Woyzeck - Scharoun Theater Wolfsburg
Mord im deutschen Wald
24. September 2023. So wie hier hat man Marie, Woyzecks Opfer, noch nicht gesehen: Ersan Mondtags Büchner-Inszenierung, die im Wolfsburger Scharoun Theater Premiere feierte, ist seit gestern am Berliner Ensemble zu sehen.
Von Christian Rakow
16. September 2023. Georg Büchners "Woyzeck" wurde in jüngerer Zeit vor allem mit Blick auf die Tragödie der Marie inszeniert, der Partnerin des Titelhelden, die von ihm in einem Teich erdolcht wird – ein lupenreiner Femizid, aus Eifersucht, die sich zur "Hirnwütigkeit" hochgeschaukelt hat. Fraglos bringt Büchners Drama reichlich mildernde Umstände für den Mörder vor (Woyzeck wird beim Militär geknechtet und gedemütigt, ist Objekt obskurer Diätexperimente beim Doktor, ist arm und schlicht und schwermütig).
Aber unter dem Brennglas der Gender Studies angeschaut, reiht sich sein Fall in pralle Statistiken prekärer Männlichkeit: Woyzeck ist ein Täter wie so viele und wird also als solcher unerbittlich ausgestellt. Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani haben mit Woyzeck interrupted die für mich eindrücklichste Ausformung dieser Lesart vorgelegt.
Marie ist ein Mann
Ganz anders nun Regisseur Ersan Mondtag in Wolfsburg (wo das Berliner Ensemble seine Premiere am Scharoun Theater herausbringt, bevor die Arbeit nach zwei Spieltagen in der VW-Stadt nach Berlin ins Repertoire rückt). Mondtag wählt für seinen "Woyzeck" eine komplett männliche Besetzung. Die Rolle der Marie übernimmt Gerrit Jansen, er legt sie mit sensiblen, teils schüchternen Gesten an, und wirkt doch nirgends vordergründig effeminiert.
Seine Figur heißt weiterhin Marie, ist aber männlich lesbar, Vater eines schon vorpubertären Jungen, Lebensgefährte von Woyzeck, bald Affäre des Tambourmajors. Mit diesem Besetzungscoup verwandelt Mondtag die konkrete Geschlechterproblematik in eine eher abstrakte Frage nach dem Miteinander von Personen und gewinnt den Fokus auf die Hauptfigur und ihr Außenseiterdrama zurück.
Mondtag verlegt als sein eigener Bühnenbildner die Geschichte in ein Zeltlager im Nadelwald, bei Mondschein, vorn der Teich, seitlich ein Jäger-Hochstand, das Ganze halb Pfadfinderidyll, halb Prepper-Camp. Der Hauptmann (Martin Rentzsch) streift mit einem Jagdgewehr herbei und lädt es seelenruhig durch, wenn er über die Ewigkeit, die zum Augenblick gerinnt, sinniert. Der Doktor (Marc Oliver Schulze) maßregelt seinen Probanden und bittet ihn dann fast zärtlich zur Urinprobe. Der Tambourmajor (Max Gindorff) glänzt als sportiver Eigenbrödler, schwenkt einmal eine Fahne, deren Dreiecks-Symbol nach identitärer Bewegung ausschaut, und vermöbelt plötzlich brutal den eifersüchtigen Rivalen Woyzeck, grunzend: "Ich ficke ein Loch in die Natur!"
Überall changieren Szenen zwischen jungenhafter Campingromantik und plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt gegen den Helden. Auf dem Höhepunkt – in einer Adaption der Jahrmarktszene aus dem Original – wird Woyzeck als tierische Kreatur zur Belustigung vorgeführt, auf allen Vieren krabbelnd. Eine ähnlich krude Behandlung durch die Männertruppe erfährt sonst nur Peter Luppa in den Rollen der Amme und des Narren.
Mit der Axt in der Hand
Maximilian Diehles Woyzeck lässt alles geschehen. Er ist schon früh ein wenig aus dieser Welt gefallen, hockt am Teich und gründelt. "Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen." Statt den Hauptmann zu rasieren, hackt er Holz fürs Lagerfeuer, mal ums mal, mit wuchtigen Axthieben aus seinen schlacksig langen Armen. Je "hirnwütiger" er wird, desto stierer sein Blick, entrückter.
Atmosphärisch steckt hier viel, wie oft bei Mondtag. Alles ist entschleunigt. "Du siehst immer so verhetzt aus", sagt der Hauptmann. Aber es ist geradezu das Gegenteil. Woyzeck wirkt wie paralysiert, allenfalls innerlich fiebernd. Waldgeräusche liegen über der dunkelromantischen Vollmond-Szenerie, mitunter vernimmt man Sirenen und Hubschraubergeräusche. Sucht die Polizei nach dieser Prepper-Gruppe, nach den Proud Boys vom Thüringer Wald? Mondtag führt seine Andeutungen nicht aus, aber man kapiert schon, dass hier ein toxisches Gebräu köchelt, in einem Männerbund, der sich über die Knechtung und den Ausschluss des schwächsten Gliedes namens Woyzeck vereinigt.
Keine Sünde zu sehen
Das deutschromantische Untergrundgemälde besticht. Aber doch ist einiges recht sperrig an dem Abend. Mondtag und seine Dramaturgin Clara Topic-Matutin lassen Büchner-Originaltext sprechen und der gleitet immer wieder an der sichtbaren Handlung ab. Im offenkundigen Bestreben, nicht in irgendwelche Geschlechterklischees abzurutschen, hat Mondtag die Szenen zwischen Marie und Woyzeck wie auch zwischen Marie und dem Tambourmajor von aller Erotik bereinigt. Man nimmt sich in den Schoß, umarmt sich scheu, kräuselt auch mal leicht verlegen das Haar. Aber der Umgang wirkt doch eher freundschaftlich, familiär. Worte wie "Sünde" für den kaum als solchen erlebten Vertrauensbruch zwischen Marie und Woyzeck wirken da reichlich deplatziert.
Wie oft, wenn Dramen aus sich heraus nicht hinreichend die Handlung motivieren, hilft Opernhaftes weiter. Genauer: das Musical. Tristan Brusch hat aus Texten des Dramas kleine Lieder geschaffen, die unterstützt von Live-Blasmusik broadwayhaft das Geschehen kommentieren und rhythmisieren. Und wenn Gabriel Schneider als Andres im Finale todtraurig singt "Mit deiner Sünd' / Warst schwarz davon / Und ich hab' dich gebleicht, Marie!", dann kann man auch mal Fünfe gerade sein lassen und sich am reinen Schauwert der Sache laben. Ein Abend, der in Wolfsburg mit Standing Ovations gefeiert wurde und der in Berlin bestehen wird.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Ari Schruth, Musik: Tristan Brusch, Licht: Rainer Casper, Hans Fründt, Dramaturgie: Clara Topic-Matutin.
Mit: Maximilian Diehle, Max Gindorff, Gerrit Jansen, Peter Luppa, Martin Rentzsch, Gabriel Schneider, Marc Oliver Schulze, Maxim Loginovskih/Lukas Amaru Runkewitz. Live-Musik: Damian Dalla Torre, Paul-Jakob Dinkelacker, Max Kraft, Jan Landowski, Felix Römer, Felix Weigt.
Premiere am 15. September 2023 in Wolfsburg
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
theater.wolfsburg.de
Kritikenrundschau
"Durch seine Beschränkung auf die männliche Besetzung gelingt es Mondtag tatsächlich, Herrschaftsmechanismen offenzulegen, die eben nicht nur in der Unterdrückung der Frau bestehen", urteilt Andreas Berger in der Braunschweiger Zeitung (16.9.2023). Hauptdarsteller Maximilian Diehle sei "stark in seiner Zärtlichkeit", könne "den Blick unverwandt, bohrend in andere Wirklichkeiten lenken". Manchmal allerdings rutschten "einige Wiederholungen ins Lapidare". Im Ergebnis stehe aber eine "sehr anspruchsvolle, eigenwillige Inszenierung".
Äxte geben hier eine sehr pure Idee von Realität, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (25.9.2023, online 24.9.2023). Wenn das gespaltene Scheit in den Teich falle, könne man als Zuschauer froh sein, wenn man nur ein paar Tropfen abbekomme. "Mithin bleibt von Büchners revolutionärer, eiskalter, medizinisch-materialistischer Gesellschaftskritik, nicht viel übrig." Stattdessen schön verzerrte, entschleunigte, stimmungsvolle Blut- und Bodenromantik einer von Gefahr zusammengeschweißten Preppertruppe, die sich den Strukturen der Gesellschaft und dem Zugriff des Staates entzogen hat. "Immer mal wieder hört man Hubschrauberlärm und in der Ferne Sirenen, aber das sind wohl die letzten Zuckungen eines Gewaltmonopolisten, der die Kontrolle längst verloren hat."
Ersan Mondtag rufe mit seinem Setting "ein komplettes Männerbündler-Regelwerk auf, aus dem heraus tatsächlich noch einmal ein anderer Blick auf die Figur möglich wird", findet Christine Wahl im Tagesspiegel (24.9.2023). "Es mag nicht alles aufgehen in diesem Ersan-Mondtag-'Woyzeck'; es bleiben Fragen und Leerstellen. Vor allem bleibt aber eine Büchner-Interpretation, mit der sich endlich mal wieder richtig auseinanderzusetzen lohnt."
"Vor lauter Atmosphären-Klimbim und Schaureiz-Bohei geht eine Kleinigkeit unter", moniert hingegen Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.9.2023): "wie schön es wäre, wenn die Dekoration irgendwas mit dem Stück zu tun hätte". Das Bühnenbild erschöpfe sich "im Effekt, also in der Wirkung ohne Ursache". Bei Mondtag werde Büchners Stück zum "zum Ausläufer der Märchen der Gebrüder Grimm", was der Kritiker ziemlich "regressiv" findet. Auch die Charakterisierung der Figuren findet Laudenbach "beliebig bis zur Parodie".
Ersan Mondtag habe "mit seiner rein männlichen Besetzung zwar ein Konzept, aber keine Lösung, denn allein als homoerotische Freiluft-Antiidylle ist Büchners Drama nicht zu erschließen", findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 25.9.2023). "Auch wenn Max Gindorff als Tambourmajor aggressiv alle Chauvinisten-Muskeln anspannt, Marc Oliver Schulze als devoter Doktor eine Vorliebe für Natursekt hat und eine Blaskapelle vergnügt Musik von Tristan Brusch einstreut, rächen sich die inhaltlichen und formalen Eingriffe in das Stück", so die Rezensentin.
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Das mag in der Kunst eine Möglichkeit sein, Kompliziertes zu simplifizieren - eine Rückführung auf eine tatsächliche, nicht nur mögliche, Wirklichkeitsebene, scheint so doch eher verunmöglicht ... eine seltsam introspektive, semiotische Expertise erfordernde Betrachtung ...
Mondtags Inszenierung, die als Koproduktion von Berliner Ensemble und Scharoun Theater Wolfsburg entstand, konzentriert sich ganz darauf, die Atmosphäre eines toxischen Männerbunds zu evozieren, die Woyzeck die Luft zum Atmen nimmt und ihn in den Wahn treibt. Diehle ist in seiner ersten großen Rolle am BE eine hervorragende Besetzung für diesen Woyzeck, der stets ein wenig neben sich steht und ein Spielball der Männer um ihn herum ist.
Ein weiterer Besetzungscoup ist Max Gindorff, der in der vergangenen Spielzeit u.a. im Werkraum-Projekt Alias Anastasius zu sehen war und nun seinen Einstand als Ensemble-Mitglied auf der großen Bühne gibt. Als Tambourmajor stellt er seine Muskeln stolz zur Schau und strahlt selbst wenn er sich am Steg räkelt eine Aggressivität aus, die jederzeit eskalieren kann.
90 Minuten lang funktioniert dieses toxische Panorama zur von Tristan Brusch komponierten Live-Musik recht gut. Die altbekannte Mondtag-Ästhetik des Shootingstars der zweiten Hälfte der 2010er Jahre harmoniert mit dem Klassiker-Stoff aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings machte der Regisseur den Fehler, den Abend zu verwässern. Statt der noch auf dem Abendzettel angekündigten 1 Stunde 40 Minuten zieht sich die „Woyzeck“-Inszenierung zunehmend zerfasernd bis zur Zwei Stunden-Marke.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/23/woyzeck-berliner-ensemble-kritik/