht große Gefahr durch das kritisch woke Theater "Die politische Polemik ist heute nicht mehr cool, sondern sie gefährdet das demokratische Zusammenleben." Vielleicht wäre es für Herrn Müller doch an der Zeit, eine freie Mitarbeiterschaft bei den "ältere(n) Stimmen über fünfzig von der «Süddeutschen Zeitung» über die NZZ bis zur «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» " anzustreben. Wobei: dort wird das politische Theater noch ernst genommen und bekämpft. Herr Müller hingegen ist quasi schon in der Postwokeness angekommen: "Das Theater der harten Provokation und der politischen Parteinahme findet keinen Zuspruch mehr. Es wurde von der Realität überholt." Welches Theater genau wurde da überholt? Herr Müller führt eine Arbeit von Oliver Frljić an, die ihm nicht zugesagt zu haben scheint. Eine. Beweist die Überholtheit des politischen Theaters. Eine. Der gegenüber allerdings die Bühnenversion vom "Herren der Ringe" unbedingt zu feiern ist. Der Herr der Ringe. Ja. Klar. Und warum? " In solchen Räumen mit gemeinsamer Urheberschaft steht eine stabile Deutung oder gar ein politisches Programm nicht mehr zur Debatte." Welche unter 50-jährige Stimme hat eigentlich Lust, Filme, die man schon auf dem Telefon gesehen hat nochmal im Theater zu sehen? Egal. (By the way: Nichts gegen Zürich!)
"Isch over" sagte Wolfgang Schäuble über Donald Trump - und irrte sich. "Von der Realität überholt" sagt Tobi Müller über politisches Theater und irrt sich. Dass die stehenden Schaubühnen des Landes aus Sorge um Auslastungszahlen ein wenig brav-kuscheliger in der Programmgestaltung werden - man mag es konstatieren. Die Meldung vom Tod eines kritisch-politischen und woken Theaters käme allerdings durchaus verfrüht.
Die progressiven Stimmen unter 50, die mit einem unbewohnbar werden Planeten konfrontiert sind, mit zunehmend rechten und autoritären politischen Strömungen im In- und Ausland, mit stetig zunehmenden rechten bis neofaschistischen Regierungen auch in Europa, mit einer Abschaffung des Menschenrechts auf Asyl in der nobelbepreisten EU, mit neoliberal verrotteten Schulen, Universitäten, Gesundheitseinrichtungen, ja selbst einem kaputtgesparten Militär, mit nicht mehr bezahlbarem Wohnraum und was noch alles mehr hier zu sagen wäre - die progressiven Stimmen werden ihre Kritik auch zukünftig auf die Bühne bringen. Und ihre "weltanschaulich aufgeladene Kunst". Auch wenn es den geübten Telefon-Gucker über 50 ein wenig stört.
Wenn man Ihrer Argumentation folgt, dürften Sie dann allerdings nicht mehr ins Theater gehen - geschweige denn selber dort tätig sein. Sollten Sie einen Theaterberuf haben, dann lägen theoretisch noch 15 Jahre bis zur Rente vor Ihnen, aber vielleicht beginnen Sie lieber jetzt schon ein Zweitstudium/ eine Lehre. Denn ab 50 Jahren versteht man nichts mehr vom Diskurs und sollte schon an der Kasse raus gefischt bzw. vom Pförtner rausgeworfen werden.
Oder mal ohne Ironie: Was Sie schreiben, ist antiwoke Altersdiskriminierung.
Die Üfünfziger sind die Generation, die einen gewaltigen Teil des Schadens angerichtet haben. Nicht immer im Sinne persönlicher politischer Verantwortlichkeit, aber doch als (Mit-)verursacher*innen durch eine Lebensweise, die bereits zu unserer Schulzeit als nicht nachhaltig und nicht vertretbar klar bekannt war.
Jetzt in den Theatern die Neubiederlichkeit als "siegreiche" Theaterform zu verkünden, die "weichen Vernetzerinnen", die "niemanden vor den Kopf stoßen" und die "die Hoheit der Interpretation abgeben" aufs Siegerpodest zu rücken, ist für Üfünfziger eine zu leichte Flucht. Ich stoße mich gewaltig an Tobi Müllers Fazit: "Das Theater der harten Provokation und der politischen Parteinahme findet keinen Zuspruch mehr. Es wurde von der Realität überholt." Nein. Ich fürchte, das wurde es nicht. Das mögen (einige von uns) Üfünfziger sich wünschen. Die Letzte und alle weiteren Generationen im Theater könnten das anders sehen. Und das mit Fug und Recht. Denke ich als Üfünfziger. Vielleicht muss ich mich irgendwo auf einer Bühne festkleben gehen.
P.S. "antiwoke"? Ich? Sorry, but: no! Ich bin Prowoke!
Ich musste vor kurzem bei uns im LTT lachen, als einige mich wiederholt als „alten weißen Mann“ bezeichneten. Als ich nachfragte, warum, sagten sie, sie hätten „alerter weiser Mann“ gesagt. - Lass mir jetzt ein Hörgerät geben.
Es ist gut, weil es schlechter sein könnte?
Steile These.
Aber leichtes Leben.
@thorsten weckherlin - ja, richtig. Das hatte ich noch vergessen, dass es unsere Generation war, die den Gedanken durchgesetzt hat, die Gesellschaft sei im Wesentlichen ein Geflecht von Wettbewerben und nicht von Kooperationen. Was dazu führt, dass es in kontroversen Debatten darauf ankommt, Tore zu schießen anstatt aus dem Austausch verschiedener Perspektiven zum gemeinsamen Erkenntnisgewinn zu kommen.
Ich ziehe aus dieser für mich jetzt endenden Debatte jedenfalls das Fazit, dass ich meine Theaterbesuche noch stärker auf politisch prowokative Abende konzentrieren werde. Mir sind noch viel zu viele Fragen nicht offen.