Traum im Albtraum

3. Mai 2024. Lessings "Nathan der Weise" steht wie kein anderes kanonisches Theaterstück für Versöhnung und Toleranz. Ulrich Rasche hat's gegen den Strich gebürstet. Seine dystopische Deutung eröffnete das Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele. In den Reden drumherum klang aber doch ein bisschen Hoffnung an.

Von Esther Slevogt

"Nathan der Weise" © Monika Rittershaus

3. Mai 2024. Zuerst waren da natürlich die Reden. Die Eröffnung des Theatertreffens ist ja auch immer eine Art Staatsakt. Unter denen, die etwa von Festspielchef Matthias Pees in seiner Rede persönlich adressiert wurden, waren der Schweizer und der Österreichische Botschafter, diverse Bundestagsabgeordnete, Kultursenator Joe Cialo oder Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die später auch selbst ans Mikrophon trat. Außerdem: eine Schulklasse vom Luisenstift Gymnasium im sächsischen Radebeul, deren Lehrerin "wie eine Löwin" um die Karten für die Theatertreffen-Eröffnung gekämpft hatte, wie dann später Nora Hertlein-Hull, die neue Leiterin des TT, in ihrer Begrüßung berichtete – unter großem Publikumsjubel.

Die Ringparabel als lächerliches Märchen

Das Eröffnungs-Stück, das den Reden dann im Haus der Berliner Festspiele folgte, ist berühmter Schul- und Erziehungsstoff, formuliert es doch das dringliche Toleranzgebot, mit dem die europäische Aufklärung dereinst für Menschenrechte und Demokratie antrat. Ulrich Rasche hat "Nathan der Weise" in seiner im Sommer 2023 bei den Salzburger Festspielen herausgekommenen Inszenierung allerdings derart filetiert und unter das Brennglas der Gegenwart gelegt, dass die zentrale Ringparabel nicht wie ein Imperativ der Aufklärung, sondern eher wie ein lächerliches Märchen erscheint, als Traum in einem anhaltenden Albtraum.

Schon wie sich der enorme Bühnenraum unter dem wummernden Sound der live performten Musik von Nico von Wersch weitet, als der Sultan Nathan die gefährliche Frage stellt, welche der drei Religionen denn nun die rechte sei: Da muss man einen Moment lang befürchten, dass das Nichts diesen Nathan nun verschlingt. Zuvor waren die Figuren des Dramas immer wieder wie aus der Tiefe der Zeit aus dem Nebel zwischen den enormen Säulen hervorgetreten, die Bühnenbildner und Regisseur Ulrich Rasche an drei Ringen (sic) im Bühnenhimmel kreisen lässt, wie ein mörderisches Perpetuum Mobile.

Berückende Bilder für eine heillose Welt

Sie sind die Figuren und sind es auch nicht. Valery Tscheplanowa als Nathan oder Mehmet Ateşçi als Tempelherr etwa. Schreitend sprechen sie den Text mal mit, mal gegen die Bewegung der Drehbühne. Sie werden als Figuren greifbar, bleiben aber gleichzeitig abstrakt. Dadurch wird der Judenhass, den Rasche hier als systemisches Phänomen ausstellt, erst recht als der Wahn kenntlich, der er ist. Ein Wahn, der eben auch schon tief in der Aufklärung selber steckte, wie der Abend an eingeschobenen Texten Voltaires oder Johann Gottlieb Fichtes kenntlich macht: Voltaire sah in den Juden Elemente, die den Weltfrieden ganz grundsätzlich stören; Fichte wendete sich geifernd gegen bürgerliche Grundrechte für Juden. Texte, die bei Rasche chorisch gesprochen einen so toxischen wie hoffnungslosen Sog entfalten.

Der Abend schafft berauschende, bedrückende wie berückende Bilder für eine heillose Welt. Der Hass wird als so tief sitzend ausformuliert, dass dagegen kaum ein Mittel zu existieren scheint und selbst die schöne Ringparabel nur wie ein schnödes Aphrodisiakum wirkt, um von der völligen Sinnlosigkeit des Glaubens an eine Welt ohne (Juden)hass abzulenken.

Code of Conduct für die Kriegszeit

Ganz am Anfang hatte Festspielchef Matthias Pees in seiner Begrüßungsrede den Blick auch auf den Druck gelenkt, unter den im Angesicht gegenwärtiger Krisen die Freiräume der Kunst und dafür zuständige Institutionen geraten sind und hervorgehoben, wie wichtig die Erhaltung dieser Freiräume ist. Dabei berichtete er von einem Besuch an der Hochschule für Kunst und Design "Bezalel" in Jerusalem, die 1905 geründet wurde, als die Stadt noch Teil des Osmanischen Reichs gewesen ist. Hier studieren, wie Pees berichtete, Israelis, Palästinenser aus der besetzten Westbank, Reservisten der Israelischen Armee also Juden, Christen und Muslime gemeinsam, darunter auch Menschen, deren Angehörige in Gaza bei den israelischen Luftangriffen umgekommen sind. Um für alle gleichermaßen ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem jede*r mit seinem Schmerz und der eigenen Identität aufgehoben sei, habe man eine "Guideline For Free Speech And Creative Freedom in Wartime" als Code of Conduct für die Hochschule entwickelt, die Pees hier nun als beispielhaft und irgendwie zwischen den Zeilen auch als Ringparabel unserer Tage beschrieb. Vielleicht gibt es also doch noch etwas Hoffnung.

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Nathan der Weise, TT Berlin: Mechaniken des Ausgrenzen
Gespickt mit etwas Fremdtext – etwa antisemitischen Tiraden Fichtes – wird der Abend zu einer Demonstration von Mechaniken des Ausgrenzens – am Beispiel, aber nicht darauf beschränkt, des Antisemitismus. Statt seiner Überwindbarkeit zeigt er dessen Resilienz, dessen Anbindung an Machtausübung und -erhalt, seine Effizienz als Instrument der Macht. Bedrohlicher fast als die männliche Hybris des Tempelherrn ist das lächelnd samtige Taktieren von Almut Zilchers Sittah, das der offenen Aggression des Patriarchen zur Seite steht. Am Ende – einem konstruiert "glücklichen" bei Lessing – ist die Ausgrenzung perfekt. Während die nun weißgewandeten Vertreter*innen dessen, was wir euphemistisch heute die Mehrheitsgesellschaft nennen würden – monoton wie Gespenster die glückliche Fügung herunterleiern und sich dabei hinter der Lichtwand verschanzen, bleibt der graue Nathan außen vor, außerhalb, isoliert. "Zu Hilf" sind seine letzte Worte, da die Ringparabel wiederkehrt,  geisterhaft, als fahle Erinnerung und gespenstische Illusion.

Ein stimmiges Ende eines Abends, der seine Reibung mit dem Text meist sehr souverän bewältigt. Und der diesen Rezensenten doch seltsam kalt lässt. Zu sehr beißt sich die Körperlichkeit von Rasches Theaterphilosophie mit der Verkopftheit dieser Lesart, ist die Botschaft zu papieren und zu eindeutig plakatiert. Zu uneinheitlich auch die Charakterisierung – den genannten Figuren stehen in Julia Windischbauers Recha und Nicola Mastroberardinos Saladin zwei platte, uninteressante Abziehbilder entgegen, die Rasches Desinteresse an "guten" Charakteren ebenso wie seiner Schwierigkeit mit Frauenfiguren offenbaren. Die subtil komplexen Choreografien faszinieren durchaus auf intellektuellem Leven, aber sie dringen nicht durch in die Publikumserfahrung, sie bleiben Ästhetik und lassen die körperlich-sinnliche Unmittelbarkeit vermissen, die Rasches Inszenierungen in der Regel aufzeichnet. Man schaut mit Interesse zu, freut sich über die Entdeckung all dieser feinen Verschiebungen und ihrer Bedeutung, aber sie bleiben zu sehr Reißbrett und werden zu wenig Theater. Ein bemerkenswerter Abend durchaus, aber auch ein unbefriedigend unentschlossener.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/05/05/asthetik-der-misstrauens/
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