Hamlet - Theater Aachen
Ich bin das Drama
15. Oktober 2023. Die Menschen, die in der Regie von Laurent Chétouane die Tragödie des Dänenprinzen spielen wollen, trudeln ein wie zu einem Wochenendworkshop in psychologischer Familienaufstellung. Die allerdings hat es tatsächlich in sich – nicht nur, weil auch Heiner Müller zum therapeutischen Arsenal gehört.
Von Max Florian Kühlem

15. Oktober 2023. Regisseur Laurent Chétouane sagt: "In meinem Theater kommt keine Figur auf die Bühne, sondern immer erst ein Schauspieler, eine Schauspielerin." Und so trudeln sie langsam ein auf der Bühne des Theaters Aachen, die Menschen, die Shakespeares "Hamlet" spielen wollen – oder vielmehr: dem Text Raum geben, vielleicht auch: ihn befragen. Sie trudeln ein wie zu einer Selbsthilfegruppe oder einem Wochenend-Workshop in psychologischer Familienaufstellung. Unsichere Blicke, unsicheres Hampeln von einem Bein auf das andere: Was mag das hier geben?
Der bessere Fragensteller
Dieser Abend, der im Prinzip auch den Start der neuen Schauspieldirektion von Kerstin Grübmeyer unter der ebenfalls neuen Generalintendanz Elena Tzavaras in Aachen einläutet, erinnert an die Eröffnung von Barbara Freys letzter Ruhrtriennale-Saison im August. Frey hatte Shakespeares "Sommernachtstraum" – ähnlich wie jetzt Chétouane den "Hamlet" – so inszeniert, dass eigentlich nichts den Text verstellt, schon gar keine Deutung oder Aktualisierung. Bei der Premierenfeier widersprach sie NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der fand, Shakespeare gebe in seinem Stück Antworten auf Fragen, die wir uns heute stellen. Sie würde nicht zustimmen, dass er Antworten gebe, sagte Barbara Frey sinngemäß, aber er stelle die Fragen besser.
Bleibt in der Rolle der Mensch, der sie ist: Puah Kriener als Ophelia, hier mit Thomas Hamm © Annemone Taake
Sein "Hamlet" stellt bekanntlich die Frage aller Fragen: "Sein oder Nichtsein?" In ihr steckt die ganze Zögerlichkeit der Hauptfigur, aber auch die große Frage nach dem Sinn alles menschlichen Handels in diesem Leben – und die große Angst vor dem Ungewissen seines Gegenteils, dem Tod. Eigentlich kommt der berühmte Monolog, in dem Hamlet diese Frage stellt, ungefähr in der Mitte des Stücks. In Aachen kommt er kurz vor Schluss. Dem Programm liegt ein Zettel bei, der das erklären könnte.
Offenbar ist dem Regisseur nach dem Druck des eigentlichen Programms eingefallen, dass er seine Inszenierung doch besser mit "Playing Hamlet" betitelt hätte, weil sein Theaterabend doch einer sei "über das Spielen, Sprechen, Hören selbst". Jede Szene, die gänzlich ungekürzt bleibe, sei dabei wie ein eigenes Stück. "Bei jeder Aufführung geht es darum, live zu erforschen, wie weit wir mit dem Stücke gehen, wie viele Szenen an einem Abend stattfinden können."
Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken
Es könnte also sein, dass das Stück nach der Premiere ganz andere Formen annimmt. Bei dieser kommen die Schauspieler*innen allerdings "nur" bis kurz nach dem Stück im Stück, das Hamlet aufführen lässt, um den neuen König Claudius des Mordes an seinem (Hamlets) Vater zu überführen. Danach schiebt sich eine Wand vor die große Bühne, die bis zum Ende fast komplett nackt bleibt, und Jonas Dumke, der zwei Nebenrollen gespielt hat, tritt hervor. Er entfaltet einen zerknickten Zettel und liest zwei Zeilen aus einem Gedicht Heiner Müllers, dessen Übersetzung man vorher erforscht hatte: "Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken Kein / Schauspieler nimmt mir den Text ab Ich bin das Drama".
Familienaufstellung am Dänenhof: Luc Schneider, Jonas Dumke, Elke Borkenstein und Philipp Manuel Rothkopf © Annemone Taake
Die Hoffnung auf die Beantwortung aller Fragen durch das Theater, die auch im Stück durchscheint, wenn Hamlet Ophelia erklärt: "Die Schauspieler können nichts geheim halten, sie plaudern alles aus", sie bleibt also aus. Und die Live-Exkursion durch Shakespeares kluge Fragen fällt etwas durchwachsen aus. Durchaus Sinn ergibt der Fokus des Premierenabends, der die politische Dimension fast komplett auslässt und deshalb auch keinen norwegischen Prinzen Fortinbras als handelnde Figur kennt.
Auch die Liebesgeschichte zwischen Hamlet und Ophelia spielt eigentlich keine Rolle, obwohl Ophelia fast die ganze Zeit mit auf der Bühne sitzt oder steht. Das neue Ensemblemitglied Puah Kriener, die sie in dieser Familienaufstellung verkörpert, bleibt allerdings noch mehr als die anderen die Schauspielerin oder der Mensch, der sie ist, schlüpft kaum einmal glaubhaft in die Rolle der tragischen Liebenden.
Grandios zu neuem Leben erweckt
Es geht an diesem Abend ganz und gar um die Fragen: Was kann ich erkennen? Was soll ich tun? Diese stellt weitestgehend großartig Furkan Yaprak als Hamlet. Auf seinem Gesicht und an seinem schlaffen Körper spielt sich das ganze Drama der menschlichen Existenz ab, das Zweifeln, die Ungewissheit, all die Widersprüche, die uns so oft das Handeln erschweren. Wie viele der anderen Schauspielerinnen und Schauspieler spricht er deshalb oft leise, langsam und verzagt. Auch das ergibt durchaus Sinn, macht diesen Abend zwischen all den irre spannenden Momenten, die die Poesie und Weisheit eines alten und tausendfach gespielten Textes grandios zu neuem Leben erwecken, aber leider manchmal auch extrem anstrengend.
Hamlet
Von William Shakespeare, aus dem Englischen von Heiner Müller
Regie und Bühne: Laurent Chétouane, Bühne und Kostüme: Sanna Dembowski, Lichtdesign: Philippe Gladieux / Eduard Joebges, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer. Mit: Furkan Yaprak, Philipp Manuel Rothkopf, Elke Borkenstein, Thomas Hamm, Puah Kriener, Shehab Fatoum, Jonas Dumke, Benedikt Voellmy, Cornelius Kiene, Luc Schneider, Torsten Borm
Premiere am 14. Oktober 2023
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theateraachen.de
Kritikenrundschau
Durch "Einfühlung in eine Illusion entführen" wolle dieser Abend "ganz und gar nicht", schreibt Jenny Schmetz in der Aachener Zeitung (16.10.2023). Die Inszenierung biete ein "Reiben am Text wie an einem Fremdkörper". Die Sätze widersetzten sich "oft geschmeidiger Sinnentnahme". Insgesamt wehten "sehr viele Worte, Worte, Worte ungehört ins Off". Das sei "ein akustisches Problem, das auch sprechtechnische Ursachen" habe. Auch für die Handlung scheine sich Laurent Chétouane "offenbar nicht" zu interessieren: "Ophelia (Puah Kriener) stirbt nicht, Polonius (Thomas Hamm) stirbt nicht, Laertes (Jonas Dumke) stirbt nicht. Hamlet entgeht der zentralen Auseinandersetzung mit seiner Mutter - und stirbt natürlich auch nicht." Am Ende seien im Zuschauerraum "ein erleichtertes Schnaufen", aber auch "ungezügelte emotionale Ausbrüche" vernehmbar gewesen.
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Das ganze ist selbst eine große Haltung. Das Vertrauen, dass etwas Sehenswertes, Hörenswertes, Beiwohnenswertes entsteht, wenn Künstler:innen von heute auf diesen Text und seine Konstellationen treffen und sich dieser Begegnung voll und ganz ausliefern. Offensichtlich fühlen sich nicht alle Spieler:innen gleich wohl mit dieser Herausforderung. Führt es bei einigen zu einer gesteigerten Präsenz, zu einem Agieren ganz im Moment, zu einem brennglashaften Fokusieren auf die Worte Shakespeares und auf jeden Moment deren Manifestation, so versuchen sich andere lieber wegzuducken und gar nicht erst da zu sein. Puah Kriener die Darstellerin, oder sollte man hier sagen Stellvertreterin, Anwältin der Ophelia gehört für mich, entgegen der Meinung des Rezensenten eindeutig zur ersten Gruppe. Besonders spannend wird es, wenn die Figur des Schauspielers im Spiel sein „Handwerk“ präsentiert und vor unseren Ohren und Augen eine immer intensiver werdende Beziehung mit einem klassischen Text eingeht.
Irgendwie sind alle Hamlet an diesem Abend und ringen mit ihren Zweifeln, mit der Frage was unser Handeln in dieser Welt und dessen Konsequenzen rechtfertigt. Es ist indirekt aber auch ein Abend der sich gegen Aktionismus, Multitasking, Prokrastination und die Routinen der Unterhaltungsindustrie stemmt. Ein Abend über die, als Schlagwort allzuoft bemühte Achtsamkeit.
Er hinterfragt unsere sozialen Rollen und Masken aber auch ein Theaterverständnis dem die Erwartung zugrunde liegt, die Reproduktion von eingeübten Vorgängen präsentiert zu bekommen.
Es zeugt von Mut und einer klaren Vision eine neue Leitungs-Ära mit so einem Experiment zu eröffnen, auch wenn es bei der Premiere noch nicht in allen Teilen gelungen zu sein scheint. So ist das mit Experimenten. Dennoch gibt mir dieser Abend viel mehr zu denken und verändert meine Wahrnehmung der Wirklichkeit seither viel mehr als viele andere Theaterabende. Ein Glücksfall für ein Stadttheater.
Das Stück selbst für mich eine Katastrophe wegen der viel zu leise gesprochenen Sätze. Meine starke Konzentration auf das rein akustische Hören führte meinerseits zu mangelndem Hörverständnis.