Der Geldkomplex - Theater Münster
Eine Frage von Treu und Glauben
von Kai Bremer
Münster, 15. September 2021. Felicia Zellers "Wirtschaftsdramatik" trifft seit einiger Zeit landauf, landab einen Nerv. Aber gerade weil sie weiß, wie Märkte ticken, dürfte ihr klar sein, dass ein erfolgreich etabliertes Label Segen und Fluch zugleich ist. Schließlich lebt der Kapitalismus von Expansion und fordert unnachgiebig regelmäßig das nächste heiße Ding, das idealerweise den Markenkern nicht aufweichen darf und trotzdem Neues bieten muss. Um es vorweg zu nehmen: "Der Geldkomplex", den Max Claessen gestern am Theater Münster inszeniert hat, erfüllt diese Anforderungen mustergültig.
"Liebe Gläubiger, ..."
Das Stück baut auf dem gleichnamigen Briefroman der 1918 verstorbenen Franziska zu Reventlow auf, den diese liebenswert selbstironisch ihren Gläubigern gewidmet hat. Reventlow lässt ihre Hauptfigur in Briefen an eine Freundin von einem Sanatorium in den Bergen aus ihre Verschuldungsgeschichte Revue passieren und ihrer Hoffnung auf eine Erbschaft Ausdruck verleihen. Weil all ihr Denken ums Geld kreise, habe sie einen "Geldkomplex" ausgebildet, von dem sie hofft, therapiert zu werden. Zeller ergänzt die Handlung um eine Vorgeschichte und fügt zudem fröhlich Nachhaltigkeitsfloskeln hinzu, ohne das historische Kolorit aufzugeben (oder gibt es heute noch Eisenbahnobligationen?).
Dadurch changiert der Text munter zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und heute. Das führt dazu, dass historische Parallelen, aber auch Unterschiede des Wirtschaftens immer wieder deutlich werden. Zudem verändert Zeller den Blick auf die Hauptfigur mit dem sprechenden Namen Feli von Beinahe-Enden (Katharina Behrens), indem sie die Ich-Perspektive des Briefromans in eine recht konventionelle Figurendramatik überführt.
Verirrte Sätze
Reventlow lässt ihre Hauptfigur vielfach lakonisch über ihre tragische Situation sprechen. Zeller kombiniert das mit dem für ihre Stücke typischen Sound. Immer wieder beginnen die Figuren Sätze, brechen ab und beginnen erneut, ohne je – im wahrsten Wortsinn – zum Punkt zu kommen. Zu Beginn spricht Behrens die Sätze natürlich, ganz als würde Feli angesichts ihrer bedrückenden Situation um Worte ringen. Doch schon bald wird deutlich, dass nicht nur Feli immer wieder das Gleiche sagt, ohne es zu beenden. Ihr Gatte (Christoph Rinke) schließt kaum einen Satz ab, während er, der Feli nur wegen des Erbes geheiratet hat, mit seinen dünnen Beinchen im beige-karierten Anzug wie eine spleeniger Graf eines 50er Jahre Krimis über die Bühne stakst. Felis alter Freund Henry (Joachim Foerster) turnt mit abenteuerlichen Verrenkungen in seinem leuchtend blauen Anzug über die Bühne und entwirft ein wahnwitziges Investitionsprojekt nach dem anderen. Dabei sind seine Ideen wie seine Sätze, sie irren herum, ohne je konkret zu werden.
Zeller selbst hat diese Verfremdungstechnik im Gespräch jüngst mit einer Schallplatte verglichen, die hängen geblieben ist. Claessen setzt das nicht nur ausgesprochen texttreu um, sondern findet für die Figuren ergänzend eine Körpersprache, die mit Zellers Dialogen korrespondiert.
Oder doch gänzlich sinnlos?
Auf der mit weißer Folie ausgekleideten Bühne (Ilka Meier) stehen verschiedene, zunächst noch mit milchiger Folie verpackte Kapitalismus-Symbole, die allmählich von neu hinzutretenden Figuren ausgepackt werden – eine etwas gedrungen wirkende Statue von Adam Smith etwa, ein Berg aus Altkleidern und pyramidal übereinander gestapelte Fernseher. Zentral über dem hinteren Teil der Bühne formen Neonröhren eine Art – ja, wie soll man es nennen? – invertiertes Dollarzeichen: Statt eines "S" laufen in Münster die beiden vertikalen Striche durch eine digital-eckige "2".
Was im ersten Moment unaufmerksame Holzhammersymbolik zu sein scheint, ist letztlich eine Art Emblem für die Inszenierung. Denn indem Claessen das spielerische Potential von Zellers Text zum Ausgangspunkt seiner Inszenierung macht, werden die Zeichenhaftigkeit und Virtualität von Geld, Schulden und der Umgang damit deutlich: Ob die Neonröhren über der Bühne ein ironisiertes Dollarzeichen bilden oder gänzlich sinnlos sind, ist eine Frage von Treu und Glauben.
Zuletzt treten alle Darsteller:innen nacheinander hinter eine große Leinwand. Eine Projektion (Video: Andreas Klein) zeigt, wie sie sich zunächst in einem weißen Zimmer versammeln und schließlich auf einem sommerlichen Feldweg spazieren. Während sie im Video ihre letzten Sätze sprechen, treten die Darsteller:innen selbst am Publikum vorbei erneut auf die Bühne, um ihr eigenes Spiel zu betrachten und so eine idyllische Schlussszene zu bilden, die noch einmal das permanente Ineinander von Realität und Fiktion, von Treu und Glauben der Geldwirtschaft symbolisiert. "Der Geldkomplex" hat also – um auf Zellers "Wirtschafstdramatik" generell zurückzukommen – ähnlich wie "Der Fiskus" gute Aussicht, nicht nur den Markt Theater Münster zu erschließen, sondern noch an anderen Theatern Mehrwert zu generieren.
Der Geldkomplex
von Felicia Zeller
Uraufführung
Regie: Max Claessen, Bühne und Kostüme: Ilka Meier, Video: Andreas Klein, Musik: Carl Waeber, Dramaturgie: Barbara Bily, Cornelia von Schwerin.
Mit: Katharina Behrens, Frank-Peter Dettmann, Joachim Foerster, Marlene Goksch, Ulrike Knobloch, Christoph Rinke, Christian Bo Salle, Wilhelm Schlotterer, Daniel Warland.
Premiere am 15. September 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.theater-muenster.com
Über ihre Rolle als "Wirtschaftsdramatikerin" sprach Felicia Zeller jüngst in unserer Videoreihe Neue Dramatik in 12 Positionen.
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