Medienschau: Diverse Stimmen – Zum Hundekot-Eklat in Hannover

Was ist eigentlich los? 

Was ist eigentlich los? 

15./16. Februar 2023. Der Hundekot-Angriff von Marco Goecke, dem seither suspendierten Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, auf die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster beschäftigt dieser Tage viele Medien. 

Einigen Stimmen gibt er (auch) Anlass, darüber nachzudenken, ob der Skandal als bezeichnend für ein überhitztes Verhälltnis von Kritik und Kunst gesehen werden kann. "Was ist eigentlich los?", fragt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (13.2.2023) und verweist im Hundekot-Kontext auch auf die Aussage von Hamburgs Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier, die Kritik sei die "Scheiße am Ärmel der Kunst". "Toxisch" sei das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik immer gewesen, meint die Autorin. "Doch wenn der Eindruck nicht täuscht, hat die Kritik an der Kritik, haben das offensive Bashing und die Herabwürdigung von Rezensenten in den letzten paar Jahren zugenommen", so Dössel. Das liege (auch) daran, dass beide Seiten um "Relevanz kämpfen". Es spiele das "geschwächte Renommee" der Kritiker:innen ebenso eine Rolle, wie die Selbstdarstellung der Bühnen in den digitalen Medien, die professionelle Kritik für manche überflüssig mache. Kunst brauche das professionelle Gegenüber. Hüsters Recht auf körperliche Unversehrtheit sei von Marco Goecke grob verletzt worden, und negative Kritiken müsse ein Künstler aushalten können – allerdings nehme es die Kritikerin Hüster mit dem "Berufsethos" hinsichtlich der Trennung von journalistischen und PR-Jobs auch nicht immer genau, schreibt Dössel. Klar sei aber auch, dass Marco Goecke sich als Führungskraft des Balletts Hannover disqualifiziert habe. "Nicht die Kritik hat Marco Goecke erledigt, er selbst war es."

In der taz (13.2.2023) kommentiert Benno Schirrmeister den Vorfall mit deutlichen Worten: "Vor allem muss man kein Prophet sein, um zu sagen: Mit der Aktion hat der Künstler Goecke verkackt. Für immer. Es ist ohnehin rückblickend fragwürdig, wie jemand, der seine Aggressionen gegenüber einer Frau offenbar so hemmungslos öffentlich auszuleben bereit ist, mit ihm anvertrauten jungen Tän­ze­r:in­nen so lange so unfallfrei und so ergiebig hat zusammenarbeiten können." Auch habe Goecke den beiden anderen Choreographen, die an der Produktion "Glaube, Liebe, Hoffnung" in Hannover beteiligt waren, durch seine Aktion geschadet. "Offenkundig" sei, dass Hüster Goeckes Ideen und Stil abgelehnt habe. "Was der Wert einer Kritik ist, die mechanisch eine Ablehnung wiederholt, darüber hätte man vor dem Attentat diskutieren können." 

Im Deutschlandfunk Kultur kommentiert Tobi Müller (12.2.2023) in der Sendung Fazit den Fall mit dem Verweis darauf, dass nicht alle Kritiker:innen ihren Gegenstand "mögen" – grade in der FAZ, für die auch Hüster arbeitet, haben Stimmen Tradition, die zeitgenössische Entwicklungen doof finden, so Müller. Aber: "Medien, die sich eine zumindest fachliche Kritik leisten, sind im Rückzug", betont der Autor. Theaterhäuser verlieren laut Müller die Routine im Umgang mit Kritik, während die Kritiker:innen "zuweilen die Lautstärke erhöhen". All das entschuldige den Ausraster in Hannover in keiner Weise. Die alte Abneigung werde heute weniger von "Höflichkeit eingehegt".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentiert Herausgeber Jürgen Kaube die letzte Einlassung von Marco Goecke, in der er sich für seine Aktion öffentlich entschuldigt – und im selben Statement Hüsters Kritiken stark kritisiert. "Die Tanzkritikerin dieses Feuilletons, Wiebke Hüster, hat seit 2006 ganze neun Werke von Herrn Goecke besprochen, der jetzt so tut, als sei sie ihm auf Schritt und Tritt mit böser Absicht hinterher gewesen", schreibt Kaube. Zweimal habe Hüster den Choreographen enthusiastisch gelobt. Siebenmal sei sie hingegen kritisch gewesen, habe sich gelangweilt in seinen Stücken, seine Neigung, die Tänzer zittern zu lassen, nicht interessant gefunden. "Tatsächlich geht es bei den Vorwürfen Goeckes um etwas anderes. Marco Goecke bläst den Popanz einer persönlich auf ihn fixierten, durchweg (außer zweimal) negativ eingestellten und ihn (alle zwei Jahre) verfolgenden Kritikerin auf, damit die Öffentlichkeit trotz seiner widerlichen Hundekot-Attacke Verständnis für ihn aufbringe", so Kaube.

Auf ihrem Twitter-Kanal schreibt Autorin Sibylle Berg: "#hundekot Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles aber-shit happens. #MarcoGoecke ist einer der überragenden Künstler in D- ihn zu verlieren wäre ein riesiger Verlust- macht ne Therapie,gebt euch die Hand."

Im NDR (14.2.2023) äußert sich Marco Goerke zum Vorfall und schildert sich als verletzten Künstler (mit Video von einer Minute Länge).

Bei 3sat (14.2.2023) spricht FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster über den Vorfall: "Ich bin über meine eigene Resilienz, ehrlich gesagt, ziemlich erstaunt. Und diese breite Medienreaktion begreife ich als Unterstützung."

"Wer als Kritiker geliebt werden will, soll einen Streichelzoo installieren", kommentiert Jean-Martin Büttner im Tages-Anzeiger (€, 15.2.2023) mit Blick auf die Relevanz von Kritik im Allgemeinen: "Das Lob ist schön, aber nur die Kritik ist nützlich. Denn Kritik kommt vom Altgriechischen und bedeutet als Verb: urteilen, richten. Also muss die Kritik über Kompetenz und Autorität verfügen. Wer als Kritiker geliebt werden will, soll einen Streichelzoo installieren. Journalismus heisst, wie die Amerikaner es nennen, «telling truth to power», den Mächtigen die Wahrheit sagen."

Im Berliner Tagesspiegel (15.2.2023) kommentiert Rüdiger Schaper leicht glossenhaft: "Nun liest sich der Hüster-Verriss gar nicht so außergewöhnlich schlimm. Goeckes Überreaktion ist allerdings überaus eklig, geht weit über verbale Attacken hinaus und schadet auch ihm selbst. Doch das ist ebenso klar: Kritiken können verletzen. Kritiker haben Einfluss. Sie haben es mit sensiblen Naturen zu tun, mit Diven und Riesen-Egos, gelegentlich mit Genialität. Faire Kritik ist schwer und oft nicht sehr unterhaltsam."

Für die Berliner Zeitung (14.2.2023) beleuchtet Ulrich Seidler den Vorfall: "Nichts an Marco Goeckes Angriff ist harmlos, da können noch so viele gehässige Sowas-kommt-von-sowas-Kommentare gepostet werden. Er ist bereits am Montag suspendiert worden und erhielt auch ein Hausverbot, wie das Staatstheater Hannover mitteilt. Es fragt sich, welche Institution ihn wieder als Choreografen beschäftigen wird. Noch tiefer in den Sternen steht, wann wieder eine freie Kritik seiner Arbeit möglich sein wird. Das hat er sich selbst zuzuschreiben, und das Mitleid hält sich in Grenzen. Er hat aber auch Wiebke Hüster beschädigt, nicht nur ihren Namen befleckt, den man wohl lange nicht mehr aussprechen wird, ohne an den Vorfall zu denken. Er hat sie dort verletzt, wo die Kritik verwundbar ist: bei ihrer Unbefangenheit und ihrem Mut zur subjektiven Wahrheit. Die Antwort kann nur Unverdrossenheit sein."

Für die Berliner Zeitung schreibt Ulrich Seidler in einem zweiten Kommentar zur Sache (16.2.2023): "Aber ist es tatsächlich nötig, über das Selbstverständnis der Kritik zu debattieren, wie es zum Beispiel der ehemalige Bühnenvereinschef Marc Grandmontagne nahelegt? Woher kommt eigentlich dieser Dreh? Will man uns milde stimmen mit der Aussicht, dass man angegriffen werden kann, wenn man Kunst kritisiert? Mein Selbstverständnis steht jedenfalls auch ganz ohne diese Aussicht bei jedem Verriss auf der Probe. Aber das sind Selbstzweifel, die kleben besser als Hundekot und gehen keinen was an."

(SZ / taz / Deutschlandfunk Kultur / FAZ / NDR / Tages-Anzeiger / Tagesspiegel / Twitter / Berliner Zeitung / sdre / chr)

Kommentare  
Medienschau Goecke: Relevanz kommt und geht
Das liege (auch) daran, dass beide Seiten um "Relevanz kämpfen" - sagt eine der letzten noch festangestellten Theaterkritikerinnen in der obigen Zusammenfassung. - Das ist was dran! Aber was soll's. Wir haben das Jahr 2023. Das Theater wird auch das überleben. Relevanz kommt und geht.
Medienschau Goecke: Konsequent und goldrichtig
Ich habe seit Jahren ein Schauspiel-Opern- und Konzert-Abo und möchte es nicht missen. Vieles ist gut und sehr gut, einiges weniger. Alles kann gar nicht super sein. Professionelle Kritik ist wichtig und ich gleiche diese gerne mit meiner ab. Die Entscheidung der Intendantin Berman aus Hannover- ich kenne sie aus ihrer Darmstädter Zeit- ist konsequent und goldrichtig!
Die Aussage von Frau Baier vom Thalia Theater ist unverständlich und einer Intendantin nicht würdig
Medienschau Goecke: Eskalationsstufen
Wenn wir glauben, einen Schuldigen erkannt zu haben, verkämpfen wir uns in "Hängt ihn"-Debatten. Ich muss an Glasl und seine 9 Eskalationsstufen denken. Stufe 9 heißt "Gemeinsam in den Abgrund". Für mich fehlt es an Verantwortung für Deeskalation, das müssten Dritte sein. Natürlich muss der Auslöser die Konsequenzen tragen, mich interessieren dennoch die Ursachsen. Wenn Kritik mit Kränkung oder gemeinsame Krisen von Medien & Kunst zu tun hat, was sollte man loslassen, um zukunftsfähig sein zu können. Vielleicht ein Kipppunkt, den wir gerade beobachten dürfen.
https://www.perspektivwerkstatt.com/konfliktmanagement/hintergrundwissen-konflikt/eskalationsstufen.html
Medienschau Hannover: Verständnis für Reaktion
Ich heiße die Aktion nach einer Kritik nicht i.O. Ich stehe allerdings auf dem Standpunkt, dass man auch Verständnis für eine Reaktion haben sollte. Gemäß dem Sprichwort "selbst der bravste Hund beißt, wenn man ihn oft genug tritt." Auch Kritiken können verdammt verletzend sein.
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